Informationsethik
Informationsethik
Informationsethik
Fichier Détails
Cartes-fiches | 107 |
---|---|
Langue | Deutsch |
Catégorie | Marketing |
Niveau | Université |
Crée / Actualisé | 27.10.2021 / 28.10.2021 |
Lien de web |
https://card2brain.ch/box/20211027_informationsethik
|
Intégrer |
<iframe src="https://card2brain.ch/box/20211027_informationsethik/embed" width="780" height="150" scrolling="no" frameborder="0"></iframe>
|
Technologie und Freiheit – das liberale Dilemma (Teil 11)
Eine der essenziellen und wunderbaren Dienstleistungen, die das konventionelle Internet ermöglicht, besteht darin, Personen in flexiblen Netzwerken über globale Distanzen zu verbinden. Gemeinsame Interessen lassen sich teilen, Informationen übertragen, mono- oder multithematische Gruppen können sich konstituieren, die Reichweite erlaubt es, von der lokalen Ebene bis zur interkontinentalen Distanz soziale Einheiten zu integrieren.
Abschließend: Die Darstellung von Inhalten in den sozialen Netzwerken, die Einzelpersonen angezeigt bekommen, basiert auf der Kalkulation von Algorithmen, die einfach versuchen, persönlichen Erwartungshaltungen zu entsprechen.
Die Funktionsweise der Algorithmen zielt darauf, jene Beiträge zu erkennen, die eine Person bevorzugt lesen möchte. Es werden also Muster erkannt und dann plausible Vorhersagen abgeleitet, Vorlieben und vorgefasste Meinungen werden extrapoliert.
Dieser Erkenntniszusammenhang wirkt nun nicht nur im Umfeld der sozialen Medien. Auch andere Big Data Analysen zielen genau darauf ab, anhand von empirischen Datenbeständen, konkrete Handlungsweisen in der Zukunft vorherzusagen. Diese Entwicklung wird mit dem Schlagwort Predictive Analytics umschrieben.
Technologie und Freiheit – das liberale Dilemma (Teil 12)
Was genau meint Predictive Analytics? Predictive Analytics umfasst eine Vielzahl von statistischen Techniken aus den Bereichen Data Mining, Predictive Modelling und Machine Learning. Aktuelle und historische Fakten bzw. vergangene Verhalten werden analysiert, um Vorhersagen über zukünftige oder sonst unbekannte prognostizierbare Ereignisse zu treffen.
Predictive Analytics erlaubt also auf Grundlage einer umfassenden Datenauswertung, Muster zu deduzieren, die mit gewisser Plausibilität zukünftige Verhaltensmuster antizipieren lassen.
Dieses Wissen lässt sich nun beispielsweise dafür nutzen, dass KundInnen individualisierte Angebote gemacht werden, da das weitere Konsumverhalten von Einzelpersonen sich anhand vergangenen Benehmens eruiert lässt.
Es lässt sich dafür nutzen, politische Präferenzen zu bestimmen und diese geschickt zu adressieren. Predictive Analytics wird häufig gerade dann kritisch thematisiert, wenn es in Verbindung mit dem Vorschlag von Predictive Policing auftritt. Statistische Datenauswertungen werden in diesem Zusammenhang dafür genutzt, um potenzielle Verbrechen zu verhindern.
Predictive Policing analysiert individuelles Benehmen, kombiniert dieses mit modernen GPS-Daten und anderen dokumentierten Verstößen von Einzelpersonen, um die Wahrscheinlichkeiten von anstehenden Gesetzesübertritten zu ermessen. Die Polizeiarbeit wandelt sich also von der Ahndung von Verbrechen hin zur Verhinderung derselben. Es wird folglich anhand von multiplen Datenbeständen die Wahrscheinlichkeit von Zwangsläufigkeiten
determiniert, um auf dieser Grundlage dem Sicherheitsbedürfnis moderner Gesellschaften genüge zu leisten.
Technologie und Freiheit – das liberale Dilemma (Teil 13)
Speziell Predictive Policing zeigt nun immanente Konsequenzen für die Auffassungen
davon, wie Menschen eigentlich agieren. Wenn sich aus aufgezeichneten Verhaltensmustern denkbar exakte Vorhersagen treffen lassen, dann wird das Rollenbild eines autonom agierenden Menschen entscheidend herausgefordert. Wenn sich aufgrund vergangenen Verhaltens zukünftiges Benehmen abstrahieren lässt, dann wird die wesentliche Auffassung
manifest herausgefordert, die ein liberales Menschenbild begründet – nämlich der Sachverhalt, dass ein Mensch selbstbestimmt und frei auf Basis eigener und ungezwungener Entscheidungen agiert.
Predictive Analytics operiert zwar in Wahrscheinlichkeiten, aber oft wird dem Phänomen speziell im öffentlichen Diskurs ein gewisses Maß an Determinismus zuerkannt.
Determinismus meint die Auffassung von der kausalen Vorbestimmtheit allen Geschehens und Handelns. Als solche steht diese Überzeugung quer zum Ansatz der Willensfreiheit.
Freier Wille, freie Entscheidung, die Überzeugung, dass menschliches Handeln auf diesen Paradigmen beruht, bildet die theoretische und praktizierte Voraussetzung dafür, dass Demokratien realisierbar werden. Eine freie Gesellschaft basiert darauf, dass mündige BürgerInnen autonome und vernünftige Entscheidungen treffen werden.
Durch Predictive Analytics könnten Grundsätze des aufgeklärten Weltbilds zu erodieren beginnen.
Freiheit im essenziellen Sinne meint vor allem die Anerkennung der Fähigkeit des Menschen, das eigene Leben vernunftbasiert, individuell und eigenständig zu gestalten. Es meint nicht, aus einem vorgegebenen Sortiment von Produkten eine bevorzugte Auswahl zu treffen. Wird Freiheit darauf reduziert, dann sind ideelle Umbrüche zu erwarten.
Technologie und Freiheit – das liberale Dilemma (Teil 14)
Predictive Analytics mag dabei helfen, Konsumverhalten zu entschlüsseln. Wenn also eine Zeit lang Windeln für Säuglinge gekauft werden, dann ist daraufhin zu erkennen, dass bald die Nachfrage nach Holzspielzeug entsteht, das lässt sich mit Big Data erwirken.
Wie aber ein modernes, ethisches, vernünftiges, nachhaltiges Leben im 21. Jahrhundert
geführt werden kann, dafür bedingt es der autonomen Entscheidungen aufgeklärter Individuen. Wenn Big Data nun dabei hilft, komplexe Entscheidungsgrundlagen aufzubereiten, um neue und ergänzende, auch gewinnträchtige Perspektiven zu erschließen, dann hat bereits eine Technologie effektiv zum zivilen Fortschritt beitragen können. Doch die Autonomie
der Entscheidung obliegt dem Menschen, auch weil er sich aus der Verantwortung
für die Welt nicht stehlen kann.
Doch nicht nur Predictive Analytics zeigt diesbezüglich vehemente Konsequenzen für die Selbstwahrnehmung des Menschen betreffend Gestaltung und Erfahrung von Wirklichkeit. Predictive Analytics nutzt Big Data. Umfassende und disparate Datenbestände werden also darauf verwandt, konkrete Aussagen zu treffen.
Problem: Maschinen können Aussagen über die Wirklichkeit treffen, die den kognitiven Erkenntniswegen des Menschen schlicht verschlossen bleiben.
Der menschliche Verstand fungiert somit nicht mehr als alleinige und entscheidende
Richtinstanz der Analyse weltlicher Prozesse, sondern er stützt eine Einschätzung auf computergestützten Operationen. Big Data meint die Aufzeichnung von einer Fülle an Datenbeständen, die nur noch dann informativ verarbeitet werden können, wenn auch dafür computergestützte Verfahren zur Anwendung kommen.
Das Wissen, das aktuell dokumentiert wird, zeigt Ausmaß und Fülle, die sich nur noch dann gewinnbringend auswerten lassen, wenn technologische Verfahren zur Anwendung kommen. Die aussagekräftige Aufbereitung von Information benötigt bereits technologische Unterstützung. Danach werden dann Kreativität, Einschätzung und Interpretation durch den menschlichen Geist verlangt. Dieser Einschnitt markiert eine Zäsur.
Technologie und Freiheit – das liberale Dilemma (Teil 15)
Das 21. Jahrhundert dokumentiert also den Übergang in ein neues Zeitalter, das dem Menschen neue Rollen zudenkt.
Zwei entscheidende zentrale Faktoren für den Bruch überholter Konventionen:
- Die digitale Transformation bewirkt, dass Gegenstände, die wir nutzen, in konkreter Hinsicht intelligenter agieren können als der Mensch selbst. Das Verhältnis zwischen Menschen und Gegenständen, die genutzt werden, verändert sich damit nachhaltig. Nicht nur das: Bisher war der Weiterentwicklung jedes Gegenstands menschlichem Erfindungsgeist zuzuschreiben, Künstliche Intelligenz hingegen trainiert sich selbst und wird eigentätig schlauer.
- Der Klimawandel redefiniert zusätzlich das Verhältnis zwischen Menschen und Natur. Die ältesten fossilen Funde, die die Existenz der Spezies Homo Sapiens belegen, finden sich in Afrika und lassen sich 300.000 Jahre rückdatieren. Der Klimawandel ändert nun die thermischen und klimatischen Bedingungen im natürlichen Lebensraum des Menschen, wie es innerhalb dieses Zeitraums vergleichbar nicht vorgekommen ist.
Beides wird nachhaltige Veränderungen bewirken.
Die Moral der Disruption (Teil 1)
Wird über Veränderung im Rahmen der digitalen Transformation nachgedacht,
dann fällt regelmäßig der Begriff Disruption. Das Schlagwort stammt aus dem Englischen, auf Deutsch übertragen bezeichnet disruption Zusammenbruch, Störung, Diskontinuität.
In Verbindung mit der digitalen Transformation meint Disruption den Umbruch und die Erneuerung von konventionellen Geschäftsmodellen durch den Einsatz neuer Technologien.
In der Verlagsbranche wurde durch neue Mechanismen der Informationsbeschaffung die Relevanz der gedruckten Tageszeitung oder konventioneller Nachrichtensendungen gesenkt. Bedeutungen haben sich radikal verschoben.
Der Anzeigenmarkt, der für Tageszeitungen und Magazine neben den Vertriebserlösen die bedeutsamste Einkommensquelle bildete, erfuhr radikale Umwälzungen. Soziale Medien und Suchmaschinen verdienen mittlerweile eindrücklich an den Umbrüchen und Abstürzen der anderen.
Facebook veröffentlicht Kennzahlen, die belegen, dass im Jahr 2018 rund 55 Milliarden Dollar an Werbeumsätzen erzielt wurden. Google kassierte im selben Jahr 116 Milliarden Dollar an Werbeeinnahmen.
Beide Unternehmen produzieren, anders als Verlagshäuser, keine eigenen Inhalte. Sie verstehen sich auch nicht als solche, sondern agieren ihrem Rechtscharakter nach als reine Plattformen, die für Inhalte nicht haftbar zu machen sind. Vielmehr sind es die NutzerInnen, die Inhalte zur Verfügung stellen, die entweder das soziale Netzwerk beleben oder auf Suchmaschinen hinweisen können.
Das Prinzip, dass NutzerInnen Inhalte kostenlos produzieren und zur Verfügung stellen, Inhalte, die dann von den Plattformen selbst kommerzialisiert werden, nutzen beispielsweise einige DenkerInnen als einen Begründungszusammenhang für eine Art des bedingungslosen Grundeinkommens.
Durch effizientes Steuerregime und der Redistribution mittels Grundeinkommen würden die VerfasserInnen von Inhalten für ihre Aktivitäten entlohnt.Das Verfassen von Inhalten wäre die anzuerkennende entlohnende Arbeit, die Netzwerke vermarkten. Die Plattformen würden dementsprechend als Verwerter der Inhalte zu einem Medium werden, das die Beiträge effektiv monetarisiert, bevor die erzielten Einnahmen dann weiterverteilt werden.
Die Moral der Disruption (Teil 2)
Auch die Musikindustrie wurde durch die Logik der Disruption essenziell erneuert: In der zweiten Januarwoche 2019 schaffte es der New Yorker Musiker A Boogie wit da Hoodie auf Platz 1 der amerikanischen Album Charts Billboard 200 mit gerade einmal 823 verkauften
Tonträgern. Die Spitzenposition erhielt er insofern, als seine Popularität bei den Streamingdiensten sich in Albumäquivalente übertragen lässt. Billboard verbuchte für das Album Hoodie SZN in der besagten Woche 58.000 Albumäquivalente in den Streamingdiensten und 823 verkaufte Tonträger.
Disruption wird also dann wirksam, wenn sich innovative Technologien mit neuartigen Geschäftsmodellen so verbinden, dass bestehende Prozessenund Absatzwege nahezu schlagartig obsolet werden.
Ein Unternehmen, das vielen als Inbegriff disruptiver Geschäftspraktiken gilt, ist Uber. Doch was verbirgt sich hinter dem Erfolg des einstigen Startups und was erzählt die Entwicklungsgeschichte über die Moral der Disruption?
Die Geschichte von Uber fängt (gemäss eigenen Aussagen) damit an, dass die beiden Freunde Travis Kalanick und Garrett Camp zusammen die Le Web Konferenz in Paris im Jahr 2008 besuchen. Da sie nach der Tagung kein Taxi organisierten konnten, begannen die Beiden darüber nachzudenken, wie sich denn eine App aufsetzen ließe, die Fahrten mit Limousinenservices teilt.
Diese Idee führte auch zum ursprünglichen Geschäftsfeld des Unternehmens. Es sollten damit ausschließlich Fahrten an Fahrer vermittelt werden, die üblicherweise in schwarzen, eleganten Personenwagen Flugpassagiere von Flughäfen in ein Stadtzentrum bringen. Diese Tätigkeit ist normalerweise mit langen Wartezeiten verbunden. Um also höhere Effizienz zu erwirken, war es angedacht, diesen Limousinenfahrern weitere Fahrgäste weiterzuvermitteln. Der Rechtsrahmen war abgesteckt, die Standards gesetzt, das Optimierungspotenzial klar ersichtlich.
Die Leerläufe und Stehzeiten von Flughafenlimousinen zu verkürzen, indem zusätzliche Fahrten vermittelt werden, darin bestand anfänglich das Geschäftsmodell von Uber. Diese Idee wurde dann auch präsentiert, um Investoren zu gewinnen, die den Aufbau und die Geschäftstätigkeit des Unternehmens finanzieren sollten.
Die Moral der Disruption (Teil 3)
Die Schwierigkeit fand sich darin, dass nahezu parallel und simultan ein anderes Startup eine Idee zu vermarkten begann, das weit ambitionierter als Uber wirkte. Das Unternehmen nennt sich Lyft und das Geschäftsmodell dahinter bestand darin, dass eine Software programmiert wurde, die Personen erlaubt hat, eine Fahrt bei anderen Personen zu buchen. Lyft
erneuerte den Mobilitätssektor, da das Unternehmen nicht nur LimousinenfahrerInnen als Service-Provider in die Plattform miteinbezog, sondern es jeder Person freistellte, sich nicht nur als KundIn sondern auch als FahrerIn zu registrieren. Der Ansatz besagte also, dass sich Mobilität so neu denken lassen müsste, dass Fahrten schlicht miteinander geteilt werden, jeder unkompliziert sowohl Anbieter als auch Nutzer solcher Dienste sein solle.
Lyft verstand es als Unternehmen folglich, bestehende Hardware in Form der genutzten Autos gleich zu belassen, doch diese anders und intensiver durch vernetzende Software zu nutzen. Die operative Auslastung der vorhandenen Bestände wurde durch den Einsatz neuer Software umgestaltet.
Was bisher Taxameter, Call-Center und eigene Fahrzeugflotten besorgen, ließe sich durch bestehende Fahrzeuge, einfach bedienbare Apps und kooperativ agierende Personen ersetzen.
Das Problem dieser Geschäftsidee: faktisch handelt es sich um Rechtsbruch. Das Beförderungswesen unterliegt komplexen legalistischen Regelungen, die deshalb Sinn ergeben, weil Passagiere besondere Versicherungsstandards genießen. Insofern zeigen sich im
Taxiwesen ausdifferenzierte juristische Regelungen für welche Schäden die FahrerInnen, wann das Taxisunternehmen und wann die Passagiere selbst haften würden. Es ist schwierig aber notwendig, rechtlich aufzuschlüsseln, wann und ab welchem Zeitpunkt im Falle von Verletzungen oder Unfällen der Passagier selbst haftet, ob es im Verantwortungsbereich des Lenkers/der Lenkerin liegen würde oder ob eine potenzielle Versicherungsleistung durch das Taxiunternehmen selbst zu decken wäre. Geschieht es beispielsweise beim Einsteigen oder Verlassen des Fahrzeugs oder erst wenn sich das Auto in Bewegung setzt? Aus diesen Gründen war das Mobilitätsgewerbe reglementiert – teils auch zweifellos überreglementiert.
Die Moral der Disruption (Teil 4)
Lyft begründete also eine Geschäftspraxis, die einen bewussten Rechtsbruch darstellte. Uber erkannte, dass das eigene Geschäftsmodell dagegen nicht erfolgreich konkurrieren konnte und folgte der Praxis von Lyft. Der Unterschied bestand darin, dass Uber noch aggressiver und konsequenter im Aufbau des eigenen Geschäftsmodells vorging, als es Lyft jemals getan
hat.
Die Frage, die sich nun stellt, um diese Vorgänge zu bewerten, lautet: War sich Uber der Tatsache bewusst, dass mit dem eigenen Geschäftsmodell gegen rechtliche Regelungen verstoßen wird?
Die Moral der Disruption (Teil 5)
Benjamin Edelman, ein in Harvard lehrender Jurist und Ökonom, belegt in seiner Arbeit, dass Uber die Illegalität des eigenen Handelns nicht nur bewusst war, sondern dass sie auch offen im Zuge interner Kommunikation thematisiert wurde. Die Illegalität des eigenen Handels wurde sogar als Vorteil verstanden. Aufwändige Prüfungen für LenkerInnen, gesonderte Registrierungen, die Taxiautos verlangen, Unternehmensversicherungen, die verschärften Inspektionen für Fahrzeuge, die zur kommerziellen Beförderung von Passagieren genutzt werden, all das konnte Uber umgehen. Die Ignoranz gegenüber verbindlichen Standards erlaubte im Preiskampf mit bestehenden Unternehmen, die gängigen Tarife zu unterbieten. Der Rechtsbruch führte zu strategischen Vorteilen im Wettbewerb.
Der US-amerikanische Ökonom Peter Drucker hielt für Organisationen und Unternehmen eine entscheidende Wahrheit fest: „Cultur eats strategy for breakfast.“ Die Kultur, die in einem Unternehmen oder einer Organisation gepflegt wird, ist also die entscheidende Richtgröße, um Verhaltensnormen zu definieren. Werden Strategien definiert, die im Gegensatz zur Kultur
stehen, gilt es als sicher, dass ihnen wenig Erfolg beschieden sein wird. Die Kultur repräsentiert gemäß dieser Auffassung das kollektive Selbstverständnis einer Organisation. Bei Uber war und ist diese Verständnisgrundlage des eigenen Tuns davon grundlegend mitbestimmt, dass die eigene Geschäftstätigkeit sich in der Illegalität bewegt.
Benjamin Edelman fast seine Forschung über Uber in knappen Sätzen zusammen:
Darüber hinaus konzentrierten sich Ubers ausgeprägtesten Fähigkeiten auf die Verteidigung der Rechtswidrigkeit. Uber baute Personal, Verfahren und Softwaresysteme auf, deren Zweck es war, Passagiere und Fahrer zu befähigen und zu mobilisieren, Regulatoren und Gesetzgeber zu beeinflussen – eine politische Katastrophe für jeden, der Ubers Ansatz in Frage stellte. Die Phalanx der Anwälte des Unternehmens brachte Argumente [in unterschiedlichen Gerichtsverfahren und Anhörungen, Anm.] vor, die aus früheren Streitigkeiten perfektioniert wurden, während jede Gerichtsbarkeit Uber unabhängig und von einer leeren Tafel aus ansprach, meist mit einem bescheidenen Prozessteam. Uber-Publizisten präsentierten das Unternehmen als Inbegriff von Innovation und stilisierten Kritiker zu etablierten Marionetten, die in der Vergangenheit stecken geblieben waren.
Die Moral der Disruption (Teil 6)
Die Intention der Geschäftsstrategie baut auf einer stringenten Logik auf:
Das Geschäftsmodell steht zwar geltenden Regularien entgegen, ignoriert und bricht diese, aber der Rechtsbruch selbst gilt insofern als vernachlässigenswert, als Regulatoren und öffentlichen Autoritäten eine geballte und erprobte Verteidigung entgegengehalten wird.
Neben diesem wirkmächtigen Vorgehen vervollständigt sich die Vorgehensweise um eine zweite Erfahrung: KundInnen selbst beginnen die Dienste wertzuschätzen. Die illegale oder dubiose Geschäftspraxis erfährt Popularität, weil eine wachsende Anzahl an Personen, die Services zu nutzen beginnen. Jene Behörden, die also die Achtung von Gesetzen einfordern,
sehen sich plötzlich nicht nur einem erfolgreichen Konzern gegenüber, sondern sie erleben auch Widerspruch seitens einer partikularen Öffentlichkeit, die sich mittlerweile an die angebotenen Dienstleistungen gewöhnt hat und in Zukunft nicht mehr darauf verzichten möchte. Aus dieser Position der populären Stärke agiert das Unternehmen dann gegen öffentliche Regulatoren, diese wiederum werden dafür angegriffen, dass sie bestehendem
Recht Geltung verschaffen.
Disruption meint im Falle von Uber, ein Geschäftsmodell zu initiieren, das faktisch bewusst gegen Gesetze verstößt und diesen praktizierten Unternehmensgeist als disruptive Avantgarde sowohl in der internen wie externen Kommunikation darstellt. Je größer der erzielte Erfolg, als umso unwahrscheinlicher wird es in strategischer Folge erachtet, dass die Regulatoren nicht darauf hinwirken könnten, ihrer eigentlichen Aufgabe nachzukommen
und die Geschäftstätigkeiten einschränken oder gar einstellen würden.
Die Moral der Disruption (Teil 7)
Disruption wird häufig als Synonym für kreatives, gewagtes, innovatives, vielversprechendes Unternehmertum verstanden. Der Fall Uber zeigt, wie verwegen die faktischen Hintergründe jedoch auch sein können. Wenn das Prinzip von Disruption zur Ideologie verkommt, die nicht mehr hinterfragt wird, lassen sich selbst zweifelhafte und illegale Maßnahmen legitimieren und die Effektivität vernünftiger Regulierungen unterminieren. Uber ist in diesem Fall Symbol für ein ideelles Phänomen.
Vor diesem Verständnishintergrund lassen sich vermutlich bereits die nächsten Schritte antizipieren, die das Unternehmen perspektivisch setzen wird. Uber ist weitestgehend ein defizitäres Unternehmen. Im Jahr 2016 wurde ein Bilanzverlust von drei Milliarden Dollar ausgewiesen. Nur in einigen wenigen Städten konnte ein operativer Profit erwirtschaftet werden.
Marktanalysten sagen, dass die Geschäftstätigkeit von Uber nur dann Gewinn erzielen könnte, wenn sich die technologische Entwicklung des autonomen Fahrens in naher Zukunft realisieren ließe. Nur durch eine veränderte Kostenstruktur, die mittels Einsatzes dieser Technologie wirksam werden würde, ließe sich Profitabilität bei Uber erwirken und der Fahrpreis um 80 % senken. Weil es die Nutzung dieser Technologie benötigt, um eine profitable Existenz des Unternehmens zu sichern, lässt sich unter Kenntnisnahme vergangener Verhaltensweisen vermuten, dass der Konzern illegale Praxis auch dann einsetzen wird, wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen für das autonome Fahren noch vage oder ungenügend erscheinen.
Die Moral der Disruption (Teil 8)
Auch im Hinblick auf einen anderen Trend wird Uber als disruptive Macht erachtet: Es handelt sich dabei um die Transformation der Arbeitswelt, noch bevor die absehbaren Konsequenzen des autonomen Fahrens schlagend werden. Der praktizierte Ansatz besagt, dass jede Person faktisch ungebunden ins Mobilitätsgeschäft einsteigen kann und sei es auch nur, um Fahrten anderen anzubieten, die sowieso absolviert werden müssen. Diese Form der Flexibilität soll es sowohl AnbieterInnen als aus NutzerInnen von Diensten flexibel erlauben, vorhandene Ressourcen effektiv zu teilen – im Falle von Uber wären das nun die Zeitressource, ein Vehikel, Geld oder Wege, die zu bewältigen wären. Bei Airbnb, das den Nächtigungsmarkt umkrempelt und eine ähnliche disruptive Strategie in Europa wie Uber verfolgt, wären es dann Wohnraum, Geld und Übernachtungsmöglichkeit.
Beide Unternehmen, wie unzählige andere auch, betrachten sich als reine Plattformen. Ihrem Argument nach agieren sie als schlichte Vermittler von Dienstleistungen. Das geschieht deshalb, weil sie sonst, wenn sie wie andere Branchenreisen erschienen, anderen Branchenregulierungen Folge leisten müssten und in den USA andere Steuertarife wirksam wären.
Die Moral der Disruption (Teil 9)
Entscheidend wirkt es, den Erfolg dieser Plattformen auch vor dem Hintergrund
sozialer Entwicklungen zu sehen. Im Verlauf des letzten Jahrzehnts hat der soziale Ausgleich abgenommen, Lohneinkommen gehen gegenüber Kapitalerträgen markant zurück. Diese gesellschaftliche Disparität verstärkte zweifellos die erwiesenen Erfolgspotenziale der Plattformen: Airbnb bietet als willkommener Service viele Vorteile. Es flexibilisiert Reisen und modernes Wohnen, setzt gerade der zyklischen Preisentwicklung im Hotelsektor bei beliebten Destinationen eine wirksame Kraft im Interesse der TouristInnen entgegen. Doch sollte diese Perspektive nicht übersehen, dass für viele Airbnb schlicht eine notwendige Lösung dafür darstellt, mit stagnierenden Löhnen und steigenden Mietpreisen in Ballungszentren umzugehen.
Wenn ein Zimmer nicht aus freien Stücken vermietet wird, sondern deshalb, weil sonst die Kosten für die eigene Wohnung nicht mehr bestritten werden können, dann zeigt sich ein ganz anderes Bild: Soziale Schieflagen und verschobene politische Machtverhältnisse würden nicht mehr als gesellschaftliche Unzulänglichkeiten erkannt, die offen diskutiert werden sollten, sondern schlicht als eine unternehmerische Chance genutzt, der disruptiv entgegengewirkt werden muss. Darin besteht die Kommerzialisierung aller gesellschaftlichen Herausforderungen in Form einer Business-Opportunity und die Entpolitisierung sozialer Schieflagen.
Der Erfolg von Plattformen zeigt sich beispielsweise in den USA gerade darin, angesichts stagnierender Einkommen und einer Beschränkung der Konsumentenkredite nach erschwinglichen Möglichkeiten zu suchen. Die Reallöhne der amerikanischen Arbeiter sind seit 1979 niedrig. Ein beträchtlicher Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrads, die Auslagerung der Produktion im Rahmen der Globalisierung und die Verringerung des Anteils der Arbeitseinkommen sind Faktoren, die zu dieser Stagnation beigetragen haben.
[Weiters, Anm.] […] gibt es ein auf Abruf verfügbares Arbeitskräftepotential.
In Amerika sind 37 Prozent der arbeitenden Bevölkerung, also 92 Millionen Menschen, ohne
dauerhafte Beschäftigung und scheinen die Suche nach Vollzeitjobs aufgegeben zu haben. Daneben gibt es viele andere, die von einem einzigen Job nicht leben können.
Die Moral der Disruption (Teil 10)
Die vermeintliche Flexibilität, die Plattformen bieten – oft auch Plattform-Ökonomie
genannt - werden vor diesem Erklärungshintergrund zu einer
Ökonomisierung des Umgangs mit gesellschaftlichen Fehlentwicklungen.
Sharing Economy hätte zweifellos das Potenzial, unsere Gesellschaften
nachhaltiger, ressourceneffizienter, egalitärer, flexibler, wohlhabender zu
machen. Die Idee würde auch mit der gelebten Einstellung von Personengruppen
oder Generationen korrespondieren, die es für ein einleuchtendes
Konzept halten, dass Gegenstände nicht unbedingt als Besitz benötigt werden,
nur um sie zu brauchen. Doch markiert es einen bedeutsamen Unterschied,
ob diese Entscheidung aus überlegten und freiwilligen Motiven
heraus geschieht oder ob sie ein Anzeichen wachsender Bedrängnis ist.
Vermietet jemand sein Gästezimmer, um mit Leuten aus aller Welt in Kontakt
zu kommen, einladend in der eigenen Stadt zu wirken, ein flexibles
Zusatzeinkommen nach Wunsch zu generieren, dann stellt sich die Situation
radikal anders da, als wenn jemand den Schlafplatz deshalb regelmäßig
anbietet, weil sonst die eigenen Wohnkosten nicht mehr bestritten werden
können. Die eine Entscheidung bildet eine Wahl in Freiheit, die andere wäre
Ausdruck einer objektiven Notwendigkeit und damit Gängelung der Unfreiheit.
Der weißrussische Publizist Evgeny Morozov definiert den Wesenszug, jede
gesellschaftliche Schieflage vor allem als ein potenzielles Anwendungsfeld
wirksamer Technologie zu erachten, als Solutionismus.
Solutionismus meint dabei die ideologische Auffassung, dass allen existierenden
Problemen eine klar definierbare und eindeutige technologische Lösung zugedacht werden kann
Die Moral der Disruption (Teil 11)
Dieser Ansatz verkennt, dass manche gesellschaftlichen Mechanismen schlicht vermeintliche und merkliche Ineffizienzen begründen. Nicht alle Phänomene, die schwerfällig wirken, können sinnvoll beschleunigt werden.
Die Verfahrensweisen demokratischer Institutionen sind beispielsweise bewusst auf Ausgleich und damit Verzögerung angelegt. Um es übertrieben, aber eindrücklich zu formulieren: Wenn Schnelligkeit also zum einzigen Gebot wird, dann macht die zweite und dritte Lesung eines Gesetzes in parlamentarischen Kammern keinen Sinn. Insofern erscheint es wichtig, anzuerkennen, warum manche Verfahren schlicht ihre eigene Logik durchlaufen und manche Ineffizienz durchaus ihre Berechtigung hätte und Bedeutung erfährt.
Das soll nun nicht dahin führen, dass alle existierenden Prozesse sich damit immunisieren lassen, dass sie bereits gelebte Praxis und somit erzielbares Optimum darstellen. Aber das andere Extrem liegt in dem technophilen Ansatz des Solutionismus, dass sich alles radikal aufgrund von Technologie erneuern muss, weil beispielsweise jede Prozessverzögerung ausgemerzt gehört. Warum Berufungsgerichte, wenn anhand einer Software bereits im
ersten Verfahren, ein Urteil gefunden werden kann? Diese Art zu denken wäre fatal, ideologisch vernebelt und würde einen radikalen Rückbau ziviler Grundlagen unserer Gesellschaft bewirken. Wie gesagt, demokratische Verfahren benötigen ihre Reflexionszeit und wo Menschen gestalterisch wirken, da werden ihre Eigenarten erkenntlich. Das gilt es zu berücksichtigen.
Fazit (Teil 1)
Ethik und Technologie stellt die Gesellschaft vor neue zentrale Überlegungen,
die im Geiste gesellschaftlichen Denkens und Fortschritts bedacht
werden müssen. Es stellt sich die Frage nach einem neuen Ausgleich zwischen
öffentlichen Akteuren und unternehmerischem Handeln, geleitet
von der Frage, wie eine wirksame Arbeitsteilung zwischen diesen Kräften
beschaffen sein kann.
Der klassische Begriff von Informationsethik selbst würde anfänglich darauf zielen, konkrete Festlegungen zu treffen, wie Daten sicher übertragen, gespeichert und genutzt werden können. Diese Frage stellt sich gerade im Rahmen des Ausbaus des Internets der Dinge wesentlich. Die Anzahl an Daten, die durch Kommunikation zwischen Maschinen und der Anwendungen
von Sensoren erhoben wird, erreicht ein davor unbekanntes Ausmaß.
Informationsethik würde also vor allem darauf fokussieren, legale Sicherheitsstandards für diesen Sachverhalt zu erwirken. Die Datenschutzgrundverordnung, die von der Europäischen Union lanciert wurde, bildet diesbezüglich bereits einen globalen Standard.
Informationsethik gemäß eines weiteren Begriffsverständnisses reicht über diese Perspektive hinaus. Es ist wie der Unterschied zwischen Digitalisierung und digitaler Transformation selbst.
Digitalisierung
meint den schlichten Prozess, Informationen in Form von
Daten abzulegen, sie in Form von Bits und Bytes zu speichern, verfügbar
und zugänglich zu halten.
Digitale Transformation
bezeichnet die gesellschaftlichen und unternehmerischen Wandlungsprozesse, die sich auf Grundlage dieses technologischen Fortschritts materialisieren.
Fazit (Teil 2)
Die digitale Transformation verlangt von demokratischen Gesellschaften sich selbst zu befragen, wie von den technologischen Möglichkeiten abseits ideologischer Rhetorik nützlich Gebrauch gemacht werden kann. Es stellt sich die wesentliche Frage, welche Entscheidungen privaten Akteuren überlassen werden und wann gesellschaftliche Rahmenbedingungen
festzulegen sind, die einen gemeinsamen Standard definieren.
Gerade für Europa zeigt sich, dass entsprechende allgemein verbindliche Prinzipien entscheidend wären. Oft wird die technologische Zukunft als eine Konfrontation der wiederaufstrebenden Supermacht China und der vermeintlich absteigenden Supermacht USA gelesen.
Während amerikanische Technologiekonzerne den europäischen Binnenmarkt in einer Form bespielen, dass die europäische Konkurrenz kaum zum Zuge kommt, agiert das zentralistische China in Form von Privat-Public Partnerschaften, um die eigene digitale Transformation voranzubringen.
Die chinesische Vorgehensweise zielt darauf, möglichst viele Daten über gesellschaftliche Vorgänge zu aggregieren. Ziele:
a) Vormachtstellung der kommunistischen Staatspartei absichern,
b) durch das bessere Verständnis von Kundenwünschen die entstehende Mittelklasse mittels eigener Unternehmen zu bedienen
c) über exorbitante Datenmengen zu verfügen, um die beste Künstliche Intelligenz zu entwickeln
Die alles geschieht in der Absicht, bei dieser industriellen Revolution Vorreiter zu sein und nicht wie bei der I. Industriellen Revolution von anderen Mächten überholt zu werden und zwei Jahrhunderte lang in den Rückstand zu geraten. Diese strategische Überlegung führt die Entscheidungen.
Fazit (Teil 3)
Wo also könnte sich Europas Perspektive finden?
Das entscheidende Experiment für Europa mag darin liegen, die Vorteile der technologischen Revolution eigenständig so anzuwenden, dass sie mit den Grundprinzipien demokratischer
Gesellschaften einen lebenswerten Ausgleich findet. Diese Aufgabe und der Imperativ, dass Technologie dann Sinn ergibt, wenn sie vor allem dabei unterstützt, den ökologischen Kollaps abzuwenden, mögen Leitplanken des eigenen Entwicklungshorizonts sein.
Die Nutzung von Technologie reflektiert immer die politische Ökonomie bestehender Verhältnisse. Sie wird durch manifeste Interessen strukturiert. Heute wurden grundsätzliche Funktionen des Internets, seien es die Suche nach Informationen oder die Vernetzung von Personen vor allem privatisiert, monopolisiert und ökonomisiert. Es stellt sich die Frage, ob das weiter so gehandhabt werden soll oder ob es sich um einen so notwendigen Service handelt, dass er öffentlich und nicht kommerziell organisiert werden sollte.
In diesem Zuge wird der oligopolistische Zugang, den die dominanten US-Konzerne zeigen anders sein als der zentralistische Instanzenzug in China. Europa wird auf Basis eines eigenen Selbstbewusstseins womöglich eigenständig herausfinden müssen, welchen Anforderungen Technologie zu entsprechen hat. Diese resultierenden Lösungen können nicht nur Interesse am Weltmarkt wecken, sondern auch den Fortschritt in ein besseres Zeitalter weisen. Das darf nicht im Geiste eines solipsistischen Übermuts geschehen, der meint, Europa wäre weiterhin das eigentliche Zentrum der Welt. Weit gefehlt.
Vielmehr geht es darum, sich eine mutige Rolle zuzumessen, in unternehmerische Vielfalt zu vertrauen, öffentliche Akteure mit Selbstbewusstsein auszustatten, um der digitalen Weltgemeinschaft einen interessanten Selbstversuch zu präsentieren.
Fazit (Teil 4)
Denn eines gilt es auch schonungslos anzuerkennen: Momentan machen wir von den vorhandenen Möglichkeiten nicht nur zu wenig, sondern vor allem zu unreflektiert Gebrauch. Technologischer Fortschritt führt zur sozialen Ausdifferenzierung, soziale Netzwerke begründen politische Radikalisierung, Mobilität belastet das Ökosystem, Software unterstützt manchmal den menschlichen Geist weniger, als dass sie verlangt, gegen ihn erfolglos zu konkurrieren.
Was bedeuten die anstehenden Verändungen? Zwei Theorien
1. Theorie
Die Gesellschaft steht am Beginn eines exzeptionellen Zeitalters. Die ubiquitäre Verfügbarkeit von Information und Wissen wäre in der Geschichte menschlicher Zivilisation ohne Vorbild und kenne keine ähnlich gelagerte Erfahrung. Die Überzeugung, ohne Vorbild zu agieren, verursacht den Eindruck, nicht nur einen Bruchpunkt in der geschichtlichen Entwicklung menschlicher Gesellschaften zu markieren, sondern aus der bisherigen Geschichte selbst auszutreten.
Was meint diese Hypothese? Als technologische Zivilisation betrachten wir uns weniger als Teil eines historischen Prozesses, sondern als eine Art Neustart und Neubeginn. Als ökonomisches Erklärungsmuster mag diese Auffassung Berechtigung haben, auch wenn sich hier immanente und beschleunigte Kontinuitäten ausmachen. Als historische Entwicklungsgeschichte hingegen erscheint die Auffassung irreführend.
Fazit (Teil 5)
2. Theorie
Bezeichnenderweise lässt sich anhand der Argumentationslinien von zwei renommierten Historikern ein zweiter Erklärungshorizont ausmachen. Der Ansatz besagt, dass sich auch die heutigen Transformationen sowohl durch historische Vergleiche kanonisieren ließen, als auch durch die Permanenz lassischer Realpolitik ein Erklärungsmuster findet.
Timothy Snyder, ein in Yale lehrender Historiker, erklärt, wie die Ausbreitung des Internets und die Entwicklung von Demokratien zusammenhängen.
Ausgehend vom Jahr 2018 stellt er rückblickend fest, dass in den zwölf Jahren davor der Anteil der Weltbevölkerung, der regelmäßig im Internet surft, von knapp 20 % auf rund 60 % angestiegen sei. Im selben Zeitraum lässt sich gemäß der Analyse von Freedom House, eine renommierte und unabhängige NGO, ein globaler Rückzug demokratischer Standards und der verstärkte Aufstieg des Autoritarismus beobachten. Die einzige Region, die diesbezüglich eine Ausnahme darstellen würde, wäre der afrikanische Kontinent.
Hier lässt sich zumindest eine Korrelation feststellen, wenn nicht sogar eine Kausalität ausmachen. Der Historiker führt diese einschneidende Entwicklung unter anderem darauf zurück, dass Austausch im Internet unter anderem den faktenbasierten Diskurs zerstören würde, der demokratisches Agieren ermöglicht.
Fakten und die Relevanz von Fakten wären aber auch die Voraussetzung dafür, machthabende Institutionen für ihr Handeln verantwortlich zu halten. Nur wenn Fakten Bedeutung haben, lassen sich Mächtige zur Verantwortung ziehen.
Fazit (Teil 6)
Form und Handhabung des Internets wirken diesem faktenbasierten Diskurs aus zwei Gründen entgegen: Internetbasierte Kommunikation fördert Ablenkung.
Wenn beispielsweise der eigene Newsfeed auf den sozialen Plattformen betrachtet wird, dann zeigt sich, dass dort entscheidende Nachrichten gleichgereiht mit Trivialität und schlichten Falschbehauptungen rangieren.
Das führt zur Ablenkung, verunmöglicht Konzentration und begründet die Verkennung der Bedeutung von wahren Sachverhalten. Die demokratische Urteilskraft kritischer BürgerInnen schwindet. Der andere entscheidende Grund liegt seiner Auffassung nach in der bereits beschriebenen Stärkung der eigenen Vorurteile durch die Darstellung bevorzugter Suchresultate und Inhalte entsprechend eigener Vorlieben. Das Internet wird also nicht mehr zum geteilten Gemeinschaftsraum, sondern zersplittert in individualisierte Erfahrungswelten aufgrund von algorithmischer Segregation.
Diese Faktoren erschweren die demokratische Auseinandersetzung und stützen eher autoritäre Strömungen, die gerade auch bei freien Wahlen vor allem soziale Medien mit entsprechenden Botschaften geschickt zu bespielen verstehen. Sie profitieren von der Polarisierung. Was also heute den Internet-Diskurs bestimmt, wäre eine politische Auseinandersetzung, die
dem zivilen Austausch besserer Argumente entgegensteht.
Fazit (Teil 7)
Die Grafik visualisiert die Ergebnisse einer Studie, die dokumentiert, wie oft und von wem Tweets mit moralischen Aussagen zu Themen wie dem Klimawandel, Schusswaffenkontrolle und gleichgeschlechtlicher Ehe in den USA geteilt werden. 563.312 Tweets von amerikanischen Twitter-NutzerInnen wurden dabei ausgewertet. Die roten Punkte sind einer konservativen Einstellung zuzuordnen, die blauen einer liberalen.
Es zeigt sich, dass nur die wenigsten Botschaften übergreifend geteilt werden, vielmehr finden die Messages innerhalb der klar teilbaren, fast hermetischen Präferenzgruppen Verbreitung, eine ausgleichende Mitte erodiert.
Gleich seinem in Stanford lehrenden Kollegen, Niall Ferguson, erkennt auch Timothy Snyder für die gegenwärtigen Entwicklungen einen Bezugspunkt in der Entdeckung des Buchdrucks. Niall Ferguson dekliniert des Weiteren, dass in der heutigen Erwartungshaltung durch allgemeine Vernetzung eine gleichgesinnte und progressive Gemeinschaft entstehen würde, die sich durch naive Fehlannahmen wie einst beim Beginn des Buchdrucks wiederholt.
Der Buchdruck selbst begründet die Reformation. Martin Luther gab sich überzeugt davon, dass die eigenständige Lektüre der Bibel zwangsläufig in der Eintracht des Priestertums aller Gläubigen resultieren würde, von der die Bibel spricht. Die Folge war stattdessen ein Jahrhundert an Glaubenskriegen.
Denn nicht nur die Bibel fand plötzliche rasante Verbreitung durch die Vervielfältigung mittels Druckerpresse, sondern in Folge gingen auch schlichte Falschmeldungen viral. Beispielsweise diejenige, dass Hexen mitten in Gemeinschaften leben würden, und diese unbedingt getötet werden müssten. Großer Beliebtheit erfreute sich beispielsweise das
Werk Malleus Maleficarum – zu Deutsch: Der Hexenhammer. In 29 Auflagen
erschienen, erstmals 1486 veröffentlicht, bildet das Werk 200 Jahre lang einen Bestseller, übertroffen nur durch die Absatzzahlen der Bibel. In dem Werk selbst erklärte der Theologe Dominik Krammer, wie sich Hexen, die mit Satan im Bunde stehen, identifizieren lassen und plädiert für die Todesstrafe, als wirksamstes Gegenmittel gegen die Übel der Hexerei. Die
Popularität des Buches und seine schändlichen Folgen belegen, wie sehr die reformatorische Erwartungshaltung unterlaufen wurde, dass schlicht aufgrund der Vervielfältigung der Bibel, Friedfertigkeit automatisch obsiegen müsse.
Fazit (Teil 8)
Im britischen Canterbury findet sich noch immer eine grausame Hinterlassenschaft, die die Manie just dieses Zeitalters begreifen lässt. Das besagte Gerät, das dort als Mahnmal steht, nennt sich Old Witches‘ Ducking Stool.
Der Old Witches‘ Ducking Stool befindet sich noch immer direkt im Zentrum der mittelalterlichen Stadt, am Ufer des Flusses Stour. Es handelt sich dabei um einen Tauchstuhl, der dafür genutzt wurde, Frauen zu quälen oder zu ermorden, die als Hexen denunziert wurden.
Das exerzierte Verfahren lief dabei immer gleich ab: Wenn eine Person in der Stadt als Hexe gebrandmarkt war, dann wurde sie öffentlich abgeführt, die ekstatische und hysterische Menge bewarf die Person häufig mit Exkrementen und Dreck. Die Frau wurde in Folge an den Stuhl gebunden und in den Fluss getaucht. Überlebte sie die Qualen, dann galt das als unwiderlegbarer Beleg dafür, dass die Angeklagte über übernatürliche Kräfte verfügte, mit Satan im Bunde stand, ihr der Prozess wegen Hexerei gemacht und sie schließlich am Scheiterhaufen verbrannt wurde. Starb die Person hingegen bereits, als sie noch am Stuhl angebunden war und getaucht wurde, dann wurde der Irrtum offiziell bedauert, die Person galt als unschuldig und die Hinterbliebenen erhielten ein offizielles Entschuldigungsschreiben
seitens der Kirche.
Sowohl Timothy Snyder als auch Niall Ferguson argumentieren, dass die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen durchaus mit historischem Beispiel und politischer Vergleichbarkeit ausgestattet wären. Alle Entwicklungen im Zuge der digitalen Transformation sind als Teil der geschichtlichen Vorgänge des menschlichen Zivilisationsprozesses zu verstehen – und dieser Zivilisationsprozess agiert nun mal auf Vor- und Rückschritte, auf Grundlage menschlicher Fähigkeiten.
Fazit (Teil 9)
Eine andere Erkenntnis: die Zeit, welche in die in sozialen Medien investiert wird, braucht das politische Engagement von Individuen auf. Was ist damit gemeint? Ist eine Person über eine Angelegenheit auch noch so berechtigt empört, ein Facebook-Post zum Thema wird die reale Situation nicht ändern. Zivilgesellschaftliches Engagement findet noch immer im realen Raum statt, verlangt nach physischer Präsenz. Die misslungene Revolution in Ägypten, die zum Symbol für das Scheitern des Arabischen Frühlings wurde, wirkt als bezeichnender Sachverhalt dafür. Um sie skizzenhaft zu rekapitulieren: Der Aufstand in Ägypten setzte damit an, dass der Unmut gegen den Machthaber Hosni Mubarak immer virulenter wurde. Die Opposition begann, die sozialen Medien gekonnt zu bespielen, gleichgesinnte Gruppen fanden sich zusammen und tauschten ihre Empörung miteinander aus. Die Sicherheitsorgane im Land sahen sich gezwungen, darauf zu reagieren. Sie versuchten das Land vom Netz zu nehmen, indem die Telekommunikation eingeschränkt oder versuchsweise unterbunden wurde. Als Reaktion darauf, dass die interaktive Kommunikation erschwert wurde, entschlossen sich die oppositionellen Gruppen, sich vom virtuellen Raum auf die Straße zu begeben. So entstand die Massenbewegung, die sich am Tharir-Platz einfand, und plötzlich zur national und international wahrnehmbaren Kraft anwuchs.
Erstmals wahrnehmbar im öffentlichen Raum präsent, verkörperte die Gruppe eindrücklich den großen Unmut einer Gesellschaft mit den Machthabern. Die Gruppe wurde zum politischen Faktor, dem sich immer mehr BürgerInnen anschlossen und der schließlich zum Sturz des autoritären Regimes unter Hosni Mubarak führte. Der weitere Gang der Ereignisse führte zur Machtübernahme zuerst von theokratischen Antidemokraten, die schließlich vom Militär gestürzt wurden, das nun weiterhin im Jahr 2019 auch die zivile Macht innehat. Eine Diktatur – gestützt auf Geheimdienste, Sicherheitsapparat und Militär unter Führung des General Abd al-Fattah as-Sisi.
Fazit (Teil 10)
Wer heute mit ägyptischen AktivistInnen spricht, erfährt, dass die Situation im Hinblick auf die bürgerliche Freiheit manchmal restriktiver erscheint, als unter der Herrschaft von Hosni Mubarak. Die Revolution hat teils zur Verschlechterung der Lebensrealitäten geführt. Wenn das tatsächlich der Fall wäre, warum findet sich die ägyptische Bevölkerung nicht wieder im öffentlichen Raum ein, um für die demokratische Veränderung gleich couragiert wie einst aufzustehen? AktivistInnen erklären, dass die Sicherheitsapparate vor allem eine Lehre aus dem Sturz des Mubarak-Regimes gezogen hätten.
Diese Lehre würde lauten, dass sich Unmut ruhig im virtuellen Raum breit machen kann. Solange er sich dort kanalisiert, stellt die Kritik keine Bedrohung dar. Der entscheidende Fehler, der einst geschehen ist, wäre es gewesen, die Leute auf die Straße zu bringen, weil sie gezwungen waren, ihre Online-Welt zu verlassen. Wichtig wäre es stattdessen, die Personen genau dort zu belassen – im virtuellen Raum. Dort echauffieren sie sich zwar über die unerträglichen Verhältnisse, ihr Aktivismus verhallt jedoch gefahrlos, an der realen Situation ändert sich wenig, für die autoritären Machthaber besteht also wenig Gefahr und kein Grund zum Einschreiten.
Fazit (Teil 11)
Die Geschehnisse, die gegenwärtig den Lauf der Zeit bestimmen, lassen sich in historischer Perspektive als eine Auseinandersetzung über die Ausgestaltung des menschlichen Zusammenlebens interpretieren. Die technologische Zukunft gehört also neu gedacht und auf Basis gemachter Erfahrungen Veränderungen erwirkt. So wirkt Fortschritt. Die Schwierigkeit, der wir heute oft begegnen, besteht darin, dass bereits verstanden wird, wie radikal anders die Ordnung der Dinge sein wird können. Wir sehen also bereits, was alles vergehen wird – ohne bisher erkennen zu können, was stattdessen Besseres entstehen könne. Daher rührt die Verunsicherung.
Die Zeiten künden von einer radikalen Zäsur, die aber überfällig ist. Progressivität bedeutet nun, der Einstellung anzuhängen, dass die Zukunft besser wäre als die Vergangenheit oder Gegenwart, weil an ihr gewirkt werden kann und aus den gemachten Fehlern Lehren gezogen werden.
Fortschritt meint in diesem Sinne nicht die Perfektionierung der Verhältnisse, sondern allein die schlichte Verbesserung wäre der nützliche Maßstab.
Wer sich für den Nutzen der digitalen Transformation einsetzt, wird auch die kommunikative Überzeugungsarbeit leisten müssen, diese Einstellung zu vermitteln und sich der ethischen Folgewirkung mutig zu stellen.