FU Hagen SS 2015


Kartei Details

Karten 72
Sprache Deutsch
Kategorie Psychologie
Stufe Universität
Erstellt / Aktualisiert 18.07.2015 / 22.08.2017
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Moralische Stufen

Kohlberg geht bei der Konstruktion seiner Stufen der moralischen Urteilsentwicklung von
einer Untersuchung aus, die er an 72 Chicagoer Jungen mit Hilfe von zehn
hypothetischen Dilemmata durchführte. Die Jungen verteilten sich auf drei
Altersgruppen (10, 13 und 16 Jahre). Diese Untersuchung war zugleich der
Ausgangspunkt für eine ca. 30 Jahre laufende Längsschnittuntersuchung.

Aufgrund der Analyse der Antworten der Jungen auf die moralischen Dilemmata gelangte
Kohlberg zu sechs Stufen des moralischen Urteils, die drei Ebenen zugeordnet sind .

 (I) präkonventionelle Ebene

Moralische  Wertung  beruht  auf  äußeren,  quasi-physischen Geschehnissen, schlechten  Handlungen
oder  auf  quasi-physischen Bedürfnissen statt auf Personen und Normen.

 (II) konventionelle Ebene

 Moralische  Wertung  beruht  auf  der  Übernahme guter  und  richtiger  Rollen, der Einhaltung der konven-
tionellen Ordnung und den Erwartungen anderer.

(III) postkonventionelle Ebene

Moralische  Wertung  beruht  auf  Werten  und  Prinzipien, die unabhängig von der  Autorität  der  diese
Prinzipien  vertretenden Gruppen  oder  Personen und unabhängig von der eigenen  Identifizierung  mit
diesen Gruppen gültig und anwendbar sind.

Unterschiede zwischen den Stufen des moralischen Urteils

Denkweise

Die Unterschiede zwischen den Stufen des moralischen Urteils bestehen weniger in
zunehmendem Wissen um moralische Normen, sondern liegen in qualitativ anderen
Denkweisen über moralische Probleme. Individuen durchlaufen die Stufen immer
nacheinander und in derselben Reihenfolge.

Entwicklungsstufen

1. Stufe: Lohn und Strafe, Orientierung an Bestrafung + Gehorsam:

Man will Strafe vermeiden und fügt sich der überlegenen Macht von Autoritäten.
Moral ist situationsgebunden.

- gut/böse hängt von physischen Konsequenzen ab, nicht von der sozialen Bedeutung/Bewertung, Vermeidung von Strafe + nichthinterfragte Unterordnung unter Macht = Werte an sich, Moralordnung ist unwichtig
- denkt in gewissem Sinne wie der behavioristische Theoretiker, heteronome Moral: nicht Absicht einer Handlung, sondern Konsequenzen
- Moral ist extrem situationsgebunden

Denken: man darf nicht stehlen, weil Bestrafung folgt

 

Stufe 1: Lohn und Strafe

Eine Handlung zu vermeiden, wenn man für sie bestraft wird, und eine Handlung
auszuführen, wenn man auf Belohnung hofft, wird häufig als eine grundlegende
menschliche Motivation angesehen. Eine der klassischen Lerntheorien, die Theorie des
instrumentellen Lernens von Skinner, beruht im Wesentlichen auf dieser Annahme.

Auf dieser Stufe finden wir auch die »objektive Verantwortlichkeit«
heteronome Moral. Es kommt nicht auf die gute oder böse Absicht einer Handlung an,
sondern allein auf die tatsächlichen Konsequenzen. Auf der ersten Stufe ist die Moral
noch extrem situationsgebunden. Mit der Situation ändert sich auch die Vorstellung von
richtigem oder falschem Handeln. Wird eine Handlung plötzlich nicht mehr bestraft, ist
sie nicht mehr falsch.

Entwicklungsstufen

2. Stufe: Zweckdenken: Die instrumentell-relativistische Orientierung.

Man möchte die eigenen Interessen und Bedürfnisse befriedigen und lebt dabei in einer Welt, in der man
auch die Interessen anderer berücksichtigen muss.

- richtig = dass die eigenen Bedürfnisse – bisweilen auch die Bedürfnisse anderer – instrumentell befriedigt werden.

Zwischenmenschliche Beziehungen = Markt-Beziehungen. Grundzüge von Fairness, Gegenseitigkeit, Sinn für gerechte Verteilung sind vorhanden, werden aber physisch oder pragmatisch interpretiert. »eine Hand wäscht die andere«, (keine Loyalität oder Gerechtigkeit)

Denken: ich stehle von dir Geld, weil ich es kann: »Was heißt hier Gerechtigkeit? Gerechtigkeit gibt es nur zwischen annähernd Gleichstarken. du bist schwach, ich bin stark, daraus ergibt sich alles Weitere«

Stufe 2: Zweckdenken

Auf dieser Stufe wird der Egozentrismus weitgehend überwunden. Das Individuum kann
sich in die Situation eines anderen versetzen und erkennen, dass dessen Interessen mit
den eigenen nicht übereinstimmen müssen. Es lernt, die Motive der anderen zu erkennen und diese – bis zu einem gewissen Grad – auch zu akzeptieren. Kinder können
hier ein sehr ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl entwickeln, das u. U. dem
»Gleichheitsfanatismus« ähnelt, den Piaget bei Kindern feststellte, die sich im
Zwischenstadium von heteronomer und autonomer Moral befinden.

Ein besonders klares Beispiel für einen derartigen Zynismus
lieferten die Athener, die die kleine Insel Melos erpressen wollten, ihre Bundesgenossen
gegen Sparta zu werden. Sie drohten, alle Männer zu töten und Frauen und Kinder in die
Sklaverei zu führen. Die Melier wiesen auf die Ungerechtigkeit dieses Verhaltens hin. Die
Athener aber antworteten: »Gerechtigkeit gibt es nur zwischen annähernd Gleichstarken.
Ihr seid schwach, wir sind stark, daraus ergibt sich alles Weitere«.

Entwicklungsstufen

3. Stufe Übereinstimmung mit anderen: Orientierung an personengebundener Zustimmung oder am »guter Junge/nettes Mädchen«-Modell

- richtig = was anderen gefällt oder hilft und ihre Zustimmung findet => hohes Maß an Konformität? gegenüber stereotypen Vorstellungen von mehrheitlich für richtig befundenem oder »natürlichem« Verhalten. Häufig wird
- Verhalten nach der Absicht beurteilt: »Er meint es gut« (wird zum ersten Mal wichtig) Man findet Zustimmung, wenn man »nett« ist.
- Orientierung an den Normen einer (oder mehrerer) für das Individuum wichtigen Bezugsgruppe, Bezugsgruppe kann je nach Situation wechseln

Denken: Ich stehle, weil Peggy, Sue und Alfred das auch machen.

Stufe 3: Übereinstimmung mit anderen

Freundlichkeit, Höflichkeit, Anständigkeit – dies sind Tugenden, mit denen manchmal die
dritte Stufe der Moral beschrieben wird. Man möchte in den Augen der Eltern, Freunde
und Bekannten ein »guter Mensch« sein.

Die Moral der Stufe 3 ist gewissermaßen die ideale Moral einer
heilen Welt, in der das Individuum keinen antagonistischen Gruppenkonflikten
ausgesetzt ist, sondern allseits auf übereinstimmende Wertvorstellungen und
Rollenerwartungen trifft. Existiert diese heile Welt nicht, birgt die Moral der
gegenseitigen Erwartungen im zwischenmenschlichen Bereich eine Menge an
Konfliktstoff. Als Mitglied einer revolutionären Studentengruppe fällt es möglicherweise
schwer, gleichzeitig die Erwartungen eines konservativen Elternhauses zu
berücksichtigen. Eher mag das Wertmanagement gelingen, wenn sich die divergierenden
Erwartungen auf unterschiedliche Lebensbereiche erstrecken.

Entwicklungsstufen

4. Stufe Orientierung an der Gesellschaft: Orientierung an Recht und Ordnung

- Autorität, festgelegte Regeln und die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung bilden den Orientierungsrahmen. Richtiges Verhalten heißt, seine Pflicht tun, Autorität respektieren und für die gegebene soziale Ordnung um ihrer selbst willen eintreten.
- wir fühlen uns den Gesetzen und unseren Verpflichtungen unterworfen, wir sind ihnen gewissermaßen ausgeliefert.
- Rechtspositivismus: ordnungsgemäß zustande gekommene Gesetze haben unbedingte Gültigkeit

Denken: Ich stehle (parke dort) nicht, weil stehlen (es dort) verboten ist.

Stufe 4: Orientierung an der Gesellschaft

Melville stellt den Kapitän als ein Musterbeispiel des Denkens auf Stufe 4 dar. Trotzdem
argumentiert er nicht durchgängig auf dieser Stufe. Wenn er seinen Offizieren die
Gefahren eines milden Urteils für die Disziplin der Mannschaft vor führt, beruft er sich
vor allem auf die Erwartungen, welche die Mannschaft den Offizieren gegenüber hat.
Zunächst macht der Kapitän den Leutnant klar, dass er die Ebene der Argumentation
wechselt, also auf dessen Niveau herabsteigt. Die folgenden Ausführungen stellen die
Gemeinsamkeit aber sofort wieder her. Von der niedrigeren Plattform (Stufe 3) schaut
man gemeinsam auf die Mannschaft herab: »Ihr mildes Urteil werden sie für feige
halten.« Zum Schluss seiner Rede macht er seinen eigenen Standpunkt (Stufe 4)
nochmals deutlich, versucht aber gleichzeitig, dem inneren Konflikt seiner Offiziere einen
Ausweg zu weisen.

Stufe 4 entspricht in juristischer Sicht dem sogenannten Rechtspositivismus, nach dem
ordnungsgemäß zustande gekommene Gesetze unbedingte Gültigkeit besitzen.

Entwicklungsstufen

5. Stufe Sozialvertrag und individuelle Rechte: Die legalistische oder Sozialvertrags-Orientierung.

- Sie ist im Allgemeinen mit utilitaristischen Zügen verbunden. Die Richtigkeit einer Handlung bemisst sich tendenziell nach allgemeinen individuellen Rechten und Standards, die nach kritischer Prüfung von der Gesamtgesellschaft getragen werden. Man ist sich der Relativität persönlicher Werthaltungen und Meinungen bewusst und legt dementsprechend Wert auf Verfahrensregeln zur Konsensfindung. Abgesehen von konstitutionellen und demokratischen Übereinkünften ist Recht eine Frage persönlicher Wertsetzungen und Meinungen. Außerhalb des gesetzlich festgelegten Bereichs basieren Verpflichtungen auf freier Übereinkunft und Verträgen.
- Wir dienen nicht mehr dem Gesetz, sondern das Gesetz dient uns, es soll ein Höchstmaß an Gerechtigkeit ermöglichen
- Leben und Freiheit sind Werte von absolutem Charakter

Denken: ich darf nicht stehlen, weils Gesetz ist, ich nicht betohlen werden möchte + aus Respekt vor den anderen und aus Achtung der Gemeinschaft

Stufe 5: Sozialvertrag und individuelle Rechte

Es geht um eine der Gesellschaft und damit dem Recht übergeordnete Perspektive. Wir
sind daher eher in der Lage zu erkennen, wann die Anwendung von Recht zu Unrecht
führt. Wir dienen nicht mehr dem Gesetz, sondern das Gesetz dient uns, indem es ein
Höchstmaß an Gerechtigkeit ermöglichen soll.

Die Kontroverse zwischen Rechtspositivismus und übergesetzlichem Recht spielte
auch in dem ersten Prozess gegen die sogenannten Mauerschützen eine wichtige Rolle.
Nach Auffassung des Richters hätten die Angeklagten erkennen müssen, dass »nicht alles
Recht ist, was Gesetz ist

Entwicklungsstufen

6. Stufe Ethische Prinzipien: Orientierung an allgemeingültigen ethischen Prinzipien.

- Das Recht wird definiert durch eine bewusste Entscheidung in Übereinstimmung mit selbst gewählten ethischen Prinzipien unter Berufung auf umfassende logische Extension, Universalität? und Konsistenz. Diese Prinzipien sind abstrakt und ethischer Natur (die Goldene Regel, der Kategorische Imperativ), nicht konkrete Moralregeln wie etwa die Zehn Gebote. Im Kern handelt es sich um universelle Prinzipien der Gerechtigkeit, der Gegenseitigkeit und Gleichheit, der Menschenrechte und des Respekts vor der Würde des Menschen als individueller Person.
- »ideale wechselseitige Rollenübernahme«, zur Prüfung der vollständigen Reversibilität? einer moralischen Lösung + Prüfung auf »Universalisierbarkeit«
- sehr viele Kritiker hat diese Stufe
- Scheibenpflug (2007) schlägt vor, es als eine Stufe rationaler Leidenschaft zu verstehen, in der Gerechtigkeit als eine Kernkomponente des Prinzips Liebe aufgefasst wird.

Denken: Ich stehle nicht, weil unsere Welt aus geben und nehmen besteht und das oberstes Prinzip ist: wenn ich etwas nehme, muss ich auch etwas geben.

Stufe 6: Ethische Prinzipien

Diese ist auch am häufigsten kritisiert worden. Deswegen ist in den neueren Versionen
seines Interviewverfahrens (Standard Issue Moral Judgment Test) die Stufe 6 nicht mehr
enthalten. Kohlberg beschreibt diese Stufe als durch »Orientierung an Gewissen oder
Prinzipien« gekennzeichnet. Besser als diese beiden Begriffe kennzeichnet der von Kegan
(1986) benutzte Begriff der »Überindividualität« das Charakteristische dieser Stufe. Mit
dem Begriff des Individuums wird oft eine Überbewertung einer isolierten,
beziehungslosen, eigenständigen Lebensart verbunden, von dem Kegan den Begriff der
»Überindividualität« insofern abgrenzt, als in ihm die Bedeutung menschlicher
Beziehungen anerkannt und berücksichtigt wird.

Universalisierbarkeit

Hinblick auf »Universalisierbarkeit«. Hierzu schlägt er zwei Schritte vor:
◦ Zunächst müssen für das spezielle Problem hinreichend ähnliche Situationen
daraufhin überprüft werden, ob auch hier identische Lösungen gefunden werden. Ist
dies nicht der Fall, muss deutlich gemacht werden, wie der Unterschied der Lösungen
begründet werden kann.
◦ Im zweiten Schritt muss eine zeitweilige Trennung von Personen und Interessen
vorgenommen werden, d. h. die Situation muss so betrachtet werden, als sei nicht
klar, wer letztlich welche Rolle übernehmen muss. Natürlich garantiert dieses
Verfahren genauso wenig wie der kategorische Imperativ Kants (»Handle so, dass die
Maxime Deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung
gelten könne«), dass man tatsächlich zu einem vollständig reversiblen »idealen«
Urteil der Stufe 6 gelangt.

ideale wechselseitige Rollenübernahme

Ein wichtiges Merkmal der Stufe 6 ist die sogenannte »ideale
wechselseitige Rollenübernahme«, die so etwas wie ein Verfahren zur Prüfung der
vollständigen Reversibilität einer moralischen Lösung darstellt. In diesem Verfahren muss
man sich gedanklich in die Rolle aller an der Situation Beteiligten versetzen und dabei
alle Ansprüche berücksichtigen, die vom jeweiligen Standpunkt aus erhoben werden.

Zusammenhänge zwischen den Stufen

Jede Stufe baut auf der vorhergehenden auf und bereitet die nächsthöhere vor. Die
Entwicklung kann individuell unterschiedlich schnell verlaufen oder bei irgendeiner Stufe
stehen bleiben

Vom Anspruch her sollen die Stufen jedoch moralische Assimilationsschemata
beschreiben, also die Art und Weise, wie der Einzelne moralische Probleme wahrnimmt
und zu lösen versucht. Sie bestimmen also nicht nur unser Denken, sondern beeinflussen
auch unsere »Intuition«. Gleichzeitig definieren die Stufen auch die Richtung der
Akkommodation, da diese immer auf die jeweils nächsthöhere Stufe in der Hierarchie
zielt..

Transitionsstufen

Personen, die sich im Übergang zwischen zwei Stufen befinden, werden durch sog. Transitionsstufen
gekennzeichnet, die an die im Folgenden dargestellten Zwischen- und Unterstufen Kohlbergs ange-
lehnt sind.

Zwischen- und Unterstufen (Kohlberg):

Stufe 4 ½ entspricht einem Denken, das Moral in Form der Stufe 4 konzeptualisiert, gleichzeitig aber
grundsätzlich in Frage stellt, also relativiert. Daher wird diese Stufe auch als wertrelativistisch be-
zeichnet (Spekulationen zu wertrelativistischen Zusatzstufen existieren auch für die Stufen 3 und 5)

A- und B-Unterstufen: Differenzierung der ursprünglichen Stufenfolge (Kohlberg, 1976)

Einführung der sogenannten A- und B-Unterstufen für die Stufen 2 bis 5 als
Differenzierung der ursprünglichen Stufenfolge (Kohlberg, 1976).
◦ A-Unterstufen
stärker an vorgegebenen Ordnungen und Nutzenkonsequenzen
◦ B-Unterstufen
die »reiferen« Versionen gegenüber den A-Unterstufen, sind stärker an Gerechtigkeit,
Fairness und dem »Ideal-Selbst« orientiert

Kohlbergs A und B- Unterstufen markieren in Bezug auf Piagets Phasen gewissermaßen die
Durchlaufebenen einer spiralförmigen Weiterentwicklung von Heteronomie und
Autonomie.

Übergangsstufe 4½

Kohlberg und Kramer hatten festgestellt, dass Jugendliche nach der
High-School zunehmend wieder Denkstrukturen der Stufe 2 verwandten. Dieses mit der
Theorie – die Stufenregressionen ausschließt – nicht zu vereinbarende Verhalten wurde
von Kohlberg und Kramer als Ausdruck einer Entwicklungskrise im Sinne Eriksons
gedeutet.

Kohlberg interpretiert diese Zuordnung dieser Jugendlichen zu Stufe 2 nun als eine
Vermischung von Struktur und Inhalt des moralischen Denkens. Inhaltlich würden die
Jugendlichen zwar ähnlich argumentieren wie Personen, die auf Stufe 2 sind, strukturell
handele es sich jedoch um Argumentationen, die einer Stufe 4½ zuzuordnen seien.

Stufe 4½ entspricht also einem Denken, das Moral in Form der Stufe 4 konzeptualisiert,
gleichzeitig aber in Frage stellt, also relativiert. wertrelativistische Zwischenstufe.

Beispiel für die rangehensweise der Stufen von Kohlberg

Ich sitze im Klassenzimmer. Sittlicherweise (auch
moralischerweise), bin ich still und melde mich, wenn ich etwas sagen möchte. Wenn ich nun drauf los rede
ist es unsittlich/unmoralisch. Nun kann ich überlegen warum ich es nicht tun sollte:
◦ weil es bestraft wird,
◦ weil mich sonst alle ablehnen und es als unmoralisch abtun,
◦ weil man sowas einfach nicht tut
◦ Stufe 5: noja man tut es nicht, weil man sonst andere Gedankengänge unterbricht, weil der Lehrer
nicht weiß, woran er sich orientieren soll, weil ich Chaos in die Klasse bringe und kein konstruktives
lernen mehr möglich ist,... tun kann ich es wenn es nötig ist zum Beispiel, wenn ich eine tierisch
wichtige Erkenntnis im Kopf habe die für die Problembehandlung einfach wichtig ist u.a.
◦ stufe 6 : …
• bedenke es geht bei Kohlberg nicht um den Inhalt der Begründungen, sondern um die Begründungsstruktur.
• Andererseits kann man auch auf der niedrigsten Stufe komplex denken / argumentieren. → Kosten-Nutzen-
Erwägungen

Bezug auf die Stufen des moralischen Urteilens von Piaget

Stufe 1   heteronome Moral
Stufe 2-5 autonome Moral
 
Kohlberg: Heteronomie-Autonomie-Sequenz (Piaget) = Unterscheidung von A- und B-Unterstufen

Kohlbergs A- und B-Unterstufen markieren in Bezug auf Piagets Phasen gewissermaßen die Durch-
laufebenen einer spiralförmigen Weiterentwicklung von Heteronomie und Autonomie.

11.  Empirische Untersuchungen zur Theorie Kohlbergs 

a.wichtigste Ergebnisse der Längsschnittstudie

- Längsschnittstudie Kohlbergs von fast 30 Jahren mit relativ wenigen männlichen Versuchspersonen in bestimmten Abständen (unterschiedliche Kohorten => Anzahl der Befragten zu verschiedenen Alterszeitpunkten variiert sehr) mit Kohlbergschen Interviewverfahren: Standard Issue Moral Judgment Test

- Ergebnisse: stimmen mit Annahmen Kohlbergs überein: Stufen folgen der postulierten Reihenfolge, wobei höhere Stufen mit höherem Alter korrespondieren, mit steigendem Lebensalter nimmt die Korrelation zur Stufenhöhe ab – eine zwangsläufige Folge der moralische Entwicklung, die ihren individuellen »Endpunkt« meist im frühen Erwachsenenalter findet
-> Ergebnisse gelten auch für alternative Verfahren: Moralisches-Urteil-Test (MUT) von Lind (1978, 1985) -> 2 Dilemmageschichten mit 6 Pro+ 6 Kontra-Argumenten, die jeweils einer der Kohlbergschen Stufen zugeordnet sind.-> erfasst spontane moralische Bewertung + differenziertes Präferenzurteil im Sinne der Kohlbergschen Stufen (= ein dreifaktorielles Experiment, d.h. Daten können in theoriekonforme, theoriekonträre und ggf. theorieneutrale Antwortmuster eingeteilt werden); MUT = engl.: Moral Judgment Test – MJT

11.  Empirische Untersuchungen zur Theorie Kohlbergs 

b.empirisch belegte Kernannahmen

I. Personen ziehen moralische Argumente höherer Stufen denen niedriger Stufen vor.

II. Moralische Argumente, die das eigene Niveau weit übersteigen, können nicht mehr sicher differenziert werden.

III. Es gibt keine Personen mit idiosynkratischen Urteilspräferenzen?. Niemand stellt die Kohlbergsche Stufenfolge »auf den Kopf«, zieht also Argumente niedrigerer Stufen Argumenten höherer Stufen systematisch vor.

IV. Sowohl die moralische Differenzierungsfähigkeit als auch die moralische Urteilspräferenz folgen der von Kohlberg postulierten Stufensequenz.
 

Moralisches-Urteil-Test (MUT)

Der MUT ist auch insofern interessant, als er nach Auffassung des Testautors Lind:
◦ den »kognitiven« Aspekt des moralischen Urteils im Sinne Kohlbergs erfasst,
◦ sondern auch die »affektive« Seite.

Vorher soll jedoch auf einer Skala angegeben werden, ob man das im jeweiligen Dilemma
dargestellte Verhalten für eher falsch oder eher richtig hält. Der MUT erfasst also sowohl
eine spontane moralische Bewertung (affektiv) als auch ein differenziertes Präferenzurteil
im Sinne der Kohlbergschen Stufen (kognitiv).

Beim MUT handelt es sich um einen »experimentellen« Test, da sich die durch ihn
erhobenen Daten in drei Teilmengen aufteilen lassen:
◦ in theoriekonforme,
◦ theoriekonträre
◦ ggf. theorieneutrale Antwortmuster.
 

 Der MUT kann als ein dreifaktorielles Experiment angesehen werden.

Man kann sich z. B. ausschließlich an der moralischen Stufe orientieren, zu der die
Argumente konstruiert wurden. Im Sinne der Theorie Kohlbergs sollte man dann
Argumenten höherer Stufen mehr zustimmen als Argumenten niedrigerer Stufen.
Vielleicht kann man die Argumente der höchsten Stufen nicht mehr sicher
unterscheiden, aber man sollte die Stufenfolge auf keinen Fall auf den Kopf stellen,
indem man die Argumente auf den niedrigen Stufen als besonders »gut« einschätzt.
◦ Vielleicht interessiert man sich auch nur dafür, ob sie die eigene Entscheidung
unterstützen. Man würde dann allen Pro-Argumenten gleichermaßen zustimmen und
alle Kontra-Argumente entschieden ablehnen, weil man selbst die Pro-Entscheidung
richtig findet.
◦ Man hat auch die Möglichkeit, bei unterschiedlichen Dilemmata die gleiche oder eine
andere Antwortstrategie zu wählen. Man kann nun berechnen, welche
Antwortstrategien tatsächlich gewählt werden.
In eigenen Untersuchungen mit über 1000 Berufsschülern zeigte sich, dass diese sich deutlich stärker
an der Stufenzugehörigkeit der Argumente als an der Pro/Kontra-Richtung orientierten. In zwei
unabhängigen Stichproben erklärte die Stufenzugehörigkeit ca. 26 Prozent, die Pro/Kontra-Richtung
ca. 18 Prozent und die Unterschiedlichkeit der Dilemmata nur 5 Prozent der Antwortvarianz.

Soziale Perspektivenübernahme

Die einzelnen Stufen der Kohlbergschen Moralhierarchie unterscheiden sich deutlich in Bezug auf
den Blickwinkel, aus dem die soziale Umwelt betrachtet wird. Wenn wir bei der Verfolgung unserer
Interessen nicht nur uns selbst sehen, müssen wir in der Lage sein, uns auch in unsere Mitmenschen
hineinzuversetzen, um deren Interessen zu verstehen (diese Fähigkeit muss erst entwickelt werden).

Konzeption der sozialen Perspektive

Die Konzeption der sozialen Perspektive hat eine lange Tradition innerhalb der Entwicklungs- und
Sozialpsychologie. So fassen z.B. Baldwin (1906) und Mead (1934) die Rollenübernahme als zentralen
Aspekt sozialer Erkenntnis und Bewertung auf, als die Fähigkeit, sich und andere als Subjekt zu be-
greifen und sich selbst aus der Perspektive des anderen zu sehen.

Robert L. Selman:  die Fähigkeit zur sozialen Perspektivübernahme

Robert L. Selman (1984) versucht, die Fähigkeit zur sozialen Perspektivübernahme in Form einer ontogenetischen Stufenhierarchie analog zu Piagets Stufenfolge des logischen Denkens zu konzeptualisieren.
Wie Kohlberg arbeitet er mit Dilemmata:

  •  Geschichten zur Erfassung der sozialen Perspektive
  •  Komplexer als moralischen Dilemmata von Kohlberg, da Ebene der Empathie miterfasst wird

12. Niveaus der sozialen Perspektivenübernahme (Selman)

a.  Kurzcharakterisierung jeder Stufe

Niveau 0 (4-6 Jahre): egozentrisch; undifferenziert → Unkenntnis, dass Gegenüber Situationen anders interpretiert; eigene Gefühle hat.
 

Niveau 1 (6-8 Jahre): subjektiv; differenziert → Erkenntnis, dass Gegenüber eine andere Person mit eigenen Gefühlen ist.

Niveau 2 (8-10 Jahre): selbstreflexiv; reziprok → Fähigkeit, sich selbst mit den Augen des Gegenübers zu betrachten.
 

Niveau 3 (10-12 Jahre): wechselseitig; Perspektive der 3. Person → Fähigkeit, die Wechselseitigkeit der Beziehung wahrzunehmen. Beziehung wird bewusst.
 

Niveau 4 (12+ Jahre): gesellschaftliche-; Tiefenperspektive → Erkenntnis der prägenden gesellschaftlichen Bedingungen für die Beziehung.

Niveaus der sozialen Perspektivenübernahme (Selman)

Niveau 0 (4-6 Jahre): egozentrisch; undifferenziert

Kind kann andere Perspektiven einnehmen, erkennt aber nicht, dass anderer ähnlich wahrgenommenes anders interpretiert, weil es eigene Perspektive nicht deutlich genug von der des anderen unterscheidet.

Ebenso vermischt es subjektive/psychologische + objektive/physikalische Aspekte der sozialen Welt (vermischt Gefühle + beobachtbare Akte oder intentionale + nicht-intensionale Akte)

Denken: Jeder sieht die Welt so wie ich.

Niveaus der sozialen Perspektivenübernahme (Selman)

Niveau 1 (6-8 Jahre): subjektiv; differenziert

Verstehen: gleich wahrgenommenes kann gleich oder verschieden interpretiert werden, gleich wahrgenommene Handlungen = Reflexionen disparater oder verschiedener Einzelgründe oder -motive, befasst sich zum ersten Mal mit der Einzigartigkeit des verdeckten, psychischen Lebens einer jeden Person

Denken: Andere können die Welt anders sehen.
 

Niveaus der sozialen Perspektivenübernahme (Selman)

Niveau 2 (8-10 Jahre): selbstreflexiv; reziprok

Fähigkeit: Perspektive der zweiten Person: kann auf seine Gefühle + Gedanken aus der Perspektive einer anderen Person reflektieren, sich selbst an die Stelle eines anderen versetzen + das Selbst dem anderen gegenüber als Subjekt begreifen.
=> eigene Auffassung + Beurteilung der Gedanken + Gefühle der anderen Person
=> Bewusstsein einer neuen Form von Reziprozität der Gedanken + Gefühle (ich weiß, dass er mich mag; er weiß, dass ich ihn mag) und nicht mehr nur von Handlungen (er arbeitet für mich – ich arbeite für ihn).

Denken: 2 Menschen können die gleiche Sache (z.B. mich) ganz unterschiedlich sehen

Niveaus der sozialen Perspektivenübernahme (Selman)

Niveau 3 (10-12 Jahre): wechselseitig; Perspektive der 3. Person

Fähigkeit der Perspektive der dritten Person: Fähigkeit in Gedanken aus einer interpersonalen Interaktion herauszutreten + die Perspektiven beider Parteien simultan zu koordinieren => Bewusstsein von Wechselseitigkeit menschlicher Perspektiven + Bewusstsein von der Beziehung zwischen Selbst + anderen (Beziehung selbst wird bewusst)

Denken: Ich sehe die Sache so, du siehst sie so – und im Vergleich sieht das so aus...
 

Niveaus der sozialen Perspektivenübernahme (Selman)

Niveau 4 (12+ Jahre): gesellschaftliche-; Tiefenperspektive

- Erkenntnis: subjektiven Perspektiven (Wechselseitigkeit) haben nicht nur die Ebene der Erwartungen + Selbstverständnisse, sondern sind multidimensional oder tieferreichend (oberflächlich vs. tiefe + nicht verbalisierte Gefühle)
- zwischenmenschlichen Perspektiven = Netzwerk/System.
- Perspektiven werden generalisiert, z. B. zum Konzept der gesellschaftlichen, rechtlichen oder moralischen Perspektive.

Denken: Was beeinflusst meine, deine, … Perspektive ?
 

Soziale Perspektive und moralische Stufe

Selman (1976):     Entwicklung der sozialen Perspektive ist notwendige, aber nicht hinreichen-
                             de Voraussetzung einer entsprechenden moralischen Entwicklungsstufe  

Kohlberg (1973):  sieht Beziehung direkter, da er davon ausgeht, dass die soziale Perspektive
                             ein strukturelles Definitionsmerkmal der moralischen Stufe darstellt.