Modul 2d - 03741 - Gegenwartsdiagnosen
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Cartes-fiches | 54 |
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Utilisateurs | 13 |
Langue | Deutsch |
Catégorie | Pédagogie |
Niveau | Université |
Crée / Actualisé | 16.01.2015 / 22.05.2020 |
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Welche sozialen Folgen hat die McDonaldisierung?
Die Kultur von Berechenbarkeit und Effizienz umfasst nach Ritzer alle Lebensbereiche, womit auch Beziehungen unter dem Rationalitätsgesichtspunkt bewertet werden. Webers These vom „Gehäuse der Hörigkeit“ bestätigt dies und weist auf eine nur vermeintliche Rationalität hin (Illusion eines leistungsfähigen Produkts, unbemerkte Mitarbeit von Verbrauchern etc.). Ritzer erkennt den Trend zu einer schnelllebigen Gesellschaft, in der mit wenigsten Mitteln Ziele erreicht werden sollen.
Folgen daraus sind, dass sich Menschen nicht mehr auf lebensweltliche Entscheidungskriterien verlassen. Sie verlassen sich immer mehr auf die Effizienzkriterien von Organisationen und Vorhaben (Reiseplanung etc.) an Anbieter delegieren. Kunden werden als kostenlose Arbeitskräfte eingespannt (Selbst Auto betanken, Tisch selbst abräumen, Lebensmittel selbst in Tüten packen), womit das Unternehmen auf bezahlte Angestellte verzichten kann. Die interne Rationalität führt zur Wegrationalisierung von Arbeitsplätze und macht Menschen arbeitslos. Dies wäre dann eine "irrationale Externalität" (SB 03741, S. 110) wie die im Text benannten Müllberge, Warteschlangen und brüchige Familienbeziehungen.
Auch Familien betrifft diese Entwicklung. Es werden z.B. kaum mehr gemeinsame Mahlzeiten eingenommen und stattdessen Fast Food konsumiert. Ritzer befürchtet einen Werteverfall, weil Familienrituale nicht mehr gelebt werden.
Nennen Sie drei Beispiele für die Standardisierung des Angebots in verschiedenen wirtschaftlichen Bereichen und beschreiben Sie, welche standardisierenden Maßnahmen jeweils ergriffen werden.
1) Beim Hausbau entscheiden sich immer mehr Menschen zu einem Fertighaus, statt Schritt für Schritt ein mit einem Architekten auf individuelle Bedürfnisse zugeschnittenes Haus zu planen und mit Unterstützung von Familie und Freunden zu errichten und vieles über Hausbau zu erlernen. Dieses wird in standardisierten Größen angeboten, je nach Kopfquote und Finanzkraft. Die Rohmaterialien werden über große Mengen z.T. am Weltmarkt eingekauft und nach vorgegebenen Normen weiterverarbeitet, daher gibt es dasselbe Haus weltweit mehrfach.
2) Tagesablauf in einer Kita: Es ist genau vorgegeben wie der Tagesablauf zu erfolgen hat. Morgens Freispiel, dann Morgenkreis mit Führung der Anwesenheitsliste, danach Toilettengang und Händewaschen, anschließend gemeinsames Gabelfrühstück, Toilettengang und erneutes Händewaschen, Freispiel bzw. Vormittagsaktivität wie Turnen, Vorschule ect. Um 11:30 Uhr wird aufgeräumt, zur Toiletten gegangen und Hände gewaschen. Dann gibt es Mittagessen, danach werden die Zähne geputzt/Hände gewaschen. Es folgt die Ruhe- bzw. Schlafphase, danach Freispiel und 1. Abholphase, gegen 15 Uhr ein erneuter Snack, usw.
3) Urlaubsplanung: der Pauschalurlauber zahlt und kümmert sich um nichts mehr. Nach der Landung mit dem Flugzeug, wird er wird mit dem Bus zum Hotel gefahren. Er bekommt je nach gebuchter Verpflegung seine Speisen und Getränke, ohne sich darum kümmern zu müssen. Er macht gebuchte Führungen mit Reiseleitung. Für Freizeitmöglichkeiten und Animation ist ausreichend gesorgt. Am Ende fährt der Bus den Urlauber wieder zurück zum Flugzeug. Alternativ dazu könnte man sich selbst um eine Unterkunft kümmern und unterschiedlich essen gehen, selbst Reiserouten zusammenstellen und viele neue Erfahrungen machen.
Ergänzend wäre vielleicht zu sagen, dass diese Standardisierung bei den Konsumenten "Erwartungssicherheit" entstehen lässt. Als weitere Folge kann die Anspruchs-Enttäuschungs-Spirale angefügt werden.
Welche Unterschiede diagnostiziert Sennett in den Erwerbsbiographien der beiden Generationen, die er in seiner Studie untersucht?
Die Erwerbsbiographie der älteren Generation (Bsp: Enrico als Einwanderer der 1. Generation) ist gekennzeichnet durch einen berechenbaren, linearen und durch langfristige Arbeitsverhältnisse, der es möglich machte Erfolg (gemessen an Ersparnissen bzw. Einkünften) zu kumulieren. Damit war es erfolgreich möglich, beispielsweise Eigentum zu erwerben und auszubauen sowie und den Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen, was als Ziele der Arbeitsanstrengung dieser Generation galten. Der berechenbare Lebenslauf basierte auf einer bürokratischen Struktur, z.B. in Form eines an das Dienstalter gekoppelte Lohnsystem. Die Erwerbsbiographie jüngeren Generation (Bsp.: Sohn Rico) weist kumulativen Erfolg, die Berechenbarkeit der Zeit, eine stützende bürokratischen Struktur, aus der eine klare Lebensgeschichte hervorgeht, nicht auf. Kennzeichnend für dieses Leben ist kurzfristige und wechselnde Arbeitsverhältnisse als Folge des flexiblen Kapitalismus. Die Einkommensverhältnisse und das Bildungsniveau sind zwar insgesamt höher, was aber mit dem Verlust an langfristigen Bindungen, Sicherheiten und Gemeinschaften einhergeht, da ein Arbeitsplatz- und Ortswechsel zur Regel und zum Muss werden. Der steigende Konkurrenzkampf am Arbeitsmarkt, welcher flexible Arbeitnehmer fordert, führt zu Kontrollverlustängste sowie ein brüchig werdendes Selbstkonzept der Individuen.
Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem ‚flexiblen’ Kapitalismus im Hinblick auf die Verhältnisse sozialer Integration?
die Konsequenzen sind z.B.
- viele Arbeitsplatz- und Wohnortwechsel
- oberflächlichere Bindungen (da Vertrauen, Loyalität und gegenseitige Verpflichtung sind von langem Zusammenhalt abhängig)
- keine langfristige Planbarkeit
- Bedrohung eines stabilen Selbstwertgefühls
- Werterigorismus (extreme Strenge)
- Verlust von Gemeinschaftssinn
- Entwurzelung
Diese Faktoren erschweren eine soziale Integration.
Als Drift wird bei Sennet eine "biographische und kollektive Entfremdung" bezeichnet. Sie wird beschrieben als ein Zustand des "Dahintreibens" oder illustriert mit dem Bild des fortwährenden "Umtopfens" dem sich die Menschen unterziehen müssen, womit ein Verlust der inneren Sicherheit und der beruflichen Identität entsteht; das Selbstbewusstsein und das soziale Gedächtnis werden "fragmentiert".
Die Drift wird durch den Lebensstil ausgelöst, die der Konkurrenzkampf in der flexiblen Wirtschaft erzwingt. Menschen müssen sich ständig beruflich und örtlich verändern und fangen jedes Mal wieder bei Null an. In den Wohnorten bilden sich oberflächliche Gemeinschaften auf Zeit. Die Risiken, die die Menschen dabei eingehen, gleichen einem Würfelspiel. Der nächste Zug kann gut oder schlecht sein, da vergangene Erfolge den nächsten Schritt nicht mehr beeinflussen. Die zunehmende Automatisierung von Arbeitsprozessen verstärkt diesen Prozess, die den Menschen keine Identifizierung mehr mit ihrer Tätigkeit erlauben. Arbeit wird zu einem Computersymbol und dadurch "unlesbar".
Drift bedeutet, dass die Menschen nirgendwo mehr fest verwurzelt sind, weder in einer örtlichen Gemeinschaft, noch einem Beruf, sondern durch Gelegenheiten oder Notwendigkeiten hierhin oder dorthin getrieben werden. Aus diesem Getrieben werden lässt sich keine Lebenserzählung gestalten, kein fester Charakter ausbilden, woran Menschen, trotz wirtschaftlichem Erfolg, leiden.
Ein Weg aus der Drift beruht in der Übernahme von Verantwortung für das eigene Schicksal. Dies bedeutet, sich wirklich einzulassen und mit anderen Menschen eine echte Gemeinschaft zu bilden, ein echtes "Wir".
Welche drei Prozesse bezeichnen den Umbau der Strukturen der Arbeitsorganisationen?
1. Umstrukturierung von Arbeitsorganisationen geschieht im neoliberalen Modell durch „Re-engineering“. Damit ist zum einen der Abbau von Personal im Rahmen einer Betriebsverschlankung und daraus resultierenden Kostenersparnis gemeint, was bei den Entlassenen zu einem Gefühl der Dequalifizierung und Nutzlosigkeit führt und ihre Arbeitsmoral einbrechen lässt. Die noch-Beschäftigten sollen dann alle routinisierten Arbeitserfahrungen aufgeben und Flexibilität aufbauen, womit die persönliche Autonomie des Personals gefordert ist. Für die Streichung von Arbeitsbereichen ist allerdings nicht mehr entscheidend, wie erfolgreich jemand ist. Es entsteht Druck auf die verbleibende Belegschaft und zum anderen führt das Re-engineering nicht zum gewünschten Erfolg, da bewährte Prozesse unterschätzt wurden.
2. Flexible Spezialisierung der Produktion: Ziel der Profitabilität. Der Markt wird in kleine Segmente unterteilt, welche jeweils von einer Unternehmenseinheit bedient werden. Damit sind die Beschäftigten direkt dem Marktdruck ausgesetzt. Es werden nicht mehr alle Arbeitsschritte umfassend von Großunternehmen allein durchgeführt, sondern viele kleine Zulieferfirmen arbeiten in der Produktionskette mit entsprechendem Erfolgsdruck in jedem Segment. Sennett erkennt maßlose und unspezifische Profiterwartungen, die systematische Gefühle des schlechten Gewissens und der Selbstvorwürfe auslösen können.
3. Konzentration der Macht ohne Zentralisierung: Dies ist eine subtile Art der Macht, da sie unsichtbar bleibt. Auf formal selbständige, aber schwächere Partnerunternehmen werden Misserfolge abgewälzt. Auf der Mikroebene werden ebenfalls formal selbstentscheidende Teams über zu hoch angesetzte Vorgaben unter Erfolgsdruck gesetzt. Innerhalb der Teams herrscht Konkurrenz um den Erhalt des Arbeitsplatzes, wobei diese Konkurrenzsituation nicht thematisiert werden darf, da eine Ideologie der Teamarbeit herrscht.
Was versteht Sennett im Zusammenhang mit der Umgestaltung von Arbeitsorganisationen und Arbeitsverträgen unter dem Begriff der ‚Unlesbarkeit’?
Mit "Unlesbarkeit" ist z.B. die Unsicherheit gemeint, was es heißt, ein "guter Arbeiter" zu sein. Durch die Technisierung in allen Bereichen des Erwerbslebens sind Arbeitskräfte programmabhängig. Sie verfügen nicht mehr über ausgeprägtes praktisches Wissen. Verantwortung übernimmt z.B. der Vorarbeiter bzw. Vorgesetzte, nicht mehr die ganze Belegschaft. Damit kommt es zur Abnahme des Gemeinschaftsgefühls und eine Gleichgültigkeit dem Arbeitsprozess und dessen Produkten gegenüber.
Durch Maschinen (in der Automatisierung) wird den Arbeitern die Möglichkeit genommen, sich mit ihrer Arbeit zu identifizieren und fungiert so quasi als Puffer zwischen Arbeitskraft und Produkt, was zu einer Identitätslosigkeit führt.
Welche drei Arten von Unsicherheiten unterscheidet Sennett? Wodurch zeichnen sie sich jeweils aus?
1. Mehrdeutige Seitwärtsbewegungen: Das berufliches Vorwärtskommen ist nicht mehr eindeutig erkennbar. Eine Person glaubt, beruflich vorwärts zu kommen, bewegt sich allerdings nicht nach oben, sondern zur Seite, weil Stellenkategorien in der flexiblen Arbeit gestaltloser werden. Das erkennt man jedoch erst, wenn man sich mitten im flexiblen Netzwerk befindet. Durch diese „Schwammigkeit“ kann man beruflichen Erfolg schwer definieren, womit man eher bereit ist, die Stelle zu wechseln, da man sich erhofft, dass der nächste Job konkreter wird.
2. Retrospektive Verluste: Akteure erkennen häufig erst nach einem Wechsel rückblickend, dass die falsche Entscheidung getroffen wurde. Diese kann man jedoch nicht mehr revidieren und muss mit den Folgen und Risiken leben.
3. Unvorhersehbare Einkommensverluste: Die berufliche Mobilität ist in der heutigen Gesellschaft oft ein undurchschaubarer Vorgang. Meist orientiert man sich bei einem Stellenwechsel an der Bezahlung, jedoch stellt der Wechsel für die meisten (>2/3) letztlich keinen wirklichen Zugewinn dar, was das Einkommen betrifft (34% verlieren sogar beträchtlich). Die Orientierung am Einkommen, die im bisherigen Klassensystem gang und gäbe war, ist nicht mehr wegweisend.
Weshalb sind nach Sennett auch oder vor allem die Mittelschichten Opfer des ‚flexiblen Kapitalismus’?
Die Mittelschichten, die den Forderungen nach Flexibilität und Mobilität nachkommen möchte, setzen sich aufgrund ihrer gehobenen Bildung unter höheren Veränderungsdruck, strebt andererseits aber langfristige Ziele und eine Normalkarriere an. Unter Karriere verstehen diese Personen, Verhaltensmaßregeln im Berufs- und Privatleben zu befolgen und Verantwortung zu übernehmen (moralische Ziele). Die Kurzfristigkeit im flexiblen Kapitalismus lässt jedoch ein normales Erwerbsleben (steigende Entlohnung, Zurückbleiben anderer Schichten...) nicht mehr zu. Folge daraus ist ein moralischer Verlust, da gesteckte Ziele nicht erreichbar sind.
Mittelschichten sind Opfer des flexiblen Kapitalismus aufgrund der Dequalifizierung und der entsprechenden Unsicherheitserlebnisse. Hohe Qualifikation und Arbeitslosigkeit sind kein Widerspruch mehr. Zum Statusverlust durch Verlust des Arbeitsplatzes kommt das Versagen vor sich selbst hinzu.
Welche zentralen (sozialen) Probleme stehen modernen Gesellschaften nach Heitmeyer heute vor allem gegenüber?
1. Kluft zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander und verschärft soziale Ungleichheiten, Folge daraus ist eine Erosion der bis dahin integrierten Mittelschicht.
2. Menschen ziehen sich aus Institutionen zurück (Ehe, Kirche, Vereine, Gewerkschaften...)
3. Es werden höhere Anforderungen in der Arbeitswelt bezüglich Flexibilität und Mobilität gesetzt (Folge: Bastelbiographie).
4. Grundlegende Wert- und Normenkonsense lösen sich auf. Dieser Problemlagen resultiert das gesellschaftliche Phänomen der "Anomie" (E. Durkheim, 1893).
Massenarbeitslosigkeit und allgemeine Verunsicherung sind Folgen der Globalisierung von Kapital und Kommunikation.
Heitmeyer:
Was verstehen a.) Durkheim und b.) Merton unter dem Begriff der ‚Anomie’?
Durkheim – Anomie – Auseinanderfallen von materieller und moralischer Entwicklung in Zeiten erhöhter Modernisierungsdynamik
Merton – Anomie – Diskrepanz zwischen kulturellen Zielen und den individuellen Ressourcen zur Zielerreichung, führt bei sozialstrukturell Benachteiligten zu abweichendem Verhalten
Durkheim (Studie über die soziale Arbeitsteilung, 1893) zufolge bestehen Gesellschaften aus arbeitsteiligen Untereinheiten, welche durch Vertrag (Gestaltung der Arbeitsbeziehungen) und korporative Sittlichkeit ( Sozialverhalten untereinander) normativ aneinander gebunden sind.
Der Begriff Anomie (lat. für Gesetz- und Normlosigkeit) wurde 1893 als soziologische Kategorie eingeführt. Ausgelöst wird dieser durch das "Auseinanderfallen von materieller und moralischer Entwicklung" (SB S. 138). Die Modernisierung bringt mehr Produkte und damit erstrebenswerte Güter hervor. Moralische Werte halfen dem Einzelnen bisher (Religiosität, Sittlichkeit...) dieser Fülle kognitiv gewachsen zu sein und Autorität beim Übergang zu einem neuen Regelsystem zu finden. Ein Indikator von Anomie ist z.B. die Selbstmordrate. Im Übergang zum 20. Jh. sind Krise und Anomie laut Durkheim zum Dauerzustand geworden.
Nach Merton sind die höchsten kulturellen Werte finanziell messbare Erfolge (Wohlstand), was als Leitorientierungen für gelingendes gutes Leben gilt. Die Erreichung dessen liegt in der Disposition des Individuums (willig, fleißig, arbeitsam). Vom Tellerwäscher zum Millionär.
Merton konzentriert sich auf die kulturelle Dimension in amerikanischen Verhältnissen. In Amerika wird Erfolg finanziell gemessen und äußert sich in sichtbarem Wohlstand. Das Credo und Leitbild lautet: jede/r kann sich hocharbeiten. Seit den 20er und 30er Jahren wird es aufgrund der Sozialstruktur immer schwieriger, dieses Ziel zu erreichen (Ressourcen zur Zielerreichung schwinden bei immer größer werdenden benachteiligten Gruppen). Es kommt zu Diskrepanzen zwischen kulturellen Zielen und individuellen Ressourcen zur Zielerreichung sowie zu abweichendem Verhalten und zu Anomie. Merton spricht dabei vom Zusammenbruch der "kulturellen Struktur".
Heitmeyer:
Definieren Sie im Zusammenhang mit Anomie die Begriffe ‚Inkonsistenz’, ‚Ungleichzeitigkeit’ und ‚Asymmetrie’.
Die Gegenwartsgesellschaft ist gekennzeichnet durch die Ausbreitung der Anomie. Das Effizienzdenken, das die Märkte beherrscht, vereinnahmt auch die Politik und die Lebenswelt der Menschen und wirkt desillusionierend und auflösend. Neben Wohlstand und Erfolg ist heute die Individualität ein wichtiges Leitmotiv, das Freiheit gewährleisten soll. Individualität führt jedoch auch zu Phänomenen wie Inkonsistenz, Asymmetrie und Ungleichzeitigkeit.
Inkonsistenz: Durch die Subjektivierung von Werten und Normen werden zwar neue Entscheidungsfreiräume ermöglicht, diese werden aber direkt wieder durch den Zwang zu einem nutzenorientierten Verhalten am Markt verstellt. Durch die Subjektivierung von Normen und Werten werden zwar mehr Entscheidungsfreiräume ermöglicht, aber zugleich werden diese durch ein rein utilitaristisches und kalkulierendes Verhalten, das am kapitalistischen Markt notwendig ist um zu bestehen, wieder verstellt.
Ungleichzeitigkeit beschreibt die Kollision zwischen erlernten individualisierten Verhaltensweisen und der Bedrohung durch Armut und realer oder drohender Arbeitslosigkeit. Man kann nicht agieren, wie man gerne handeln würde. Damoklesschwertern gleich schweben die oben genannten Probleme über einem und verhindern so die Entfaltung der eigenen Individualität. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen wirken bedrohlich, sind aber andererseits Voraussetzung für das Lebensmuster Individualität.
Asymmetrie beschreibt die Diskrepanz zwischen der Leitorientierung „Individualität“ und den tatsächlich gegebenen Möglichkeiten, wie von Merton bereits erwähnt. Die sozialstrukturellen Realisierungschancen sinken immer weiter, wobei zugleich der Aufforderungscharakter besteht, dass jeder selbst für sein Glück verantwortlich ist.
Was versteht Heitmeyer unter den Begriffen ‚Strukturkrise’, ‚Regulationskrise’ und Kohäsionskrise?
Strukturkrise:
Abnehmende Steuerungsfähigkeit von Politik und Staat vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Globalisierung.
Regulationskrise:
Die heutige Gesellschaft nimmt ihre eigenen Regeln, Werte und Normen nicht mehr ernst.
Kohäsionskrise:
Auflösung von Vergemeinschaftungen und Verlust der Bindekraft von Idealen, sozialen Beziehungen, Milieus... durch eine übersteigerte Individualisierung
Die Desintegrationsphänomene (Inkonsistenz, Ungleichzeitigkeit und Asymmetrie) sind für drei Krisenlagen verantwortlich: die Struktur-, die Regulations- und Kohäsionskrise als gesellschaftliche Entwicklungen.
Die Strukturkrise ist damit gekennzeichnet, dass die Steuerungsfähigkeit von Politik und Staat durch die wirtschaftliche Globalisierung reduziert wird. Das gesellschaftliche System ist gekennzeichnet durch Differenzierung, womit sich bei der soziokulturellen Zuordnung und der Existenzsicherung Probleme ergeben. Folgen daraus sind eine Verschärfung von Ungleichheit, Ausgrenzung, Desintegration. Menschen reagieren mit Ohnmacht, Gleichgültigkeit oder auch mit Gewalt.
Die Regulationskrise bezieht sich auf die Entwicklung der Pluralisierung von Werten und Normen. Eigene Regeln, Werte und Normen gehen verloren, eine Verständigung über gemeinsame Werte ist nicht mehr möglich. Daraus folgt eine Delegitimierung von Normen und ein Kontingenz von Werten. Gewaltschwellen nehmen ab, Gewaltanfälligkeit nimmt zu.
Die Kohäsionskrise bezeichnet die Auflösung von Gemeinschaften und die Abnahme der Bindungen (Sozialbeziehungen, Milieus, Ideale) durch die Individualisierung. Dadurch verliert der Mensch die Zugehörigkeit und verliert Bindekraft von Idealen, soziale Beziehungen/Milieus. Dies führt zu Vereinzelung und äußert sich in (Selbst-)Ethnisierungsprozessen (dadurch werden Gewaltpotentiale gelenkt).
Heitmeyer:
Welches sind die Ursachen für die Zunahme der Anomie im Wirtschaftssystem und welche Konsequenzen ergeben sich daraus jeweils?
Im Wirtschaftsbereich:
- Standortkonkurrenz und damit einhergehender Druck zur Rationalisierung und Rentabilität in der Produktion.
- Die gesellschaftliche Anerkennung des Facharbeiterberufs nimmt ab.
- Es geht um Identitäten, Selbstbilder, deren Realisierung gesellschaftlich blockiert scheint.
Im politischen System:
- Regierung und Opposition verlieren an Vertrauen
- Auch andere politische Interessenvermittlungen wie Vereine, Kirchen und Verbände verlieren an Vertrauen und leiden unter Mitgliederschwund.
- Rebellische Unzufriedenheit der Bürger führt zu linken bzw. rechten Protestwahlen.
- Blanker Eigennutz und Tribalismus (Zugehörigkeitsmerkmale zu einer Gruppe) treten letztlich an die Stelle von Politik.
a) Die Zunahme der Anomie im Wirtschaftssystem kann mit den Folgen der globalisierten Märkte begründet werden, in dem die deutschen Produktionsprozesse nicht mehr konkurrenzfähig sind. Die Verlagerung zur Informationsgesellschaft geht mit einem „jobless growth“ (trotz Wirtschaftswachstum sinken die Beschäftigtenzahlen) einher, was erhöhte Arbeitslosigkeit zur Folge hat, da die Produktion ins Ausland verlegt wird. Am Beispiel der „Blaumann-Berufe“ wird die doppelte Entwertung erkennbar, deren Beschäftigungsbedingungen zunehmend prekär werden, zugleich verliert der Berufsethos des Facharbeiters seinen gesellschaftlichen Wert. Für die jüngere Generation wird der Automatismus des „Fahrstuhl-Effekts“ blockiert. Als Folge dieser Entwicklungen wird ein „Arbeiternationalismus“ festgestellt.
Beruflichkeit schafft nicht länger Selbstbewusstsein, Wohlstand und Sicherheit, sondern verliert an gesellschaftlicher Anerkennung und eröffnet nur mehr den Bereich minimal anspruchsvoller Tätigkeiten. Die Arbeiterschaft leidet unter sozialer Deprivation (Angst vor fremdländischen ArbeitsimmigrantInnen, der Fahrstuhleffekt wirkt nicht mehr). Zusätzlich scheint die soziale Identität eines Berufsstandes bedroht, da der Beruf das Selbstbild prägt, dieses kann jedoch gesellschaftlich nicht mehr realisiert werden.
Heitmeyer:
Welches sind die Ursachen für die Zunahme der Anomie im Politischen System und welche Konsequenzen ergeben sich daraus jeweils?
b) Die Ursachen für eine Zunahme der Anomie im politischen System liegen ebenfalls in den Folgen der Globalisierung. Volkswirtschaftliche Mehreinnahmen eines Staates fließen nicht länger in Form von Schutz-, Vorsorge- und Transferleistungen (Wohlfahrtsstaat) an die Bevölkerung zurück, sondern es erfolgt eine weltweite Verteilung. Dadurch sanken zwar in den letzten 10 Jahren die Steuereinnahmen aus Unternehmensgewinnen, während die Arbeitnehmerschaft steuerlich immer stärker belastet wurde. Erschwerend wirkt das Erreichen des Ziels Wirtschaftswachstum durch Rationalisierung in Betrieben (z.B. Abbau von Stellen), da damit neue Arbeitslose hervorgebracht wird, welche von staatlicher Unterstützung abhängig sind. Als Konsequenz nimmt das Vertrauen in die Politik ab und führt zu einer "reziproken Entfremdung" (gegenseitiges Unverständnis).
Ein Lösungsweg wären intermediäre Instanzen, wie Bürgergesellschaften oder kommunitaristische Bewegungen, die Volk und Politik einander näher bringen könnten, welche jedoch wenig ausgeprägt sind. Die Proteste des Volkes münden eher in Rebellion, rechter Protestwahl, Tribalismus (Abgrenzung, Ausbildung kleiner Gemeinschaften) und blanken Eigennutz.
Heitmeyer:
Was ist mit der Pluralisierung von Werten gemeint?
In der Nachkriegsgeneration waren materialistische Werte wie z.B. Fleiß, Disziplin, Bescheidenheit, Pflichterfüllung maßgeblich. Seit den 60er Jahren kann eine Pluralisierung der Werte beobachtet werden, es ändert sich die Haltung. Es dominieren entsprechend den gesellschaftlichen Entwicklungen post-materialistische und individualistische Werte wie z.B. Autonomie, Emanzipation, Genuss- und Selbstverwirklichung. Normative Orientierungen werden zunehmend abgelehnt, egozentrierte Wertorientierungen werden gemeinwohlorientierten vorgezogen. Sozial abweichend eingestuften Handlungen werden zur Selbstverständlichkeit (Aggression, Unhygiene in der Öffentlichkeit, usw...). Diese normative Anomie ("Wegschau-Gesellschaft", entsteht aus Angst vor körperlicher Verletzungen/Sanktionierungen) löste die Regulationskrise aus: Die Normabweichung im öffentlichen Raum steigt, während die informelle soziale Kontrolle in der Gesellschaft sinkt, die Gesellschaft bringt unzählige Lebensstile und Subkulturen hervor. Kontrolle und Sanktionen werden gleichzeitig für spezifische Normabweichungen in Subkulturen und Lebensstilgruppen verschärft.
Ulrich Beck: Risikogesellschaft
Durch welche Merkmale zeichnet sich der Übergang von der ersten in die zweite Moderne aus?
Unter der ersten Moderne ist die industriegesellschaftliche Moderne zu verstehen, welche in einem Prozess einfacher Modernisierung aus der Agrargesellschaft hervorgegangen ist. Den Übergang von der der ersten zur zweiten Moderne, also den Übergang in die Risikogesellschaft, bezeichnet er als reflexive Modernisierung
Passiert durch Eigendynamik der Industriegesellschaft, fortschreitende (reflexive) Modernisierung, Merkmale der zweiten Moderne zeigt sich am Reichtum und an Risiken.
Industriegesellschaft ist aufgrund der problematischen Nebenfolgen des Fortschritts mit sich selbst konfrontiert. der Übergang in die zweite Moderne zeichnet sich durch Reflexivität aus, weshalb auch von reflexiver Modernisierung gesprochen wird. Dies bedeutet, dass die ‚fortschrittliche‘ Gesellschaft sich auf sich selbst zurückbesinnt, denn der technische und wissenschaftliche Fortschritt ist nicht nur positiv für die Menschheit zu bewerten, sondern birgt auch unerwünschte und oftmals auf den ersten Blick nicht ersichtliche Nebenfolgen und Risiken.
Der Übergang passiert ungewollt, ungesehen (latent, im Verborgenen) und zwanghaft durch einen eigendynamisch verlaufenden Prozess, der den wissenschaftlich-technischen Fortschritt immer weiter vorantreibt.
Es gibt keinen Bruch, bei dem das Vorangegangene überwunden wurde (wie beim Übergang von der Agrargesellschaft zur ersten Moderne, der sich bewusst von der Tradition abwandte). Es kommt zu einer Weiterentwicklung der Wissenschaft und Technik in dem Sinne, dass - nachdem in der ersten Moderne der technische Fortschritt überhaupt erst möglich gemacht wurde, allerdings auch Risiken mit sich führte - nun in der zweiten Moderne wissenschaftliche Methoden und Verfahren entwickelt werden, um Risiken als solche zu erkennen und zu definieren. Somit wird auch die Wissenschaft reflexiv. Menschen der zweiten Moderne haben beim Übergang in diese den Glauben an die Technik und Wissenschaft keinesfalls verloren, sondern sind weiterhin der festen Überzeugung, dass sich jegliche Schwierigkeiten mit Technik und Wissenschaft überwinden lassen.
Was versteht Beck unter Modernisierungsrisiken?
Diese Risiken haben moderne Ursachen (im Gegensatz zu natürlichen Ursachen: Erdbeben, Flut etc.). Sie sind ein „Modernisierungsbeiprodukt“. Modernisierungsrisiken zeigen sich als Nebenfolgen industrieller Produktion. Sie sind Koproduktionen der Teilsysteme Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.
Kennzeichen von Modernisierungsrisiken:
Positiv bewertete Folgen der Modernisierung zeigen sich als Reichtum. Risiken, als negativ bewertete Folgen, stellen eine Bedrohung dar, die es möglichst zu vermeiden gilt. Negative Folgen der materiellen Güterproduktion bergen hohes Konfliktpotential. Die Forderung nach Sicherheit steht im Gegensatz zur Forderung nach Gleichheit in der Industriegesellschaft im Vordergrund. Risiken in der Industriegesellschaft betrafen hauptsächlich Arme. In der Risikogesellschaft betreffen Modernisierungsrisiken alle und erwischen früher od. später auch die, die sie herbeiführen oder von ihnen profitieren, erreichen also alle sozialen Schichten. In der Risikogesellschaft gibt es Forderungen nach Sicherheit von Gefährdungs- und Risikolagen (z.B. Smog ist demokratisch, alle können davon betroffen sein), denn sie fühlen sich durch die negativen Folgen der materiellen Güterproduktion bedroht und gefährdet. Modernisierungsrisiken sind global. Sie beschränken sich nicht auf Landesgrenzen. Weltrisikogesellschaft: Ökologische Gefährdungen (Abholzen von Regenwäldern, Schadstoffbelastung der Flüsse und Meere, Freisetzung von Radioaktivität,…) können beispielsweise jeden betreffen!. Sie sind latent. Um wahrgenommen zu werden, muss man sie erst definieren. Nur die Wissenschaft verfügt über die Definitionsmacht, Ursache-Wirkungs-Komplexe aufzudecken. Modernisierungsrisiken = vielschichtig (nur Fachleute können dies erklären), was die Gesellschaft abhängig von wissenschaftlichen Definitionen durch Experten macht. Das Wissen um Risiken erzeugt Betroffenheit, es bleibt allerdings zunächst ein abstraktes Wissen. Deshalb spricht Beck von Wissensabhängigkeit.
Modernisierungsrisiken sind abhängig von Massenmedien, über die Information verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden. Beck fällt auf, dass das Gefühl der Betroffenheit stärker bei Gruppen zu finden ist, die sich aktiv informieren und über bessere (Aus)bildung verfügen.
Wie lässt sich der Begriff der „Individualisierung“ charakterisieren?
Beck versteht unter Individualisierung die Herauslösung/Freisetzung des Menschen aus den Sozialformen der Industriegesellschaft (SB S. 19). Lebensformen der zweiten Moderne werden "enttraditionalisiert", d.h. Menschen sind nicht mehr traditionellerweise in Klassen, Familien und Geschlechterrollen eingebunden. Es fehlen feste soziale Strukturen und damit auch Bindung und Orientierung. Menschen sind daher für ihre Existenzsicherung, ihre Biographieplanung etc. selbst verantwortlich und vom Markt abhängig.
Entzauberungsdimension: Der Mensch wird aus eingebundenen Ritualen gerissen und muss sich neu finden, d.h. mehr auf sich Selbst gestellt und für sein Handeln auch verantwortlich. Dadurch verlieren wir an Orientierung und Risiken müssen die Akteure selber verantworten.
Individuen werden in zunehmendem Maße auf sich selbst gestellt bzw. müssen ihr Leben in eigener ‚Regie’ führen und ‚Sinn’ herstellen.
Welche Ursachen hat die Individualisierung nach U. Beck?
Als Ursache der Individualisierung kann angeführt werden, dass durch den wirtschaftlichen Aufschwung in den 50er-60er Jahren des letzten Jahrhunderts ein Fahrstuhl-Effekt nach oben erfolgte, was bedeutet, dass allgemein die Lebensbedingungen derart verbessert wurden, dass jedermann im Schnitt länger lebte, weniger arbeitete, aber mehr verdiente, und sich somit mehr leisten kann. Durch die Bildungsexpansion konnten immer mehr Menschen (v.a. Frauen) an immer besseren Bildungsangeboten teilnehmen. Die Mobilität (sowohl die räumliche als auch die soziale) stieg an..
Allgemein gilt: Je mehr Bildungsangebote vorhanden, desto größer ist auch die Wahlfreiheit und der Entscheidungszwang, je mehr Konsumgüter, desto mehr muss sich das Individuum entscheiden und das für ihn passende auswählen. Und je mehr Geld er hat, desto mehr kann er auch davon ausgeben für z.B. Bildung und Konsumgüter.
Ein Arbeiterkind konnte in der Industriegesellschaft durch die traditionale Bindung an Familie nur Arbeiterkind bleiben, in der zweiten Moderne hat es nun, z.B. durch BAföG (Stichwort: sozialrechtliche Versorgung), die Chance zu studieren und einen anderen, besseren bzw. besser bezahlten Weg einzuschlagen, als seine Eltern (Stichwort: soziale Mobilität).
Allerdings blieben trotz aller Verbesserungen und dem allgemeinen Mehr an Bildung, Recht, Mobilität, Wissenschaft, Einkommen und Konsum die sozialen Ungleichheitsrelationen größtenteils gleich. Auch die Ungleichheit zwischen Mann und Frau bleibt gleich, bzw. fällt noch mehr auf als zuvor.
Welche sozialen Folgen hat der Individualisierungsprozess?
Die Rahmenbedingungen bezüglich der Individualisierung verändern Lebenszusammenhänge (Klasse, Familie).
Die gesellschaftlichen Ungleichheitsrelationen bleiben trotz Fahrstuhleffekt bestehen. Die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen wird sichtbar. Frauen profitierten zwar durch die Bildungsexpansion in den 60er Jahren, jedoch auf dem Arbeitsmarkt sind sie weiter benachteiligt. Allerdings gelingt es Frauen, sich aufgrund der erlangten Bildung aus der Abhängigkeit/Versorgung durch Ehemänner zu lösen.
Aufgrund der beruflichen Mobilitätserfordernisse werden Partnerschaften zu Bindungen auf Zeit. Die Normalbiographie weicht einer "Bastelbiographie". Es entstehen neue Abhängigkeiten: das Individuum wird abhängig vom Arbeitsmarkt, der Bildung, von Konsumangeboten uvm.
Die Individualisierung bietet Chancen (Vielzahl an Wahlmöglichkeiten), jedoch damit verbunden auch den Entscheidungszwang und den Zwang zur Autonomie.
Jeder Mensch ist für sich selbst verantwortlich.
Was ist nach G. Schulze der zentrale gemeinsame Nenner der Lebensauffassung in unserer Gesellschaft?
Der zentrale gemeinsame Nenner ist die "Gestaltungsidee eines schönen, interessanten, subjektiv als lohnend empfundenen Lebens", womit. erlebnisorientiertes Handeln an Bedeutung gewinnt.
Welche beiden Entwicklungen führen zur Herausbildung der Erlebnisgesellschaft?
1. Faktor: Einerseits steigen die Einkommen bei gleichzeitig geringerer Arbeitszeit. Andererseits bietet der Markt eine Vielzahl an Waren und Dienstleistungen.
Schulze benennt diese beiden Entwicklungen als Veränderung des Verhältnisses von Subjekt und Situation.
....Grundlage ist die Mehrbedeutung des Lebensstandards...
2. Faktor: Im Wirtschaftssystems kam es zu einer Vervielfachung von Angeboten an Waren und Dienstleistungen, was zu einer riesigen Marktentwicklung führte und zur Dynamik für die Entwicklung einer Erlebnisgesellschaft beitrug!
Warum tritt nach Schulze unter den Bedingungen der Entgrenzung des Handelns die subjektiven Intentionen der Individuen stark in den Vordergrund?
Nicht nur Waren, auch Situationen werden frei wählbar (entgrenztes Handeln bzw. ist dem Individuum selbst überlassen, z.B. ob wann wie er sich bildet => Zunahme an Möglichkeiten. An die Stelle von Situationsarbeit tritt Situationsmanagement, da es gilt, aus den unzähligen Optionen auszuwählen Diese Entscheidungsprozesse werden von subjektiven Faktoren beeinflusst (individuelle Erfahrungen) und erfolgen nicht willkürlich, womit sie pfadabhängig sind und einem bestimmten Zweck folgen.
Warum kommt es nach Schulze zu einer Verschiebung von einer außengesteuerten zu einer innengesteuerten Orientierung?
Nach dem zweiten Weltkrieg bis in die 60er Jahre war das Leben der Menschen, ausgelöst durch die Bedingungen von Knappheit und Beschränkung, geprägt von nutzen- bzw. gebrauchs- und qualitätsorientierten Entscheidungen. So war ihnen wichtig, ob eine Ware objektiv betrachtet qualitativ gut oder schlecht ist, ob sie für den gewünschten Zweck „taugt“ oder nicht. Die Entscheidungen waren also primär außenorientiert, das Denken auf die Situation gerichtet.
Im Zuge der Entstehung der Erlebnisgesellschaft, ab den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts begannen die Menschen sich immer weniger stark an Kategorien wie Nutzen (wichtig/unwichtig), Qualität (gut/schlecht) oder Reichtum (viel/wenig) zu orientieren. Dies liegt u.a. darin begründet, dass
- es mit steigendem Wohlstand immer mehr Produkte gab, die für das ‚nackte‘ Überleben nicht mehr notwendig waren (= Kategorie Nutzen)
- durch neue und bessere technische Errungenschaften die Produkte allgemein so verbessert wurden, dass sie auf den ersten Blick von der Qualität her gar nicht mehr so unterschiedlich waren (= Kategorie Qualität)
- es den Menschen allgemein immer besser ging (= erhöhter materieller Lebensstandard) und sie somit dem sozialen Aufstieg nicht mehr eine solche Bedeutung beimaßen, als noch in der Zeit vor der Erlebnisgesellschaft. (= Kategorie Reichtum)
Was jetzt zählte, war der „psychophysische Akt des Erlebens“ von Produkten durch ihren Konsum. Durch die Entgrenzung der Situation, durch diese Vielzahl an Angeboten, aus denen man wählen kann, wurde das Denken nach innen auf die eigenen Ziele hin orientiert. Man konsumiert ein Produkt nun, weil es in einem selbst „Gefühle, psychophysische Prozesse, Erlebnisse“ auslöst.
Wodurch ist der Erlebnismarkt gekennzeichnet, d.h. welche Ziele verfolgen Konsumenten und Produzenten?
Erlebnismarkt:
Auf dem Erlebnismarkt treffen Erlebnisnachfrage und Erlebnisangebot zusammen. Der Markt erweist sich als Schnittstelle innenorientierter und außenorientierter Rationalitätstypen.
Die Produzenten, welche meist korporative Akteure sind, verfolgen ökonomische (außengerichtete) Interessen. Ihr Handeln im Konsum- und Freizeitmarkt zieht berechenbare Wirkungen nach sich. Ihr Ziel ist es, vielfältige Produkte (Erlebnisangebote) zu verkaufen.
Innenorientiertes Handeln ist im Gegensatz dazu von Konsumenten nicht plan-oder berechenbar. Das Ziel von Konsumenten ist, psychophysische Effekte durch den Kauf zu erzielen.
Aufgrund dessen entwickelt sich eine Dominanz der außenorientierten Rationalität. Die Interaktionen zwischen Produzenten und Konsumenten ist zunehmend von den Intentionen der Akteure entkoppelt.
Der Punkt wo sich Erlebnisnachfrage und Erlebnisangebot treffen nennt man Erlebnismarkt. An dieser Stelle wo sich auch beide Handlungstypen treffen. Daher wird der Erlebnismarkt auch als „Schnittstelle innenorientierter und außenorientierter Rationalitätstypen“ bezeichnet.
Worauf gründet innerhalb der Erlebnisgesellschaft, im Gegensatz zur trad. Gesellschaft, die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Großgruppen?
In der Industriegesellschaft war die Zugehörigkeit durch die soziale Lage bzw. durch die Lebensbedingungen geprägt. Durch die Differenzierung der Erwerbstätigkeit entsteht kein Gemeinschaftsgefühl und ein darauf basierendes spezifisches Kollektivbewusstsein mehr; es kommt aufgrund der allgemeinen Steigerung des Lebensstandards kein kollektives „Klassenbewusstsein“ mehr zustande. Soziale Bewegungen wie Bürgerinitiativen sind zwar einem spezifischen Milieu zugeordnet, aber nicht mehr einer bestimmten sozialen Lage, wie z. B. die Arbeiterbewegungen. In der Erlebnisgesellschaft bestimmt also nicht mehr die soziale Lage, d.h. die Situation, die Zugehörigkeit zu einer Großgruppe, sondern der persönliche Stil und damit der Akt des Konsumierens spezifischer Erlebnisangebote. Die sich aus den alltagsästhetischen Schemata herausbildenden sozialen Milieus sind nun behilflich bei der Orientierung des Einzelnen: aus der Menge der Produktangebote kann nun das ausgesucht werden, was die den einzelnen umgeben Menschen auch konsumieren. Die Sozialstruktur der Erlebnisgesellschaft ist so eng mit dem Erlebnismarkt verbunden: an die Stelle einer „Gemeinsamkeit des Zweckmäßigen“ ist eine „Gemeinsamkeit des Zweckfreien“ getreten. Aufgrund des Wechsels von der Außenorientierung zur Innenorientierung zerfiel also das alte Gesellschaftsbild und die Einordnung der Akteure veränderte sich. Zentrale Kategorien waren nun Denk- und Handlungsmuster beim Gefüge der Milieus und dessen Einordnung: Anhand von Zeichen und Bedeutungen ordnen sich Menschen Gruppierungen zu. Akteure verorten sich selbst und andere über die Feststellung von Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit. Zu den leicht dekodierbaren Zeichen gehören der persönliche Stil, das Alter (Kohortenzugehörigkeit, Lebenszyklus), die Bildung und die Art und Weise des Situationsmanagements. Diese Zeichenbündel lassen sich zu bestimmten Erlebnisroutinen fassen, wozu Schulze den Begriff der alltagsästhetischen Schemata prägt (intersubjektive Muster von „Zeichen-Bedeutungs-Verbindungen). Die Milieusbestimmung erfolgt nun durch Nähe-Distanz-Relationen.
Wie definiert Schulze den Begriff des „sozialen Milieus“?
Soziale Milieus zeichnen sich laut Schulze durch typische Existenzformen und eine erhöhte Binnenkommunikation aus. Einzelnen Akteure verorten sich über die Feststellung von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit statt. Ausschlaggebend dafür sind folgende dekodierbare Zeichenkategorien:
- persönlicher Stil,
- Alter,
- Bildung,
- Art und Weise des Situationsmanagements (gebündelt mittels alltagsästhetischer Schemata; Mit wem lebt der andere zusammen, wo wohnt er,...)
Schulze verknüpft diese Zeichen und ordnet sie bestimmten Erlebnisroutinen zu, aus denen er dann alltagsästhetische Schemata herauskristallisiert.
Welche alltagsästhetischen Schemata unterscheidet Schulze und welche Milieus leitet er daraus ab?
Schulze unterscheidet Hochkultur-, Trivial- und Spannungsschema. Die Zugehörigkeit zu einem Milieu lässt sich aus Nähe/Distanz zu diesen Schemata ermitteln unter Berücksichtigung der Variablen Alter, Bildung und Lebensstil.
Niveaumilieu - Nähe zu Hochkulturschema: Lesen überregionaler Zeitungen, klassische Musik dominiert, Genuss von Hochkultur (Theater, Oper, Museum etc.), kontemplativer Genuss, Streben nach Distinktion, Nähe zu Bildungsbürgertum...
Harmoniemilieu - Nähe zu Trivialschema: Nähe zu Arbeiterschicht, Zeitungen der Regenbogenpresse, Bestsellerromane, Unterhaltungsmusik, Heimat- und Naturfilme, Game-Shows, Harmonie = Lebensphilosophie, Anti-Exzentrizität.
Integrationsmilieu - Nähe zu Hochkultur- und Trivialschema: Distanz zu Spannungsschema, Merkmale von Niveau - und Harmoniemilieu fließen ineinander
Selbstverwirklichungsmilieu - Nähe zur Hochkultur- und zum Spannungsschema: Klassik und Rockmusik, Kino und Museen, Abstand von Trivialen und Konventionellen, Lebensphilosophie ist Perfektionismus und Narzissmus.
Unterhaltungsmilieu - Nähe zum Spannungsschema: Action als Genussform, Konsum von Erlebnisangeboten mittels Unterhaltungsmaschinen
Welche Unsicherheiten birgt die Erlebnisgesellschaft?
Der Erlebnismarkt soll mit seinen Produkten subjektive Erwartungen (Erlebnisse) erfüllen. Wie kann man Erlebnisse nach den ökonomischen Kategorien (Nutzen, Qualität, Reichtum) bewerten? Erlebnisse sind nicht kommunizierbar. Ob ein Erlebnis innere Prozesse aktiviert (Nutzen) und intensiviert (Qualität), ist nur subjektiv beurteilbar.
Die Kategorie Reichtum schafft einen Gewöhnungseffekt, da das "Neue" nicht mehr befriedigen kann und daher Erlebnisse kumuliert werden, was wiederum zu einer Erlebnisverarmung führt.
Eine weitere Unsicherheit ist die Tatsache, dass von den Anbietern Erlebnisse versprochen werden und die Abnehmer diesen Versprechungen glauben müssen, um die Wirkungen zu erleben (Autosuggestion). Damit einher geht jedoch die Enttäuschung bezüglich gezielt erzeugte Illusionen.
Was ist bei Gross mit ‚Steigerung der Optionen’ und ‚Steigerung der Teilhabe’ im Zusammenhang mit der Multioptionsgesellschaft gemeint?
In seinem Werk „Die Multioptionsgesellschaft“ (1994) spricht Gross vom Mehrgott; damit ist der Drang nach Mehr und Besserem, der den Menschen innewohnt, gemeint. Viele Menschen der Moderne glauben fest daran, dass es hinter allem ein Mehr und ein Besseres gibt, das nur darauf wartet in die Tat umgesetzt zu werden und dass jeder ein Recht hat, es für sich einzufordern. Das glauben sie, weil ihnen das von einigen wenigen suggeriert wird. Unterstützt wird dieser Glaube durch die Offenheit der Gesellschaft, aus der die Menschen der Moderne ableiten, dass alles allen offensteht und nichts unmöglich ist. Die Entscheidung für eine Option bedeutet, eine andere noch nicht verwirklicht zu haben, womit alle Möglichkeiten des Erlebens, Handeln und Lebens gesteigert werden. Gross spricht daher von Optionensteigerung bzw. einer Multioptionsgesellschaft.
Die STEIGERUNG ist das Programm der Multioptionsgesellschaft, die an den Mehrgott glaubt. Mit „Steigerung der Optionen“ ist in diesem Zusammenhang eine Steigerung der Handlungsmöglichkeiten (1) gemeint – alle Möglichkeiten des Erlebens, Handelns und Lebens werden gesteigert - und mit ‚Steigerung der Teilhabe‘ die Teilhabe an den eröffneten Handlungsmöglichkeiten (2), die zumindest minimal garantiert wird (3). Die Punkte 1-3 bilden das „Dreipunkteprogramm der Moderne“. Damit geht in einer offenen Gesellschaft der gleiche Anspruch auf gleiche Teilhabe an allen Optionen einher. Die Steigerung der Optionen und die Steigerung der Teilhabe ist in diesem Sinne voneinander abhängig.
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