FUH SS15
Kartei Details
Karten | 80 |
---|---|
Sprache | Deutsch |
Kategorie | Psychologie |
Stufe | Universität |
Erstellt / Aktualisiert | 02.08.2015 / 22.08.2015 |
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spezifische Beispiele und die Generalisierung theoretischer Modelle
Allerdings erweist sich bei einer solchen Respezifizierung nicht selten, dass
das abstrakte Modell nicht vollkommen passt, sondern ein wichtiger Aspekt
dieses anderen konkreten Falles darin unberücksichtigt bleibt. So sind die Exit-
Optionen beider Akteure in Ehekonflikten sehr viel höher, als sie beim Wett-
rüsten für die Großmächte waren. Eheleute können sich scheiden lassen und
einander fortan aus dem Weg gehen, und sie können einander damit drohen:
Das macht einen erheblichen Unterschied für den Konfliktverlauf. Diese partiell
mangelnde Passgenauigkeit des abstrakten Modells ist aber dann kein Nach-
teil, wenn man aus der Not der Einpassung eine Tugend macht, nämlich fortan
das abstrakte Modell in zwei Varianten differenziert: Konflikteskalationen in
Dyaden mit und ohne Exit-Optionen. Man erkennt hier ein die Theorieentwick-
lung förderndes Wechselspiel zwischen empirischen Fällen und abstrakten
Modellen.
offene Strukturdynamiken
Beispiele: Cortez und Kernforschung in Deutschland nach 1950
Auch diese Strukturdynamik ergab sich aus „... Gemengelagen von Hand-
lungen, die in sich jeweils plausibel sind, aber in ihrem Gemenge nicht mehr
der Rationalität eines übergeordneten Handlungs- oder Systemzusammen-
hangs gehorchen.“ (Lübbe 1973: 156) Das handelnde Zusammenwirken der
jeweiligen Akteure war in beiden Beispielen weder planvoll, also intentional
aufeinander abgestimmt, noch erfolgte eine Abstimmung durch strukturelle
Mechanismen „hinter dem Rücken“ der Beteiligten. In beiden Fällen regierte
der Zufall. Genau deshalb waren diese Strukturdynamiken selbst für einen
kundigen Beobachter oder Beteiligten nicht voraussagbar, sondern ließen sich
erst im Nachhinein in ihrer Verkettung von Ursachen und Wirkungen erzählen.
Es handelte sich um offene soziale Dynamiken in dem Sinne, dass die kausa-
len Determinanten der strukturellen Effekte unabhängig voneinander wirkten,
ihr Zusammenwirken also koinzidenziellen Charakter besaß.
„Cournot-Effekte“
Raymond Boudon (1984: 173-179) bezeichnet solche Vorgänge als „Cour-
not-Effekte“. Das Standardbeispiel ist das Ereignis, dass der Wind einen
Dachziegel genau in dem Moment löst, in dem auf dem Bürgersteig vor dem
Haus ein Passant vorbeigeht, dem der Ziegel dann auf den Kopf fällt. Dass die
in sich sehr komplexe Kausalreihe „Wind löst Dachziegel“ und die ebenso
komplexe Kausalreihe „Mann geht den Bürgersteig entlang“ sich so miteinan-
der verzahnen, dass das Ergebnis „Dachziegel fällt dem Mann auf den Kopf“
herauskommt, ist ein kontingentes Ereignis. Es ist weder unmöglich noch
zwangsläufig. Manchmal sind „Cournot-Effekte“ hochgradig unwahrscheinlich.
In anderen Fällen können sie auch mehr oder weniger wahrscheinlich sein.
Ein Beispiel wäre auch ein demokratisches Regierungssys-
tem, dessen Verfassung eine Regelung für den staatlich erklärten Notstand
enthält, die dem Staatspräsidenten in einer solchen Situation sachlich und zeit-
lich uneingeschränkte diktatorische Vollmachten einräumt. Dann ist es nur
eine Frage der Zeit, bis erstens ein derartiger Notstand eintritt und zweitens
dann auch ein Staatspräsident da ist, der die ihm plötzlich zugewachsene le-
gale Macht zur dauerhaften Beseitigung der Demokratie missbraucht.
Sozialität wimmelt von „Cournot-Effekten“
Für die großen gesellschaftli-
chen Ereignisse erweist das jeder Blick in Geschichtsbücher oder in die Ta-
geszeitung. Aber auch die kleinen Alltagserfahrungen, die jeder Einzelne
macht, zeigen das gleiche Bild. Dass ich morgens dieses und kein anderes
Hemd anziehe, liegt vielleicht daran, dass meine Frau es aus dem Schrank
gehängt hat - nicht, damit ich es anziehe, sondern weil sie bemerkt hat, dass
daran ein Knopf fehlt, den sie annähen wollte, wovon sie aber durch einen
Telefonanruf abgehalten wurde und was sie dann vergaß. Dem soziologischen
Beobachter des handelnden Zusammenwirkens von Akteuren bleibt oft genug
nichts anderes übrig, als „giving disorder its due“ (Boudon 1984: 180). Es
könnte sogar sein, dass mit der zunehmenden Komplexität der modernen Ge-
sellschaft „Cournot-Effekte“ immer häufiger auftreten und immer weittragender
sind. Zunehmende Differenzierung der Gesellschaft mit entsprechend größe-
rer Dichte und wachsender Länge von Interdependenzketten, dazu eine höhe-
re Geschwindigkeit sozialen Wandels: Unter diesen Bedingungen könnte es
immer wahrscheinlicher werden, dass sich Unwahrscheinliches ereignet, also
voneinander unabhängige Handlungsvollzüge sich unerwartet verkoppeln und
immer wieder höchst kuriose strukturelle Effekte hervorbringen.
geschlossene Strukturdynamiken
Wenn allerdings alle sozialen Strukturdynamiken vollständig offen wären,
könnte man die Soziologie gleich abschaffen. Denn dann müsste man sich
damit begnügen, diese Dynamiken im Nachhinein erzählend darzulegen, wie
es die Geschichtswissenschaft tut. Als eine Wissenschaft, die für ihre Erklä-
rungsleistungen generelle theoretische Modelle benutzt, kann die Soziologie
erst in dem Maße zum Einsatz kommen, wie es neben den offenen auch ge-
schlossene soziale Strukturdynamiken gibt.
Was diese soziale Strukturdynamik von den beiden Beispielen für offene
Dynamiken unterscheidet, ist die zirkuläre Kausalität zwischen den beiden
Handlungsketten der Vereinigten Staaten auf der einen und der Sowjetunion
auf der anderen Seite. Die zwei Kausalreihen laufen nicht unabhängig neben-
einander her, um sich dann lediglich punktuell miteinander zu verbinden; son-
dern es besteht eine fortdauernde kausale Wechselwirkung. Das Handeln der
einen Seite ruft ein Handeln der anderen Seite hervor, das wiederum erstere
zur Fortsetzung ihres Handelns nötigt, usw.
geschlossene Dynamik
Beispiel Wettrüsten
Dies ist noch ein sehr einfaches Beispiel für eine geschlossene Dynamik,
da nur zwei Akteure beteiligt sind und auf beiden Seiten jeweils das gleiche
Handeln stattfindet. Die zirkuläre Kausalität kann auch über mehr Stationen
verlaufen, beispielsweise fünf Akteure einbeziehen, so dass der erste mit sei-
nem Handeln ein bestimmtes - nicht notwendig gleiches - Handeln des zweiten
hervorruft, dieser entsprechendes beim dritten, dieser beim vierten und der
beim fünften auslöst; und das Handeln des fünften bestärkt dann wiederum
den ersten in genau dem Handeln, das den zweiten auf seiner Handlungslinie
hält. Entscheidend ist die Geschlossenheit des Zusammenhangs der Hand-
lungsauslösung auf Seiten der beteiligten Akteure.
Die kausale Geschlossenheit einer solchen Dynamik bedeutet zunächst
einmal für die involvierten Akteure selbst, dass sie in der Lage sind, im Zeitver-
lauf das Muster der kausalen Wechselwirkung zwischen ihren jeweiligen
Handlungen zu erkennen und auch einen Blick für die daraus hervorgehenden
strukturellen Effekte zu bekommen. Wie sich das Wettrüsten vollzog und wel-
che Auswirkungen auf internationale und nationale Konstellationsstrukturen es
hatte, war den politischen und militärischen Entscheidungsträgern in den Ver-
einigten Staaten und der Sowjetunion sehr schnell, wenn nicht sogar von An-
fang an klar. Die Regelmäßigkeit des Verlaufs und seiner Ergebnisse ermög-
licht das Erkennen des zugrunde liegenden Kausalmusters und dann sogar
eine relativ sichere Vorhersage des zukünftigen Geschehens. Geschlossene
soziale Strukturdynamiken sind in diesem Sinne überraschungsfrei für die Be-
teiligten - ganz im Gegensatz zu den offenen Dynamiken.
Verwobenheit offener und geschlossener Dynamiken
Die Unterscheidung offener und geschlossener sozialer Strukturdynamiken
spannt analytisch ein Kontinuum auf. Jede konkrete Strukturdynamik lässt sich
zwischen den beiden Polen als eher offene oder eher geschlossene Dynamik
verorten. Offenheit und Geschlossenheit von Dynamiken sind also zwar analy-
tische Kontraste. In der sozialen Wirklichkeit sind beide Arten von Dynamik
aber auf mehrere Weisen miteinander verwoben:
Offene Dynamiken können in geschlossene übergehen.
Geschlossene Dynamiken haben einen Unterbau an offenen Dynamiken.
Geschlossene Dynamiken können in offene übergehen.
Offene Dynamiken können in geschlossene übergehen.
Offene Dynamiken können in geschlossene übergehen. Beispielsweise ging
die Bipolarität der internationalen Beziehungen nach dem Zweiten Welt-
krieg, die das Wettrüsten bestimmte, aus einer viel zerklüfteteren Konstella-
tionsstruktur von Staaten hervor. Ursächlich für das Entstehen der Bipolari-
tät war der deutsche Nationalsozialismus, der während des Weltkriegs die
Westalliierten erst zusammenschweißte und durch seine militärische Nie-
derlage auch dazu führte, dass die Sowjetunion sich ihre mittel- und osteu-
ropäischen Trabantenstaaten zulegen konnte.
Geschlossene Dynamiken haben einen Unterbau an offenen Dynamiken
Geschlossene Dynamiken haben einen Unterbau an offenen Dynamiken.
Das Wettrüsten - um das Beispiel fortzuführen - setzt u.a. voraus, dass auf
beiden Seiten dauerhaft die erforderlichen Ressourcen für das Militär mobi-
lisiert werden können. Die zirkuläre Kausalität kann nur solange wirken, wie
ihr eine davon unabhängige Kausalität gewissermaßen die nötige Energie
zuführt. In dem Moment, in dem eine von beiden Seiten aus Ressourcen-
gründen nicht mehr mithalten kann, bricht die Eskalationsdynamik des
Wettrüstens zusammen. Vielleicht haben ja die immens ressourcenaufwen-
digen „Star Wars“-Programme der Vereinigten Staaten in den 1980er Jah-
ren tatsächlich die Sowjetunion, die mithalten musste, nicht militärisch, son-
dern wirtschaftlich und damit politisch in die Knie gezwungen; und womög-
lich war das sogar das Kalkül mancher amerikanischer Politiker.
Geschlossene Dynamiken können in offene übergehen
Geschlossene Dynamiken können in offene übergehen. Als der „Kalte
Krieg“ mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus Ende
der 1980er Jahre aufhörte, entwickelte sich die weltpolitische Bipolarität
wieder in eine viel zersplittertere Konstellationsstruktur zurück. Viele Kon-
fliktlinien, die zuvor durch die bipolare Eskalation überdeckt und neutralisiert
worden waren, brachen neu auf; und es entstand Raum für zahlreiche kau-
sale Koinzidenzen. Die Ereignisse im früheren Jugoslawien ebenso wie vie-
le kriegerische Auseinandersetzungen in Afrika stellen dafür Beispiele dar.
Verwobenheit offener und geschlossener Dynamiken
Probleme
Für die Soziologie, die auf eine Geschlossenheit sozialer Strukturdynamiken
angewiesen ist, um ihre theoretischen Modelle zunächst auffinden und dann
zum Einsatz bringen zu können, bedeuten diese teils sequentiellen, teils simul-
tanen Verknüpfungen geschlossener mit offenen Dynamiken, dass jede sozio-
logische Erklärung einer Strukturdynamik zwangsläufig gewissermaßen lose
Fäden enthält. Ein in sich geschlossener Kausalzusammenhang hat ja den
Vorteil, dass er gedanklich vollständig durchschritten werden kann. Nichts
bleibt unerklärt. Das Aufrüsten der Amerikaner erklärt das Aufrüsten der Sow-
jetunion und umgekehrt. Offene Dynamiken zerfleddern hingegen in ausei-
nanderdriftende Kausalreihen, die eben nur an einem einzigen Punkt - und das
auch nur koinzidentiell - zusammengehalten werden. Jede dieser Kausalreihen
könnte prinzipiell einen unendlichen Regress von Erklärungen nach sich zie-
hen, und die historische Nacherzählung zieht allenfalls pragmatische Schluss-
striche. Da aber jede geschlossene Dynamik sozusagen nach hinten, nach
unten und nach vorn in offene Dynamiken eingebettet ist, sind auch soziologi-
sche Erklärungen konkreter sozialer Strukturdynamiken durch historische Er-
zählungen gerahmt. Diese Erzählungen steuern gewissermaßen die erklä-
rungsnotwendigen Randbedingungen dazu bei, dass eine bestimmte ge-
schlossene Dynamik entsteht, eine Zeitlang fortbesteht und dann früher oder
später wieder vergeht. Soziologisch fassbare soziale Strukturdynamiken sind
somit immer nur Episoden im breiten Strom der Geschichte, der sich überwie-
gend aus offenen Dynamiken zusammensetzt.
Grenzen der Theoretisierbarkeit von Strukturdynamiken
Aus dieser Einsicht hat die Soziologie vor allem eine Lehre zu ziehen: Sie soll-
te sich davor hüten, längerfristige kategorische Aussagen über die Dynamik
einer bestimmten sozialen Struktur zu machen - ob es nun um eine Ehe oder
die Weltgesellschaft geht.
Insbesondere die soziologische Gesellschaftstheorie ist seit den Zeiten der
Klassiker bis heute immer wieder der Versuchung erlegen, das Erbe der Ge-
schichtsphilosophie anzutreten und übergreifende Gesetzmäßigkeiten der ge-
sellschaftlichen Entwicklung zu formulieren - als ob man nicht wüsste, wie
kläglich die Geschichtsphilosophie mit dergleichen Unternehmen gescheitert
ist. So behauptete etwa Karl Marx, dass der Kapitalismus zwangsläufig in im-
mer tiefere Krisen hineinrutsche, bis er schließlich auf revolutionärem Wege
durch den Sozialismus abgelöst werde; und die soziologische Modernisie-
rungstheorie ging davon aus, dass sich die gesamte Welt auf den westlichen
Modernisierungspfad begeben werde, bis überall ähnliche gesellschaftliche
Verhältnisse wie in den Vereinigten Staaten herrschen würden.
Der grundlegende Fehler einer solchen soziologischen Hybris
Der grundlegende Fehler einer solchen soziologischen Hybris besteht darin, eine be-
stimmte geschlossene Strukturdynamik isoliert zu betrachten. 139 Einmal vor-
ausgesetzt, die betreffende geschlossene Strukturdynamik sei zutreffend mo-
delliert, ist es aber völlig irreal, ihre mannigfaltigen Einbettungen in offene Dy-
namiken zu ignorieren. Denn je nach dem, wie diese offenen Dynamiken ver-
laufen, kann die geschlossene Dynamik prinzipiell jederzeit aus ihrer scheinbar
so vorherbestimmten Bahn geworfen werden - und zwar in alle möglichen
Richtungen. Soziologische Erklärungen sind daher stets mit einer einschrän-
kenden Klausel zu versehen. Das jeweilige theoretische Modell einer Struktur-
dynamik ist nur so lange gültig, wie die äußeren Umstände so beschaffen sind,
dass sie die betreffende zirkuläre Kausalität tragen - wobei es einer soziologi-
schen Erklärung niemals möglich sein wird, sämtliche dieser ceteris-paribus-
Klauseln zu explizieren.
Diese Selbstbescheidung ist im Übrigen keineswegs nur Soziologen und anderen Sozialwissenschaftlern auferlegt
Beispiel Popper Apfel
Auch Naturwissenschaftler können also, recht besehen, bei der Erklärung
konkreter empirischer Vorgänge nichts anderes tun, als eine mehr oder weni-
ger große Anzahl unterschiedlicher Gesetze fallweise miteinander zu kombi-
nieren - wobei es kein Metagesetz gibt, das Regeln für die richtige Kombinati-
on vorgibt. Diese ergibt sich vielmehr aus der Beschaffenheit des jeweiligen
Untersuchungsgegenstandes und der Selektivität des auf ihn gerichteten wis-
senschaftlichen Erkenntnisinteresses. Denn der konkrete Naturvorgang stellt
eben auch nur teilweise eine gesetzmäßig erfassbare geschlossene Dynamik
dar, weil diese in offene Dynamiken eingelagert ist. Auch der Naturwissen-
schaftler muss, wenn er zum Beispiel den Sauren Regen oder das Ozonloch
erklären will, theoretische Modelle - oftmals mehrere, die noch dazu aus unter-
schiedlichen Disziplinen stammen - erzählend miteinander verknüpfen.
Intentionsinterferenzen und die Transintentionalität des Sozialen
Im zweiten Erklärungsschritt muss das Problem bearbeitet werden, wie aus
dem Handeln der Akteure über die „Logik der Aggregation“
die sozialen Strukturen zustande kommen. Nun geht es also umgekehrt
darum, Handeln als unabhängige Variable zu nehmen und soziale Strukturen
zur abhängigen Variable zu erklären - genauer: die strukturellen Effekte, die
das handelnde Zusammenwirken mehrerer Akteure hat. Damit wendet man
sich den bereits im ersten Kapitel angesprochenen „Verwicklungen“ der Hand-
lungszusammenhänge zu, in denen sich die Akteure miteinander befinden und
aus denen die sozialen Phänomene hervorgehen.
„Logik der Aggregation“
Es geht in der „Logik der Aggregation“ beim handelnden Zusammenwirken
also um die Wirkungen, die ein bestimmtes Handeln im Aufeinandertreffen mit
anderem Handeln hat. Die soziologisch hier interessierenden Handlungswir-
kungen bestehen aus drei Arten von Struktureffekten: dem Aufbau, dem Erhalt
und der Veränderung von sozialen Strukturen.
statisch und dynamisch
Dass Aufbau und Veränderung etwas Dynamisches sind und einen erklä-
rungsbedürftigen Wandel sozialer Strukturen mit sich bringen, leuchtet ohne
weiteres ein. Dementsprechend ist „sozialer Wandel“ eines der wichtigsten
Themen der Soziologie in einer sich beständig verändernden modernen Ge-
sellschaft. Die Beschäftigung mit sozialem Wandel wird oft als Spezialgebiet
soziologischer Theoriebildung angesehen, verbunden mit der Annahme, dass
dazu ganz eigene theoretische Modelle benötigt würden. Das liegt daran, dass
- auch in der Soziologie - oft in einem falschen, gegensätzlichen Verständnis
von Dynamik und Statik gedacht wird. Wenn etwas gleich bleibt, wird es als
statisch bezeichnet, und bedarf dann scheinbar keiner Erklärung aus den Dy-
namiken handelnden Zusammenwirkens. Aber, paradox formuliert: Auch die
Statik ist dynamisch. Wenn zum Beispiel die Einkommensverteilung in der
Bundesrepublik über Jahrzehnte dieselbe bleibt; wenn viele Worte und Rede-
wendungen der Sprache unverändert immer weiter benutzt werden; wenn die
meisten Teilnehmer eines Seminars sich jede Woche auf dieselben Plätze
setzen; oder wenn ein bestimmtes Gesetz über Jahrzehnte unrevidiert Gültig-
keit behält: Auch diese identischen Reproduktionen sozialer Strukturen müs-
sen aus dem handelnden Zusammenwirken erklärt werden.
Dynamik der „structuration“
Schon Anthony Giddens’ bereits im Kapitel 1.2 angesprochenen theoreti-
schen Vorstellungen über die „duality of structures“ betonen, dass alle sozialen
Strukturen, ob sie gleich bleiben oder sich verändern, auf einer beständigen
Dynamik der „structuration“ beruhen. Eines seiner Beispiele ist die Sprache:“...
one of the recurrent consequences of my speaking or writing English in a cor-
rect way is to contribute to the reproduction of the English language as a who-
le.“ (Giddens 1984: 8) Georg Simmel (1917: 39) war sich dieses Tatbestandes
ebenfalls sehr bewusst: „Gesellschaft ist ... keine Substanz, ... sondern ein
Geschehen, ist die Funktion des Empfangens und Bewirkens von Schicksal
und Gestaltung des Einen von Seiten des Andern.“
„Etablierten-Außenseiter-Beziehungen“
Bei Norbert Elias (Elias/Scotson 1990) findet sich die Betrachtung von „Eta-
blierten-Außenseiter-Beziehungen“, etwa alteingesessenen Bewohnern eines
Stadtviertels und neu hinzukommenden sozialen Gruppen, zum Beispiel aus-
ländischen Arbeitern mit ihren Familien. Manchmal ist es so, dass solche an-
fänglichen „Außenseiter“ nach einiger Zeit das Stadtviertel übernehmen, also
die ehemals „Etablierten“ nach und nach wegziehen, so dass die soziale
Struktur sich in Gestalt eines Austausches der „Etablierten“ verändert. Das
muss aber nicht so sein. Elias hat auch stabil bleibende „Etablierten-
Außenseiter-Beziehungen“ untersucht. Stabilität heißt hier nämlich nichts an-
deres, als dass die „Etablierten“ beständig durch bestimmte Handlungsmuster
und Strategien ihren Status aufrecht erhalten müssen, weil man davon ausge-
hen kann, dass die „Außenseiter“ als Benachteiligte in einer solchen Konstella-
tion sich immer wieder bemühen werden, diese Benachteiligung zu verringern.
Das Konstellationsgleichgewicht - wenn es eines gibt - beruht also darauf,
dass kontinuierlich Kräften, die es verschieben wollen, andere Kräfte entge-
gengesetzt werden. Es ist also kein statisches, sondern ein dynamisches
Gleichgewicht.
Intentionsinterferenzen
Ausgangspunkt der Analyse des handelnden Zusammenwirkens ist jetzt al-
so, was die Akteurmodelle im Einzelnen darlegen: dass Akteure normkonform,
nutzenverfolgend, emotionsgetrieben oder identitätsbehauptend handeln. Die
je spezifischen Ausprägungen dieser vier Arten von Handlungsantrieben bil-
den die situativen Intentionen der Akteure. Und die Handelnden haben in ihrer
jeweiligen Handlungssituation im Grunde natürlich die Erwartung, dass sich
ihre Intentionen erfüllen. Niemand würde - aus welchem der Handlungsantrie-
be heraus auch immer - in eine bestimmte Richtung handeln, wenn er oder sie
von vornherein davon ausginge, dass etwas schief geht oder sich die Intention
sowieso nicht erfüllen wird.
Doch was passiert, wenn die Intentionen der Akteure aufeinander treffen?
In dem Moment bestehen zwischen den Akteuren Intentionsinterferenzen -
womit noch nicht gemeint ist, dass ihre Intentionen notwendig konkurrieren
oder unvereinbar sind, sondern zunächst nur, dass ihre Intentionen sich über-
lagern und gegeneinander stehen, allein dadurch, dass die Akteure einander
in die Quere kommen.
Intentionsinterferenzen
bei den 4 Akteuren
Dies wurde im Zusammenhang mit dem sozialen Handeln des Homo Oe-
conomicus als Interdependenzbewältigung angesprochen. Normorientiertes,
emotionales oder identitätsbehauptendes Handeln gerät freilich genauso
schnell in Intentionsinterferenzen. Schon die Überwachung der Normkonformi-
tät eines Akteurs durch seine jeweilige Bezugsgruppe weist auf eine solche
Interferenz hin. Verletzt der Akteur die normativen Erwartungen, greift die Be-
zugsgruppe durch Sanktionen ein. Dass die Bezugsgruppe dann, wenn ihren
normativen Erwartungen entsprochen wird, nicht weiter eingreift, sondern den
Handelnden gewähren lässt, ist eines der wichtigsten Beispiele für den in Ka-
pitel 2 angesprochenen Sachverhalt, dass auch Unterlassen Handeln sein
kann- und eine Intentionsinterferenz ist hier genauso gegeben. Dramatisch
augenfällig werden Intentionsinterferenzen normorientierten Handelns dann,
wenn der Akteur Intra-Rollenkonflikten ausgesetzt, also mit rivalisierenden
Erwartungen verschiedener Bezugsgruppen konfrontiert ist. Weitere Intenti-
onsinterferenzen können bei normorientiertem Handeln daraus entstehen,
dass Akteure Kooperationsnormen unterliegen, also dazu angehalten werden,
in bestimmter Weise mit anderen zusammenzuwirken. Emotiona-
les Handeln kann Intentionsinterferenzen hervorrufen, wenn der Gefühlsaus-
bruch eines Akteurs andere stört oder umgekehrt andere den betreffenden
Akteur daran hindern, seine Gefühle auszuleben. Das Ausleben mancher Ge-
fühle bedingt oder erstrebt auch ein gefühlsmäßig gleichgestimmtes Handeln
anderer Akteure, sozusagen emotionale Kooperation. So will, wer jemanden
liebt, von diesem wiedergeliebt werden. Ähnliche Arten von Interferenzen fin-
det man schließlich auch bei identitätsbehauptendem Handeln.
„Einsamkeit und Freiheit“
Klar ist jedenfalls: Bei kaum einem Handeln ist ein Akteur in
dem Sinne unabhängig von anderen, dass diese handeln könnten, wie immer
sie wollten, ohne dass ihn dies bei der Verfolgung seiner Intentionen tangierte.
Gerade auch „Einsamkeit und Freiheit“ bedarf sozial arrangierter und damit
auch verletzbarer Abschirmung. Wenn man nicht auf einer Insel für sich allein
lebt, hängt man zumindest von der Nicht-Einmischung anderer ab, um wenigs-
tens gelegentlich genau das tun und lassen zu können, was man selbst will.
Wann eigentlich ist jemand ganz und gar ungestört? Er ist es jedenfalls dann
nicht, wenn er sich zum Beispiel zurückgezogen hat, um in Ruhe ein Buch zu
lesen, und plötzlich gewahr wird, wie in der Wohnung über ihm laute Musik
angestellt wird. Dieses Beispiel zeigt im Übrigen auch, dass Intentionsinterfe-
renzen nicht unbedingt von Anfang an wechselseitig sein müssen. Der Buch-
leser stört den Musikhörer zunächst nicht.
Intentionsinterferenzen, wie sie sich aus dem Aktiv- oder dem Unterlassungshandeln Anderer ergeben können
Jemand handelt also, und dabei bemerkt er früher oder später, schon bei
der Planung seines Tuns oder erst im Vollzug, dass er zur Erreichung seiner
Intention die Unterstützung Anderer benötigt; und diese Unterstützung wird
ihm nicht selbstverständlich gewährt, sondern kann auch ausbleiben, weil ein
entsprechendes Handeln nicht ohne weiteres in den Intentionen der betreffen-
den Anderen liegt. Oder ein Akteur wird gewahr, dass die Realisierung seiner
Intentionen davon abhängt, dass Andere ihn nicht stören; und auch das ist
nicht selbstverständlich, weil sich solche Störungen - ohne als solche beab-
sichtigt zu sein - aus den Handlungsabsichten der anderen ergeben können.
Ein Handelnder kann derartige Intentionsinterferenzen, wie sie sich aus dem
Aktiv- oder dem Unterlassungshandeln Anderer ergeben können, natürlich
stets fatalistisch hinnehmen. Damit dürfte er sich aber wohl nur dann zufrie-
den geben, wenn ihm entweder seine Intention nicht besonders wichtig ist
oder wenn er die Situation so einschätzt, dass der Widerstand der anderen für
ihn unüberwindlich ist, und er zugleich auch keine Möglichkeit sieht, diesen
Widerstand durch eine Änderung seines Handelns umgehen zu können, um
so zumindest partiell seine Intentionen zu realisieren.
Transintentionalität
Wovon die verschiedenen Arten des Umgangs mit Intentionsinterferenzen
abhängen und auf welchen Voraussetzungen sie beruhen, wird in den folgen-
den Kapiteln noch eingehend besprochen. Zunächst ist wichtig, sich vor Augen
zu führen, was die in Handlungssituationen gegebenen Intentionsinterferenzen
grundsätzlich für die Akteure bedeuten: Wer eine Handlung in die Welt setzt
und mit ihr eine bestimmte Intention verfolgt, und sich dabei mit anderen Ak-
teuren in die Quere kommt, darf sich nicht darüber wundern, wenn am Ende
etwas ganz anderes aus seinem Handeln resultiert, als er sich vorgenommen
hatte. Erstaunlich ist vielmehr die erfolgreiche und auch noch nebenwirkungs-
freie Verwirklichung von Intentionen. Der Regelfall ist Transintentionalität.
Damit ist gemeint, dass das Handeln von Akteuren Effekte zeitigt, die jenseits
der Intentionen der Beteiligten liegen.
Die meisten Handlungswirkungen stellen sich mehr oder weniger „hinter
dem Rücken“ der beteiligten oder auch außenstehender Akteure ein. Dies
kann sogar schon beim monologischen, nicht-sozialen Handeln passieren.
Jemand richtet beispielsweise sein Zimmer ein und scheitert dabei mehr oder
weniger, etwa weil er eine Wand falsch ausmisst und daraufhin ein zu langes
Regal kauft, das er dann nicht wie geplant stellen kann. Oder: Jemand betätigt
eine bestimmte Tasten-Kombination an seinem PC, und es geschieht etwas
ganz anderes als erwartet. Ein weiteres Beispiel wäre ein monologisch Han-
delnder, der - spieltheoretisch ausgedrückt - ein „Spiel gegen die Natur“ ver-
liert, weil ein Gewitter schneller heraufzieht, als der Akteur es zu Beginn eines
Spaziergangs dachte, und der dann mit seiner Intention scheitert, den Spa-
ziergang trockenen Fußes zu Ende zu bringen. In all diesen Fällen geht die
Transintentionalität daraus hervor, dass ein Akteur die Kontextbedingungen
seines Handelns falsch einschätzt, wobei die Fehleinschätzung auf Irrtümern,
Informationsdefiziten oder Situationsveränderungen beruhen kann.
„Spielen gegen andere“
Soziologisch interessant wird Transintentionalität aber eigentlich erst dann,
wenn sie nicht aus „Spielen gegen die Natur“ hervorgeht, sondern eben in so-
zialen Handlungssituationen aus „Spielen gegen andere“. In diesen Fällen
kann ein Akteur - wie gewohnheitsmäßig oder wohl überlegt auch immer er
sich etwas vorgenommen hatte - seine Intentionen deswegen nicht realisieren,
weil es einen oder mehrere andere Akteure gibt, die ebenfalls ihre Intentionen
verfolgen. Wenn die Intentionen anderer mit denen des Akteurs nicht kompati-
bel sind, gehen die transintentionalen Effekte aus dem wechselseitigen Kon-
terkarieren und Blockieren der Handlungsabsichten beim handelnden Zusam-
menwirken hervor. Ein Parteivorsitzender will zum Beispiel der „Basis“ einen
Richtungswechsel schmackhaft machen und muss nach langen Debatten fest-
stellen, dass seine Linie nicht mehrheitsfähig ist.
gescheiterte Intentionalität
Damit ist eine der grundlegenden Arten von Transintentionalität benannt:
gescheiterte Intentionalität. Ein Akteur bezweckt Etwas und muss dann fest-
stellen, dass er dies aufgrund von Fehleinschätzungen der Kontextbedingun-
gen oder aufgrund der Interferenzen mit dem Handeln anderer nicht erreicht,
oder nur unter Inkaufnahme gravierender, seine Zielverfolgung überschatten-
der negativer Nebenwirkungen, und auf jeden Fall nur für begrenzte Zeit.
beiläufige Transintentionalität
Die zweite grundlegende Art von Transintentionalität ist beiläufige Transin-
tentionalität. Diese resultiert daraus, dass Akteure mit dem Verfolgen ihrer
Intentionen immer auch eine beträchtliche Menge anderer Wirkungen in der
Welt erzeugen. In der Regel ergibt sich nebenher aus dem handelnden Zu-
sammenwirken noch Einiges mehr, was die Akteure manchmal überhaupt
nicht oder erst nach geraumer Zeit registrieren, oder was sie zwar bemerken,
aber nicht weiter wichtig nehmen.
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