FUH SS15


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Flashcards 35
Language Deutsch
Category Psychology
Level University
Created / Updated 21.07.2015 / 14.06.2024
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Worum es gehen wird

bild

Verhalten

Verhalten ist zunächst jedes „... körperliche Geschehen in Raum und Zeit ...“ (Luckmann 1992: 38), und damit etwas, was Mensch und Tier gemeinsam haben. In diesem weiten Sinne gehören physiologische Vorgänge im Inneren
des Körpers, etwa die Blutzirkulation, ebenso zum menschlichen Verhalten wie das  Denken  als  Nervenerregung  oder  das Heben eines Arms als äußerliche Körperbewegung.

Verhalten kann ursächlich erklärt werden, also auf bestimmte  physikalische,  chemische  und  biologische  Faktoren  und  Zusammenhänge zurückgeführt werden. Vieles, was ein Mensch im Laufe eines Tages und seines gesamten Lebens tut, ist bloßes Verhalten. Das meiste davon bleibt soziologisch  ganz  unerheblich,  weil  es  keinerlei  nennenswerte  Relevanz  für  Handeln und soziale Strukturen hat. 

In  mindestens  drei  Fällen  ist  allerdings  bereits  bloßes  Verhalten  soziologisch bedeutsam

Erstens gehört Verhalten manchmal zu den prägenden Bedingungen  der  Handlungsmöglichkeiten  eines  Akteurs  -  wenn  etwa  dessenkörperliche  Konstitution  sein  Verhaltensrepertoire  bestimmt  und  ihm  gewisse Aktivitäten gestattet oder verbietet.

Zweitens ist in Rechnung zu stellen, dass ein bloßes Verhalten des Gegenübers auf Seiten anderer Akteure ein Handeln hervorrufen  kann.  Beispielsweise  kann  ein  plötzlicher  Ohnmachtsanfall  die Umstehenden dazu bringen, erste Hilfe zu leisten und einen Arzt zu verständigen.

Drittens  schließlich  kann  massenhaft  gleichartiges  Verhalten  von  Menschen  soziale  Wirkungen  zeigen,  also  neben  handelndem  Zusammenwirken zu den Faktoren gehören, die bestimmte soziale Strukturen aufbauen, erhalten
oder verändern, wie etwa bei einer Panik.

Handeln und Sinn 

 Max Weber (1922: 2, Hervorh. weggel.) definiert Handeln allgemein - also noch nicht soziales Handeln - als „... menschliches Verhalten (einerlei ob äußerliches oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) ..., wenn und insofern der oder die Handelnden mit ihm einen subjektivenSinn  verbinden.“

Verhalten  ist  demnach  das  Allgemeinere,  wovon  Handeln eine Sonderform darstellt, nämlich subjektiv sinnhaftes Verhalten. Weber bindet mit dieser Definition das Vorliegen von Handeln daran, dass eine Absicht verfolgt wird, dass diese Absicht dem Handelnden auch bewusst ist und für ihn den Sinn seines Handelns ausmacht.

Intentionalität

Intentionalität meint die Gerichtetheit  des  Tuns  im Sinne einer willentlichen Bereitschaft, die das Tun anleitet.
Ein  solches  Tun  wäre  mit  der  strengen  Begriffsbestimmung  von Max Weber nicht als „Handeln“ zu erfassen, es kann aber eben auch nicht einfach in den Bereich  des  Verhaltens  abgeschoben  werden  -  darauf  hat  insbesondere  die phänomenologische Betrachtungsweise von Alfred Schütz und Thomas Luckmann hingewiesen, auf die weiter unten noch ausführlicher eingegangen wird.

Das Aufsetzen der Füße morgens beim Aufstehen ist also mehr als ein Verhalten. Es ist ein gerichtetes Tun, das von einem umfassenderen Motiv getragen wird. Auch ein solches, mit Blick auf eine konkret vorliegende Absicht weniger
bewusstes Tun setzt Intentionalität voraus.

Routinen

Beim alltäglichen Handeln und auch im sozialen Zusammenleben wimmelt es nur so von solch weniger bewusstem Tun. Es kommt immer dann vor, wenn Akteure etwas sehr routiniert tun. Max Weber (1922: 12) hat das bei seinem
Typ  des  „traditionalen“  Handelns  bemerkt.  Hierunter  fasst  er  jedes  Handeln, das eine „eingelebte Gewohnheit“ bildet. Dies können kollektive Gewohnheiten sein, etwa die Art, wie man sich in Deutschland am Telefon meldet, nämlich mit Namen und nicht bloß, wie etwa in den USA, mit „Hallo“. Es können auch individuelle Gewohnheiten sein, zum Beispiel der Weg, den ich tagein, tagaus von  der  Wohnung  zum  Arbeitsplatz  nehme.  Für  all  solche  Handlungsweisen gilt, dass sie mindestens an der Grenze zum „dumpfen“ Verhalten liegen, weil die zugrunde liegenden Motive bewusstseinsmäßig so in den Hintergrund getreten  sind,  dass  die  Person  bezeichnenderweise  zumindest  überrascht  reagiert, wenn man sie fragt, warum sie so und nicht anders handelt. Weber vermerkt  mit  Recht:  „Die  Masse  alles  eingelebten  Alltagshandelns  nähert  sich diesem Typus ...“ Und dass solche Routinen mehr sind als bloßes Verhalten, merken wir immer dann, wenn die Umwelt gegebenenfalls Handeln statt blo-
ßem Verhalten erwartet und nicht selten sogar so tun kann und auch so tut, als ob der Betreffende gehandelt hätte und sich nicht bloß verhalten hat. Diese Handlungszumutung und Handlungsfiktion kommt vor allem dann zum Tragen, wenn es gilt, Verantwortung für bestimmte Ereignisse zuzurechnen.  

Sinn als Selbstverstehen

 Die Konstitution von Sinn beruht danach auf einer bestimmten Art des Erlebens des Subjekts, die Luckmann (1992: 28-33) als sukzessive  Verdichtung  des  Bewusstseinsstromes  zu  Erlebnissen  und  der  Verdichtung  dieser  Erlebnisse  zu  Erfahrungen  präzisiert  hat.  Im  ständigen  Bewusstsein  seiner  selbst,  also  der  eigenen  Körperlichkeit  und  der  darüber wahrgenommenen  Geschehnisse  in  der  Welt  „draußen“,  konturieren  sich  für
einen Menschen immer wieder Erlebnisse als thematische Kerne, und deren Typisierung  zu  generalisierbaren  Mustern  bildet  Erfahrungen,  zum  Beispiel über  die  Beschaffenheit  von  Dingen  oder  den  Ablauf  sozialer  Vorgänge.

Längst nicht alle Erlebnisse im unablässigen passiv „erlittenen“ Bewusstseinsstrom  werden  zu  Erfahrungen  verdichtet;  aber  wenn  dies  passiert,  wird  eine gegenwärtige Erfahrung aktiv in einem sich im Bewusstsein vollziehenden inneren Vorgang des Zuordnens zu anderen subjektiven Erfahrungen und des Einordnens in den je eigenen Erfahrungsschatz interpretiert. Sinn wird als reflexive Relationierung von Erlebnissen mit anderen Erlebnissen konstituiert.

Sinn nach Niklas Luhmann

Sinn ist also, wie Niklas Luhmann (1971; 1984: 92-147) es dezidiert formuliert,  ein  Verweisungszusammenhang,  der  aktuelle  Erlebnisse  mit  anderen verknüpft. Das können vorausgegangene Erlebnisse sein, zum Beispiel wenn
jemand  sein  aktuelles  berufliches  Scheitern  auf  frühere  Faulheit  zurückführt und dem gegenwärtigen Erlebnis so Sinn, nämlich eine subjektiv überzeugende - wenngleich sicher bittere - Bedeutung zuweist.

Aktuelle Erlebnisse können aber auch in Verweisungszusammenhänge mit für die Zukunft vorstellbaren und vom Betreffenden selbst herbeiführbaren Erlebnissen gebracht, also mit antizipierten Erfahrungen verknüpft werden.

phänomenologische  Konstitutionsanalysen  von  Sinn

Das Ergebnis der phänomenologischen  Konstitutionsanalysen  von  Sinn  lautet,  dass  Sinn  auf einem innerbewusstseinsmäßigen Prozess der Selbstauslegung beruht und in Selbstverstehen besteht, und deshalb immer nur Sinn für ein Subjekt ist.

 Jemand stellt sich dann zum Beispiel  vor,  dass  das  aktuell  erlebte  unaufmerksam  erscheinende  Auf-die-
Straße-laufen eines anderen beim ebenfalls aktuell erlebten Straßenverkehr in Kürze,  also  zukünftig  zu  einem  Unglück  führen  könnte,  stellt  sich  weiterhin aufgrund  vergangener  Erfahrungen  vor,  dass  der  andere  einen  gehobenen Arm als Warnsignal interpretieren und innehalten wird, wodurch sich das Unglück vermeiden ließe. Er verleiht der Situation - und auch einem möglichen zukünftigen Handeln, nämlich dem Entschluss, durch tatsächliches Armheben den anderen zu warnen - dadurch Sinn, dass er das aktuell Erlebte einerseits mit  früher  gemachten  subjektiven  Erfahrungen  und  andererseits  mit  vorweggenommenen subjektiven Vorstellungen in Beziehung bringt.

Handeln als Entwurf

Vorweggenommene  Erfahrungen,  auf  die  sich  jemand subjektiv  sinnhaft  bezieht  sind  Handlungsentwürfe - wie  im  obigen  Beispiel diejenige Person, die sich entschließt, den Arm zu heben, weil sie antizipiert, dass  die  abgelaufene  Handlung,  also  der  gehobene  Arm,  als  Warnung  verstanden  werden  wird.  Handeln  ist  demnach  ein  über  einen  auf  Zukünftiges gerichteten Entwurf motivational gesteuerter Ablauf des Tuns.  Verhalten dagegen ist nicht an einer in die Zukunft gerichteten Erfahrung orientiert.

Um-zu- und Weil-Motive

„Um-zu-Motive“  charakterisieren  den  Handlungsentwurf. 

Ich  tue  dies,  um ein Handlungsziel zu verwirklichen. Beispielsweise: Ich ermorde jemanden, um an sein Geld zu gelangen. In diesem Fall formuliert das „Um-zu-Motiv“ einen bestimmten,  von  mir  auch  bewusst  verfolgten  Zweck.

Es  gibt  jedoch auch „Um-zu-Motive“, die keine Ziele im Sinne solcher Zwecke darstellen. Etwa: Ich prügele auf jemanden ein, um meine Wut „rauszulassen“ - und nicht, um  ihn  zur  Fügsamkeit  mit  meinen  Wünschen zu bringen. Vielleicht bewirke ich  das;  aber  dies  war  nicht  mein  Ziel. Mein Handlungsentwurf bestand viel-
mehr  darin,  eine  Emotion  auszuleben;  und  was  dies  weiter  bewirkt,  ist  mir momentan völlig egal und steht mir nicht bewusst vor Augen. Dennoch ist das „Prügeln“ ein auf Zukünftiges gerichteter motivational gesteuerter Ablauf meines  Tuns  und  folglich  ein  Handeln.

 Um-zu-Motive  sind  für  Handeln  konstitutiv. Handeln  liegt  also  dann  vor,  wenn  jemand  Ausschnitte  seines  erlebten Verhaltensstroms über zukunftsgewandte Um-zu-Motive selbst versteht.

Weil-Motive

Ich bin beispielsweise zum Mörder geworden,  weil  ich  dazu  durch  schlechte  Gesellschaft,  in  die  ich  hineingeraten bin, angestiftet worden bin. Auf den ersten Blick könnte es vielleicht so scheinen, als wären dies zwei alternative Erklärungsangebote. Aber genau besehen erklären die „Weil-Motive“ ein Handeln niemals unmittelbar, sondern immer nur mittelbar,  indem  sie  die  jeweiligen  „Um-zu-Motive“  erklären:  „Indessen  das Um-zu-Motiv,  ausgehend  vom  Entwurf,  die  Konstituierung  der  Handlung  erklärt, erklärt das ... Weil-Motiv aus vorvergangenen Erlebnissen die Konstituierung des Entwurfes selbst.

Nur weil ich in schlechte Gesellschaft geraten und moralisch verwahrlost bin, konnte ich überhaupt auf die
Idee kommen, mir das benötigte Geld durch einen Mord und nicht etwa durch ehrliche  Arbeit  zu  verschaffen.  Die  „Weil-Motive“  sind  also  subjektiver  Ausdruck der sozialen Prägung des Handelns durch die „Logik der Situation“; sie
sind dem Handelnden nicht unbedingt bewusst und kennzeichnen auch unbewussteres Tun wie zum Beispiel Routinen.

Selbst- und Fremdverstehen

Darüber, wie bei uns ein bestimmtes äußerliches Verhalten mit einem bestimmten Handeln, also subjektivem Sinn, verbunden ist, erschließen wir den Sinn des gleichartigen Verhaltens als Handeln beim anderen. Eine zwangsläufige Eins-zu-Eins Zuordnung eines bestimmten Handelns zu einem bestimmten beobachtbaren Verhalten gibt es aber nicht, da „... Handeln grundsätzlich nicht am beobachtbaren Verhalten ablesbar ist.

Reziprozität der Perspektiven

Wir überbrücken die Unzugänglichkeit des anderen Bewusstseins  durch  eine  generelle  Unterstellung  der  „Reziprozität  der  Perspektiven“

Wir  sehen  beispielsweise,  dass  jemand  seinen Regenschirm aufspannt - also zunächst, solange wir das Motiv dahinter nicht kennen, für uns nur ein bestimmtes Verhalten zeigt: „Wir haben die Handlung des  anderen  als  Ablauf  der  äußeren  Welt  wahrgenommen  und  gedeutet.“ Dann  kommt  das  Fremdverstehen  als  Übertragung  von  Selbstverstehen  auf den  anderen:  „Von  dieser  Handlung  her  können  wir  die  Serie  der  Bewusstseinserlebnisse, in welchen sich für den Handelnden die Handlung konstituierte, phantasierend nachvollziehen, indem wir die wahrgenommene und gedeutete Handlung als eine von uns zu setzende Handlung entwerfen.

Wir machen uns etwa klar, dass wir selbst den Regenschirm aufspannen, wenn es zu regnen anfängt und wir draußen nicht nass  werden  wollen.  Dieses  Motiv  unterstellen  wir  jetzt  auch  dem  anderen.

Plausibilitätsprüfungen

Dass das keine völlig haltlose Spekulation darstellt, zeigt sich daran, dass wir
normalerweise  mehr  oder  weniger  umfangreiche  Plausibilitätsprüfungen  vor-
nehmen. Wir schauen etwa, ob es regnet und der andere nach draußen geht -
und wenn beides der Fall ist, geben wir uns in so einem vergleichsweise be-
langlosen Fall zufrieden.

Typisierungen

 Wir können uns zumeist mit relativ simplen Typisierungen begnügen. Das gilt bereits bei uns durchaus nahestehenden Menschen, wenn zum Beispiel ein Mann, der wieder einmal sehr spät von der Arbeit  nach  Hause  kommt,  die  säuerliche  Miene  seiner  Frau  nur  noch  so  zur Kenntnis nimmt, dass „die Frauen“ in ihrem Unverständnis für die Arbeitsbelastung  ihrer  Männer  bekanntermaßen  immer  so  reagieren,  und  er  sich  also
nicht mehr fragt, ob seine Frau denn dieses Mal vielleicht einen ganz besonderen Grund zur Verärgerung hatte, etwa ein Überraschungsmenü, das sie ihm vorsetzen  wollte  und  das  längst  kalt  geworden  ist.

wissenschaftliches Verstehen

Klar  ist  zunächst,  dass  die Soziologie  als  Wissenschaft  Handeln  „deutend  verstehen“  muss.  Darin  unterscheidet  sich  der  Erklärungsanspruch der  Sozialwissenschaften  von  dem  der  Naturwissenschaften.

 Ein  Erdbeben beispielsweise lässt sich nicht aus Motiven verstehen, sondern nur aus physikalischen  und  chemischen  Naturzusammenhängen  kausal  erklären.  Insofern alle  sozialen  Phänomene  auf  Handeln  zurückgehen,  dieses  aber  wie  dargestellt motivgesteuert verläuft, kann die Soziologie nicht bloß durch Verstehen
erklären  -  sie  muss  es  sogar.

 So  wie  im  Alltag Verstehen nie mehr als eine  Annäherung  ist  und  über  Typisierungen  geschieht,  so  muss  und  kann sich  auch  die  soziologische  Beobachterin  für  das  Verstehen  der Akteure mit Typisierungen  begnügen.

Warum?

 Sie  muss  es,  weil  das  Verstehen  fremder  Motive  eben prinzipiell immer schon eine Konstruktion ist, und sie kann es auch, weil soziologische Handlungserklärungen sich in der Regel nicht für ein ganz bestimmtes konkretes Handeln interessieren, sondern sich immer auf gleichartiges Handeln Vieler beziehen, denn erst daraus gehen nennenswerte strukturelle  Effekte  hervor.

Warum  ich  trotz  vorhandenen  Umweltbewusstseins  bestimmte Wege immer noch mit dem Auto statt dem Fahrrad zurücklege, interessiert  keinen  Soziologen  -  wohl  aber,  warum  bestimmte  Arten  von  Gesellschaftsmitgliedern,  etwa  Gutverdienende  mittleren  Alters  mit  hoher  Bildung, eklatante Brüche zwischen Umweltbewusstsein und entsprechendem Handeln zeigen. Und um das deutend zu verstehen, konstruiert der soziologische Beobachter einen entsprechenden Typus von Akteur, dessen Handeln er in abstrahierender Weise auf bestimmte Motive zurückführt.

soziales Handeln

Soziales Handeln ist „... ein solches Handeln ..., welches seinem von dem oder den
Handelnden  gemeinten  Sinn  nach  auf  das  Verhalten  anderer  bezogen  wird
und daran in seinem Ablauf orientiert ist.

Gegenüber  sonstigem  Handeln  zeichnet  sich  soziales  Handeln dadurch aus,
dass sein subjektiver Sinn andere Akteure in Rechnung stellt. Mit dieser Be-
stimmung des sozialen Handelns sieht Weber den Akteur im Kontext sozialer
Beziehungen, wodurch er ein zentrales Element der sozialen Situation, in der
sich  ein  Akteur  bei  seiner  Handlungswahl  befindet,  in den Blick nimmt. Aus-
schlaggebend für den sozialen Charakter des Handelns ist, dass andere Ak-
teure mit ihrem vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftig erwartbaren Ver-
halten oder Handeln in die „Um-zu-Motive“ meines Handelns eingehen.

Orientierung am anderen

Das kann auf zweierlei Weisen geschehen. Erstens kann mein Ziel sein, ei-
ne Veränderung bei dem oder den anderen herbeizuführen. Die anderen ge-
hen dann derart in mein Um-zu-Motiv ein, dass ich bei ihnen etwas erreichen
will.  Dies  kann  ein  Zustand  sein:  Ich  handele  zum  Beispiel,  um  ihnen                                                             etwas Gutes oder auch Schlechtes zu tun. Ich nehme mir etwa vor, jemandem eine
Freude zu bereiten, oder ich richte meinen Ehrgeiz darauf, jemanden zu quä-
len, und tue etwas, wovon ich hoffe, dass es den Zustand herbeiführt. Es kann auch sein, dass das Um-zu-Motiv meines Handelns in der Weise auf den anderen gerichtet ist, dass ich ein bestimmtes Handeln bei ihm hervorrufen will, und ich etwas tue, wovon ich hoffe, dass es ihn zu diesem Handeln veranlasst.

Neben der Gerichtetheit auf andere kann das eigene Handeln zweitens auf
andere bezogen sein. Das liegt dann vor, wenn ich das Handeln anderer beim
Entwurf meines Handelns einkalkuliere: negativ als Störung, mit der ich fertig
werden  muss,  oder  positiv  als  Unterstützung,  die  ich  mir  zunutze  machen
kann. Wenn der neue Mitbewohner eines Mehrfamilienhauses in der Mittags-
zeit seine Renovierungsarbeiten unterbricht, weil er sonst Ärger mit den lärm-
empfindlichen  Nachbarn  gewärtigt,  liegt  Ersteres  vor;  und  wenn  er  abwartet,
bis ein Freund kommt, der zu helfen versprochen hat, ist Letzteres der Fall. 

„sozial“

Wäh-
rend im Alltag meist diejenigen als „sozial“ bezeichnet werden, die sich in ir-
gendeiner  von  der  Allgemeinheit  positiv  anerkannten  Form  fürsorglich  oder
wohltätig  um  andere  Menschen  bemühen,  entscheidet  nach  soziologischem
Verständnis allein eine bestimmte innere Ausrichtung des Handelns, nämlich
die subjektiv sinnhafte Ausrichtung an anderen, über den sozialen Charakter
des Handelns. Danach kann auch ein Handeln, das uns im Alltag als „unsozi-
al“ oder gar „a-sozial“ erscheint, soziales Handeln sein. Betrüger oder Mörder
beispielsweise  handeln  nach  soziologischem  Verständnis  sozial,  weil  sie  ja
gerichtet und bezogen auf ihr Opfer handeln.

 dass  Handeln  von  sozialen Strukturen geprägt sein kann

Des  Weiteren  muss  man  sich  klar  machen,  dass  Handeln  von  sozialen
Strukturen geprägt sein kann und dennoch kein soziales Handeln im Sinne der
obigen Definition sein muss. Wenn beispielsweise jemand Holz hackt, um et-
was zum Verfeuern zu haben, ist dies kein soziales Handeln. Denn als subjek-
tiver  Sinn  tauchen  hierbei  nur  Bezüge  auf  Sachen  -  das  Holz,  die  Axt,  den
Hackklotz - sowie auf je eigene Bedürfnisse auf. Freilich ist auch dieses Han-
deln durch und durch sozial mitbedingt. Der Holzhacker nutzt mit der Axt einen
kulturell  spezifischen  Gegenstand,  er  hat  sich  das  Holzhacken  nicht  selbst
beigebracht,  sondern  von  anderen  gezeigt  bekommen  und  gelernt,  und  sein
Handeln wird in bestimmten Gesellschaften nur möglich, wenn er über weitere
Ressourcen verfügt, zum Beispiel über die Mittel, sich das nötige Werkzeug zu
leisten oder über eine Erlaubnis, in einem Waldgebiet Holz zu schlagen. Auch
- in Webers Verständnis - nicht-soziales Handeln ist also üblicherweise sozial
geprägt.

 Einseitigkeit und Wechselseitigkeit sozialen Handelns

Eine weitere wichtige Implikation der soziologischen Bestimmung von sozia-
lem Handeln ist, dass dieses einsam und einseitig sein kann. Auch das mar-
kiert  einen  Unterschied  zum  Alltagsverständnis,  in  dem  in  der  Regel  davon
ausgegangen wird, dass Handeln dann „sozial“ ist, wenn der oder die Interak-
tionspartner, auf die man sich bezieht, anwesend sind und reagieren. Der so-
ziologische  Begriff  des  sozialen  Handelns  dagegen  umfasst,  dass  die  ande-
ren,  an  denen  sich  soziales Handeln orientiert, leibhaftig räumlich anwesend
sein können, dass sie aber auch weit weg sein können und zum Beispiel nur
über Telekommunikationstechniken anwesend sind.

soziale Beziehung

Wenn Wechselseitigkeit des sozialen Handelns zustande kommt, die Beteilig-
ten  ihr  soziales  Handeln aneinander ausrichten, dann liegt nach Weber eine
soziale  Beziehung  vor  (Schneider  2002:  57-64).  Wechselseitiges  soziales
Handeln, also „... ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig einge-
stelltes  und  dadurch  orientiertes  Sichverhalten  mehrerer  ...“,  konstituiert  die
soziale Beziehung

 Weiterhin  können  soziale  Beziehungen  auf  unmittelbarer  räumlicher
Kopräsenz beruhen, können aber auch zwischen räumlich dauerhaft getrenn-
ten Handelnden bestehen, wie etwa eine jahrelange Brieffreundschaft beweist.

 motivationale Verschränkung

In  sozialen  Beziehungen  bildet  sich  eine  eigentümliche  motivationale Ver-
schränkung  zwischen  den  Beteiligten  heraus.  Die  „Um-zu-Motive“  des  einen
werden  zu  „Weil-Motiven“  des  anderen,  und  umgekehrt  (Schütz  1932:  223-
227). 16   Beispielsweise  frage  ich  mein  Gegenüber  etwas, um eine Antwort zu
erhalten; und das Gegenüber antwortet mir, weil ich gefragt habe.

Unterlassungshandeln

In solchen Zusammenhängen wechselseitig aufeinander bezogenen Handelns
wird im Übrigen nochmals deutlich, dass Nicht-Handeln unter bestimmten Um-
ständen ebenfalls als Handeln gewertet wird: wenn ein Handeln, das das Ge-
genüber von mir erwartet, ausbleibt (Geser 1986). Solches Unterlassungshan-
deln  kann  streng  genommen  nicht  beobachtet  werden.  Denn  es  passiert  ja
eben  nichts.  Aber  vor  dem  Hintergrund  andersartiger  Erwartungen  wird  das
Nichtgeschehen doch sichtbar. Wenn ich meiner Freundin jeden Morgen einen
Kuss gebe und dies dann eines Tages ausbleibt, ist dieses Unterlassen eine
Handlung: für sie, die sich fragt, ob ich mich etwa über sie ärgere oder gar mit
meinen  Gedanken  bei  einer  anderen  Frau  bin,  und  für  mich,  wenn  ich  die
Nichtgewährung des Kusses als demonstrative Bestrafung einsetze.

Jede soziale Beziehung stellt was dar?

 

Jede soziale Beziehung, ob einmalig oder dauerhaft und ob eher über Ak-
tivhandeln oder eher über Unterlassen konstituiert, stellt damit bereits ein han-
delndes Zusammenwirken von Akteuren dar. Im Weiteren geht es um die ver-
schiedenen soziologischen Akteurmodelle, die dem zugrunde liegen.

Akteure und Handlungswahlen

Die  sozial  Handelnden  werden  in  der  Soziologie  mit  dem  Terminus  Akteur bzw. Akteure bezeichnet.

Die Soziologie interessiert sich
nur für einen Ausschnitt, nämlich eben für die Person als Handelnde, und da-
bei insbesondere für die in sozialen Zusammenhängen handelnde Person. Der
Begriff des Akteurs bezieht sich immer schon auf den Handelnden, nicht auf
den Sich-Verhaltenden, und setzt damit die im Vorangegangenen geschilder-
ten  Begriffsbestimmungen  voraus.  Der  Akteurbegriff  umfasst  also  Einheiten,
die sinnhaft und zielgerichtet handeln, und denen wiederum von anderen Ak-
teuren Handeln zugeschrieben werden kann. 

Akteurbegriff erfasst Handeln als Handlungswahlen

Der  Begriff  impliziert  dabei  zudem,  was  weiter  oben  mit  dem  Modell  der
wechselseitigen  Konstitution  von  sozialem  Handeln  und  sozialen  Strukturen
bzw.  dem  Modell  der  soziologischen  Erklärung  (Kap.  1.2;  1.3)  beschrieben
wurde: dass Handeln immer in sozialen Situationen stattfindet, in denen sich
die Akteure orientieren, also die jeweils gegebene Situation für sich interpretie-
ren und definieren, und dann zwischen verschiedenen Handlungsalternativen
wählen.  Die  sozialen  Situationen,  in  denen  sich  ein  Akteur  wiederfindet,  de-
terminieren ihn oder sie nicht zu einem bestimmten Handeln, sondern der Ak-
teurbegriff erfasst Handeln als Handlungswahlen. Dabei ist der Akteur natür-
lich nicht „frei“, sondern bei seiner Handlungswahl auf die gegebenen Alterna-
tiven  in  der  jeweiligen  Situation  verwiesen.  Der  soziologische  Akteurbegriff
betont, dass die Handlungswahlen eingebettet sind in soziale Situationen und
geprägt werden von den sozialen Strukturen, die diese Situationen kennzeich-
nen.

Individuum

 Die sozialen Strukturen eröffnen Handlungsmöglichkeiten oder schränken
sie ein, und prägen so den Alternativenraum für die Handlungswahlen. Darin
liegt  ein  Unterschied  zum  Begriff  des Individuums, mit dem in einem älteren
und  durch die Philosophie der Aufklärung aufgeladenen Sprachgebrauch die
Idee  der  Autonomie  des  Einzelnen  gegenüber  den  sozialen  Strukturen  bzw.
gegenüber der Gesellschaft akzentuiert wird. 

individuelle und überindividuelle Akteure

Das Besondere am Akteurbegriff ist schließlich auch, dass er sich nicht nur
auf den Einzelnen bezieht. Es kann der oder die individuell Handelnde gemeint
sein; Akteure können aber auch Organisationen, soziale Gruppen oder soziale  Bewegungen sein.  Letztlich können nur die Einzelnen handeln, aber Organisationen, soziale Gruppen oder Bewegungen sind
gewissermaßen  aus  Einzelnen  „zusammengesetzte“  handelnde  Einheiten. 

   Solche „composite actors“ (Scharpf 1997: 52/53) handeln nach Außen hin wie
eine Person nach Maßgabe einer gemeinsamen Zielsetzung. Sie werden des-
halb als überindividuelle Akteure im Unterschied zu individuellen Akteuren be-
zeichnet. Der  Akteurbegriff  kann  daher  zum  Beispiel  auch  auf  Verbände,
Unternehmen, Regierungen usw. angewendet werden.                                                               

Akteurmodelle

Akteurmodelle sind generelle theoretische Modelle, die als Erklärungswerk-
zeuge für das Handeln der Akteure dienen. Mit ihnen lässt sich erfassen, wa-
rum Handelnde aus den ihnen situativ verfügbaren Handlungsalternativen die-
jenige auswählen, die sie dann auch tatsächlich ausführen - wobei der Alterna-
tivenraum  eben  strukturell  bestimmt  ist.  Die  Akteurmodelle  fokussieren  und
bündeln jeweils bestimmte der Strukturdeterminanten, die für die Handlungs-
wahlen  bedeutsam  sind,  und  stellen  so  die  Verknüpfung  der  Handlungswahl
zur „Logik der Situation“ her. Mittels der Modelle lassen sich Handlungswahlen
auf je andere sie prägende sozialstrukturelle Handlungsbedingungen zurück-
führen. Man erhält so einige wenige analytische Akteurmodelle für die „Logik
der Selektion“, wobei die Modelle eben - wie noch ausführlicher gezeigt wird -
jeweils recht unterschiedliche Elemente sozialer Strukturen heranziehen.

Worauf beruhen die Akteurmodelle?

Den Modellen liegen jeweils verschie-
dene dominierende Handlungsantriebe zugrunde, d.h. sie stellen auf vereinfa-
chenden  Annahmen  beruhende  Muster  von  Triebkräften  des  Handelns  dar.

Es geht bei den Ak-
teurmodellen  um  fundamentale  und  zugespitzte  Typen  von  Motiven  sozialen
Handelns. Solche Modelle beschreiben also nicht, welche konkreten und situa-
tionsspezifischen Motive jemand im Einzelfall hat, sondern sie bringen in ab-
strahierender  Weise  auf  den  Begriff,  was  den  typischen  Akteur  in  einer  be-
stimmten sozialen Situation antreibt.

vier Arten von Handlungsantrieben

Ein  erstes  Modell,  das  bis  heute  den  Mainstream  in  der  soziologischen
Handlungstheorie repräsentiert, ist der Homo Socio-
logicus. Dies ist das Modell eines Akteurs, der sein Handeln an sozialen Nor-
men ausrichtet. Normative Erwartungsstrukturen zeigen ihm an, worum es ihm
in einer Situation zu gehen und wie er entsprechend zu handeln hat.

Dem  Homo  Sociologicus  steht  als  zweites  Akteurmodell  der  Homo  Oeco-
nomicus gegenüber. Das ist ein Akteur, der
so  handelt,  dass  er  seinen  eigenen  erwarteten  Nutzen  unter  geringstmögli-
chem Aufwand maximiert.

Ein drittes Akteurmodell ist der „Emotional man“ (Flam 1990a).
Emotionale Handlungsantriebe werden durch andere sozialstrukturelle Deter-
minanten ausgelöst als norm- oder nutzenorientiertes Handeln.

Ein  viertes  Akteurmodell  ist  schließlich  der  Identitätsbehaupter.  Es  gibt
Handlungen, die jemand nur oder hauptsächlich deshalb ausführt, weil er nach
außen oder sich selbst dokumentieren will, wie er sich selbst sieht und gesehen werden will. Das gilt zum Beispiel für solches Handeln, bei dem jemand seiner Gesinnung folgt und dafür teilweise große persönliche Kosten auf sich
nimmt.

 

Zusammenfassung und Lernziele Kapitel 2

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