Informationsethik
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Informationsethik
Kartei Details
Karten | 107 |
---|---|
Sprache | Deutsch |
Kategorie | Marketing |
Stufe | Universität |
Erstellt / Aktualisiert | 27.10.2021 / 28.10.2021 |
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Die Moral der Disruption (Teil 8)
Auch im Hinblick auf einen anderen Trend wird Uber als disruptive Macht erachtet: Es handelt sich dabei um die Transformation der Arbeitswelt, noch bevor die absehbaren Konsequenzen des autonomen Fahrens schlagend werden. Der praktizierte Ansatz besagt, dass jede Person faktisch ungebunden ins Mobilitätsgeschäft einsteigen kann und sei es auch nur, um Fahrten anderen anzubieten, die sowieso absolviert werden müssen. Diese Form der Flexibilität soll es sowohl AnbieterInnen als aus NutzerInnen von Diensten flexibel erlauben, vorhandene Ressourcen effektiv zu teilen – im Falle von Uber wären das nun die Zeitressource, ein Vehikel, Geld oder Wege, die zu bewältigen wären. Bei Airbnb, das den Nächtigungsmarkt umkrempelt und eine ähnliche disruptive Strategie in Europa wie Uber verfolgt, wären es dann Wohnraum, Geld und Übernachtungsmöglichkeit.
Beide Unternehmen, wie unzählige andere auch, betrachten sich als reine Plattformen. Ihrem Argument nach agieren sie als schlichte Vermittler von Dienstleistungen. Das geschieht deshalb, weil sie sonst, wenn sie wie andere Branchenreisen erschienen, anderen Branchenregulierungen Folge leisten müssten und in den USA andere Steuertarife wirksam wären.
Die Moral der Disruption (Teil 9)
Entscheidend wirkt es, den Erfolg dieser Plattformen auch vor dem Hintergrund
sozialer Entwicklungen zu sehen. Im Verlauf des letzten Jahrzehnts hat der soziale Ausgleich abgenommen, Lohneinkommen gehen gegenüber Kapitalerträgen markant zurück. Diese gesellschaftliche Disparität verstärkte zweifellos die erwiesenen Erfolgspotenziale der Plattformen: Airbnb bietet als willkommener Service viele Vorteile. Es flexibilisiert Reisen und modernes Wohnen, setzt gerade der zyklischen Preisentwicklung im Hotelsektor bei beliebten Destinationen eine wirksame Kraft im Interesse der TouristInnen entgegen. Doch sollte diese Perspektive nicht übersehen, dass für viele Airbnb schlicht eine notwendige Lösung dafür darstellt, mit stagnierenden Löhnen und steigenden Mietpreisen in Ballungszentren umzugehen.
Wenn ein Zimmer nicht aus freien Stücken vermietet wird, sondern deshalb, weil sonst die Kosten für die eigene Wohnung nicht mehr bestritten werden können, dann zeigt sich ein ganz anderes Bild: Soziale Schieflagen und verschobene politische Machtverhältnisse würden nicht mehr als gesellschaftliche Unzulänglichkeiten erkannt, die offen diskutiert werden sollten, sondern schlicht als eine unternehmerische Chance genutzt, der disruptiv entgegengewirkt werden muss. Darin besteht die Kommerzialisierung aller gesellschaftlichen Herausforderungen in Form einer Business-Opportunity und die Entpolitisierung sozialer Schieflagen.
Der Erfolg von Plattformen zeigt sich beispielsweise in den USA gerade darin, angesichts stagnierender Einkommen und einer Beschränkung der Konsumentenkredite nach erschwinglichen Möglichkeiten zu suchen. Die Reallöhne der amerikanischen Arbeiter sind seit 1979 niedrig. Ein beträchtlicher Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrads, die Auslagerung der Produktion im Rahmen der Globalisierung und die Verringerung des Anteils der Arbeitseinkommen sind Faktoren, die zu dieser Stagnation beigetragen haben.
[Weiters, Anm.] […] gibt es ein auf Abruf verfügbares Arbeitskräftepotential.
In Amerika sind 37 Prozent der arbeitenden Bevölkerung, also 92 Millionen Menschen, ohne
dauerhafte Beschäftigung und scheinen die Suche nach Vollzeitjobs aufgegeben zu haben. Daneben gibt es viele andere, die von einem einzigen Job nicht leben können.
Die Moral der Disruption (Teil 10)
Die vermeintliche Flexibilität, die Plattformen bieten – oft auch Plattform-Ökonomie
genannt - werden vor diesem Erklärungshintergrund zu einer
Ökonomisierung des Umgangs mit gesellschaftlichen Fehlentwicklungen.
Sharing Economy hätte zweifellos das Potenzial, unsere Gesellschaften
nachhaltiger, ressourceneffizienter, egalitärer, flexibler, wohlhabender zu
machen. Die Idee würde auch mit der gelebten Einstellung von Personengruppen
oder Generationen korrespondieren, die es für ein einleuchtendes
Konzept halten, dass Gegenstände nicht unbedingt als Besitz benötigt werden,
nur um sie zu brauchen. Doch markiert es einen bedeutsamen Unterschied,
ob diese Entscheidung aus überlegten und freiwilligen Motiven
heraus geschieht oder ob sie ein Anzeichen wachsender Bedrängnis ist.
Vermietet jemand sein Gästezimmer, um mit Leuten aus aller Welt in Kontakt
zu kommen, einladend in der eigenen Stadt zu wirken, ein flexibles
Zusatzeinkommen nach Wunsch zu generieren, dann stellt sich die Situation
radikal anders da, als wenn jemand den Schlafplatz deshalb regelmäßig
anbietet, weil sonst die eigenen Wohnkosten nicht mehr bestritten werden
können. Die eine Entscheidung bildet eine Wahl in Freiheit, die andere wäre
Ausdruck einer objektiven Notwendigkeit und damit Gängelung der Unfreiheit.
Der weißrussische Publizist Evgeny Morozov definiert den Wesenszug, jede
gesellschaftliche Schieflage vor allem als ein potenzielles Anwendungsfeld
wirksamer Technologie zu erachten, als Solutionismus.
Solutionismus meint dabei die ideologische Auffassung, dass allen existierenden
Problemen eine klar definierbare und eindeutige technologische Lösung zugedacht werden kann
Die Moral der Disruption (Teil 11)
Dieser Ansatz verkennt, dass manche gesellschaftlichen Mechanismen schlicht vermeintliche und merkliche Ineffizienzen begründen. Nicht alle Phänomene, die schwerfällig wirken, können sinnvoll beschleunigt werden.
Die Verfahrensweisen demokratischer Institutionen sind beispielsweise bewusst auf Ausgleich und damit Verzögerung angelegt. Um es übertrieben, aber eindrücklich zu formulieren: Wenn Schnelligkeit also zum einzigen Gebot wird, dann macht die zweite und dritte Lesung eines Gesetzes in parlamentarischen Kammern keinen Sinn. Insofern erscheint es wichtig, anzuerkennen, warum manche Verfahren schlicht ihre eigene Logik durchlaufen und manche Ineffizienz durchaus ihre Berechtigung hätte und Bedeutung erfährt.
Das soll nun nicht dahin führen, dass alle existierenden Prozesse sich damit immunisieren lassen, dass sie bereits gelebte Praxis und somit erzielbares Optimum darstellen. Aber das andere Extrem liegt in dem technophilen Ansatz des Solutionismus, dass sich alles radikal aufgrund von Technologie erneuern muss, weil beispielsweise jede Prozessverzögerung ausgemerzt gehört. Warum Berufungsgerichte, wenn anhand einer Software bereits im
ersten Verfahren, ein Urteil gefunden werden kann? Diese Art zu denken wäre fatal, ideologisch vernebelt und würde einen radikalen Rückbau ziviler Grundlagen unserer Gesellschaft bewirken. Wie gesagt, demokratische Verfahren benötigen ihre Reflexionszeit und wo Menschen gestalterisch wirken, da werden ihre Eigenarten erkenntlich. Das gilt es zu berücksichtigen.
Fazit (Teil 1)
Ethik und Technologie stellt die Gesellschaft vor neue zentrale Überlegungen,
die im Geiste gesellschaftlichen Denkens und Fortschritts bedacht
werden müssen. Es stellt sich die Frage nach einem neuen Ausgleich zwischen
öffentlichen Akteuren und unternehmerischem Handeln, geleitet
von der Frage, wie eine wirksame Arbeitsteilung zwischen diesen Kräften
beschaffen sein kann.
Der klassische Begriff von Informationsethik selbst würde anfänglich darauf zielen, konkrete Festlegungen zu treffen, wie Daten sicher übertragen, gespeichert und genutzt werden können. Diese Frage stellt sich gerade im Rahmen des Ausbaus des Internets der Dinge wesentlich. Die Anzahl an Daten, die durch Kommunikation zwischen Maschinen und der Anwendungen
von Sensoren erhoben wird, erreicht ein davor unbekanntes Ausmaß.
Informationsethik würde also vor allem darauf fokussieren, legale Sicherheitsstandards für diesen Sachverhalt zu erwirken. Die Datenschutzgrundverordnung, die von der Europäischen Union lanciert wurde, bildet diesbezüglich bereits einen globalen Standard.
Informationsethik gemäß eines weiteren Begriffsverständnisses reicht über diese Perspektive hinaus. Es ist wie der Unterschied zwischen Digitalisierung und digitaler Transformation selbst.
Digitalisierung
meint den schlichten Prozess, Informationen in Form von
Daten abzulegen, sie in Form von Bits und Bytes zu speichern, verfügbar
und zugänglich zu halten.
Digitale Transformation
bezeichnet die gesellschaftlichen und unternehmerischen Wandlungsprozesse, die sich auf Grundlage dieses technologischen Fortschritts materialisieren.
Fazit (Teil 2)
Die digitale Transformation verlangt von demokratischen Gesellschaften sich selbst zu befragen, wie von den technologischen Möglichkeiten abseits ideologischer Rhetorik nützlich Gebrauch gemacht werden kann. Es stellt sich die wesentliche Frage, welche Entscheidungen privaten Akteuren überlassen werden und wann gesellschaftliche Rahmenbedingungen
festzulegen sind, die einen gemeinsamen Standard definieren.
Gerade für Europa zeigt sich, dass entsprechende allgemein verbindliche Prinzipien entscheidend wären. Oft wird die technologische Zukunft als eine Konfrontation der wiederaufstrebenden Supermacht China und der vermeintlich absteigenden Supermacht USA gelesen.
Während amerikanische Technologiekonzerne den europäischen Binnenmarkt in einer Form bespielen, dass die europäische Konkurrenz kaum zum Zuge kommt, agiert das zentralistische China in Form von Privat-Public Partnerschaften, um die eigene digitale Transformation voranzubringen.
Die chinesische Vorgehensweise zielt darauf, möglichst viele Daten über gesellschaftliche Vorgänge zu aggregieren. Ziele:
a) Vormachtstellung der kommunistischen Staatspartei absichern,
b) durch das bessere Verständnis von Kundenwünschen die entstehende Mittelklasse mittels eigener Unternehmen zu bedienen
c) über exorbitante Datenmengen zu verfügen, um die beste Künstliche Intelligenz zu entwickeln
Die alles geschieht in der Absicht, bei dieser industriellen Revolution Vorreiter zu sein und nicht wie bei der I. Industriellen Revolution von anderen Mächten überholt zu werden und zwei Jahrhunderte lang in den Rückstand zu geraten. Diese strategische Überlegung führt die Entscheidungen.
Fazit (Teil 3)
Wo also könnte sich Europas Perspektive finden?
Das entscheidende Experiment für Europa mag darin liegen, die Vorteile der technologischen Revolution eigenständig so anzuwenden, dass sie mit den Grundprinzipien demokratischer
Gesellschaften einen lebenswerten Ausgleich findet. Diese Aufgabe und der Imperativ, dass Technologie dann Sinn ergibt, wenn sie vor allem dabei unterstützt, den ökologischen Kollaps abzuwenden, mögen Leitplanken des eigenen Entwicklungshorizonts sein.
Die Nutzung von Technologie reflektiert immer die politische Ökonomie bestehender Verhältnisse. Sie wird durch manifeste Interessen strukturiert. Heute wurden grundsätzliche Funktionen des Internets, seien es die Suche nach Informationen oder die Vernetzung von Personen vor allem privatisiert, monopolisiert und ökonomisiert. Es stellt sich die Frage, ob das weiter so gehandhabt werden soll oder ob es sich um einen so notwendigen Service handelt, dass er öffentlich und nicht kommerziell organisiert werden sollte.
In diesem Zuge wird der oligopolistische Zugang, den die dominanten US-Konzerne zeigen anders sein als der zentralistische Instanzenzug in China. Europa wird auf Basis eines eigenen Selbstbewusstseins womöglich eigenständig herausfinden müssen, welchen Anforderungen Technologie zu entsprechen hat. Diese resultierenden Lösungen können nicht nur Interesse am Weltmarkt wecken, sondern auch den Fortschritt in ein besseres Zeitalter weisen. Das darf nicht im Geiste eines solipsistischen Übermuts geschehen, der meint, Europa wäre weiterhin das eigentliche Zentrum der Welt. Weit gefehlt.
Vielmehr geht es darum, sich eine mutige Rolle zuzumessen, in unternehmerische Vielfalt zu vertrauen, öffentliche Akteure mit Selbstbewusstsein auszustatten, um der digitalen Weltgemeinschaft einen interessanten Selbstversuch zu präsentieren.
Fazit (Teil 4)
Denn eines gilt es auch schonungslos anzuerkennen: Momentan machen wir von den vorhandenen Möglichkeiten nicht nur zu wenig, sondern vor allem zu unreflektiert Gebrauch. Technologischer Fortschritt führt zur sozialen Ausdifferenzierung, soziale Netzwerke begründen politische Radikalisierung, Mobilität belastet das Ökosystem, Software unterstützt manchmal den menschlichen Geist weniger, als dass sie verlangt, gegen ihn erfolglos zu konkurrieren.
Was bedeuten die anstehenden Verändungen? Zwei Theorien
1. Theorie
Die Gesellschaft steht am Beginn eines exzeptionellen Zeitalters. Die ubiquitäre Verfügbarkeit von Information und Wissen wäre in der Geschichte menschlicher Zivilisation ohne Vorbild und kenne keine ähnlich gelagerte Erfahrung. Die Überzeugung, ohne Vorbild zu agieren, verursacht den Eindruck, nicht nur einen Bruchpunkt in der geschichtlichen Entwicklung menschlicher Gesellschaften zu markieren, sondern aus der bisherigen Geschichte selbst auszutreten.
Was meint diese Hypothese? Als technologische Zivilisation betrachten wir uns weniger als Teil eines historischen Prozesses, sondern als eine Art Neustart und Neubeginn. Als ökonomisches Erklärungsmuster mag diese Auffassung Berechtigung haben, auch wenn sich hier immanente und beschleunigte Kontinuitäten ausmachen. Als historische Entwicklungsgeschichte hingegen erscheint die Auffassung irreführend.
Fazit (Teil 5)
2. Theorie
Bezeichnenderweise lässt sich anhand der Argumentationslinien von zwei renommierten Historikern ein zweiter Erklärungshorizont ausmachen. Der Ansatz besagt, dass sich auch die heutigen Transformationen sowohl durch historische Vergleiche kanonisieren ließen, als auch durch die Permanenz lassischer Realpolitik ein Erklärungsmuster findet.
Timothy Snyder, ein in Yale lehrender Historiker, erklärt, wie die Ausbreitung des Internets und die Entwicklung von Demokratien zusammenhängen.
Ausgehend vom Jahr 2018 stellt er rückblickend fest, dass in den zwölf Jahren davor der Anteil der Weltbevölkerung, der regelmäßig im Internet surft, von knapp 20 % auf rund 60 % angestiegen sei. Im selben Zeitraum lässt sich gemäß der Analyse von Freedom House, eine renommierte und unabhängige NGO, ein globaler Rückzug demokratischer Standards und der verstärkte Aufstieg des Autoritarismus beobachten. Die einzige Region, die diesbezüglich eine Ausnahme darstellen würde, wäre der afrikanische Kontinent.
Hier lässt sich zumindest eine Korrelation feststellen, wenn nicht sogar eine Kausalität ausmachen. Der Historiker führt diese einschneidende Entwicklung unter anderem darauf zurück, dass Austausch im Internet unter anderem den faktenbasierten Diskurs zerstören würde, der demokratisches Agieren ermöglicht.
Fakten und die Relevanz von Fakten wären aber auch die Voraussetzung dafür, machthabende Institutionen für ihr Handeln verantwortlich zu halten. Nur wenn Fakten Bedeutung haben, lassen sich Mächtige zur Verantwortung ziehen.
Fazit (Teil 6)
Form und Handhabung des Internets wirken diesem faktenbasierten Diskurs aus zwei Gründen entgegen: Internetbasierte Kommunikation fördert Ablenkung.
Wenn beispielsweise der eigene Newsfeed auf den sozialen Plattformen betrachtet wird, dann zeigt sich, dass dort entscheidende Nachrichten gleichgereiht mit Trivialität und schlichten Falschbehauptungen rangieren.
Das führt zur Ablenkung, verunmöglicht Konzentration und begründet die Verkennung der Bedeutung von wahren Sachverhalten. Die demokratische Urteilskraft kritischer BürgerInnen schwindet. Der andere entscheidende Grund liegt seiner Auffassung nach in der bereits beschriebenen Stärkung der eigenen Vorurteile durch die Darstellung bevorzugter Suchresultate und Inhalte entsprechend eigener Vorlieben. Das Internet wird also nicht mehr zum geteilten Gemeinschaftsraum, sondern zersplittert in individualisierte Erfahrungswelten aufgrund von algorithmischer Segregation.
Diese Faktoren erschweren die demokratische Auseinandersetzung und stützen eher autoritäre Strömungen, die gerade auch bei freien Wahlen vor allem soziale Medien mit entsprechenden Botschaften geschickt zu bespielen verstehen. Sie profitieren von der Polarisierung. Was also heute den Internet-Diskurs bestimmt, wäre eine politische Auseinandersetzung, die
dem zivilen Austausch besserer Argumente entgegensteht.
Fazit (Teil 7)
Die Grafik visualisiert die Ergebnisse einer Studie, die dokumentiert, wie oft und von wem Tweets mit moralischen Aussagen zu Themen wie dem Klimawandel, Schusswaffenkontrolle und gleichgeschlechtlicher Ehe in den USA geteilt werden. 563.312 Tweets von amerikanischen Twitter-NutzerInnen wurden dabei ausgewertet. Die roten Punkte sind einer konservativen Einstellung zuzuordnen, die blauen einer liberalen.
Es zeigt sich, dass nur die wenigsten Botschaften übergreifend geteilt werden, vielmehr finden die Messages innerhalb der klar teilbaren, fast hermetischen Präferenzgruppen Verbreitung, eine ausgleichende Mitte erodiert.
Gleich seinem in Stanford lehrenden Kollegen, Niall Ferguson, erkennt auch Timothy Snyder für die gegenwärtigen Entwicklungen einen Bezugspunkt in der Entdeckung des Buchdrucks. Niall Ferguson dekliniert des Weiteren, dass in der heutigen Erwartungshaltung durch allgemeine Vernetzung eine gleichgesinnte und progressive Gemeinschaft entstehen würde, die sich durch naive Fehlannahmen wie einst beim Beginn des Buchdrucks wiederholt.
Der Buchdruck selbst begründet die Reformation. Martin Luther gab sich überzeugt davon, dass die eigenständige Lektüre der Bibel zwangsläufig in der Eintracht des Priestertums aller Gläubigen resultieren würde, von der die Bibel spricht. Die Folge war stattdessen ein Jahrhundert an Glaubenskriegen.
Denn nicht nur die Bibel fand plötzliche rasante Verbreitung durch die Vervielfältigung mittels Druckerpresse, sondern in Folge gingen auch schlichte Falschmeldungen viral. Beispielsweise diejenige, dass Hexen mitten in Gemeinschaften leben würden, und diese unbedingt getötet werden müssten. Großer Beliebtheit erfreute sich beispielsweise das
Werk Malleus Maleficarum – zu Deutsch: Der Hexenhammer. In 29 Auflagen
erschienen, erstmals 1486 veröffentlicht, bildet das Werk 200 Jahre lang einen Bestseller, übertroffen nur durch die Absatzzahlen der Bibel. In dem Werk selbst erklärte der Theologe Dominik Krammer, wie sich Hexen, die mit Satan im Bunde stehen, identifizieren lassen und plädiert für die Todesstrafe, als wirksamstes Gegenmittel gegen die Übel der Hexerei. Die
Popularität des Buches und seine schändlichen Folgen belegen, wie sehr die reformatorische Erwartungshaltung unterlaufen wurde, dass schlicht aufgrund der Vervielfältigung der Bibel, Friedfertigkeit automatisch obsiegen müsse.
Fazit (Teil 8)
Im britischen Canterbury findet sich noch immer eine grausame Hinterlassenschaft, die die Manie just dieses Zeitalters begreifen lässt. Das besagte Gerät, das dort als Mahnmal steht, nennt sich Old Witches‘ Ducking Stool.
Der Old Witches‘ Ducking Stool befindet sich noch immer direkt im Zentrum der mittelalterlichen Stadt, am Ufer des Flusses Stour. Es handelt sich dabei um einen Tauchstuhl, der dafür genutzt wurde, Frauen zu quälen oder zu ermorden, die als Hexen denunziert wurden.
Das exerzierte Verfahren lief dabei immer gleich ab: Wenn eine Person in der Stadt als Hexe gebrandmarkt war, dann wurde sie öffentlich abgeführt, die ekstatische und hysterische Menge bewarf die Person häufig mit Exkrementen und Dreck. Die Frau wurde in Folge an den Stuhl gebunden und in den Fluss getaucht. Überlebte sie die Qualen, dann galt das als unwiderlegbarer Beleg dafür, dass die Angeklagte über übernatürliche Kräfte verfügte, mit Satan im Bunde stand, ihr der Prozess wegen Hexerei gemacht und sie schließlich am Scheiterhaufen verbrannt wurde. Starb die Person hingegen bereits, als sie noch am Stuhl angebunden war und getaucht wurde, dann wurde der Irrtum offiziell bedauert, die Person galt als unschuldig und die Hinterbliebenen erhielten ein offizielles Entschuldigungsschreiben
seitens der Kirche.
Sowohl Timothy Snyder als auch Niall Ferguson argumentieren, dass die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen durchaus mit historischem Beispiel und politischer Vergleichbarkeit ausgestattet wären. Alle Entwicklungen im Zuge der digitalen Transformation sind als Teil der geschichtlichen Vorgänge des menschlichen Zivilisationsprozesses zu verstehen – und dieser Zivilisationsprozess agiert nun mal auf Vor- und Rückschritte, auf Grundlage menschlicher Fähigkeiten.
Fazit (Teil 9)
Eine andere Erkenntnis: die Zeit, welche in die in sozialen Medien investiert wird, braucht das politische Engagement von Individuen auf. Was ist damit gemeint? Ist eine Person über eine Angelegenheit auch noch so berechtigt empört, ein Facebook-Post zum Thema wird die reale Situation nicht ändern. Zivilgesellschaftliches Engagement findet noch immer im realen Raum statt, verlangt nach physischer Präsenz. Die misslungene Revolution in Ägypten, die zum Symbol für das Scheitern des Arabischen Frühlings wurde, wirkt als bezeichnender Sachverhalt dafür. Um sie skizzenhaft zu rekapitulieren: Der Aufstand in Ägypten setzte damit an, dass der Unmut gegen den Machthaber Hosni Mubarak immer virulenter wurde. Die Opposition begann, die sozialen Medien gekonnt zu bespielen, gleichgesinnte Gruppen fanden sich zusammen und tauschten ihre Empörung miteinander aus. Die Sicherheitsorgane im Land sahen sich gezwungen, darauf zu reagieren. Sie versuchten das Land vom Netz zu nehmen, indem die Telekommunikation eingeschränkt oder versuchsweise unterbunden wurde. Als Reaktion darauf, dass die interaktive Kommunikation erschwert wurde, entschlossen sich die oppositionellen Gruppen, sich vom virtuellen Raum auf die Straße zu begeben. So entstand die Massenbewegung, die sich am Tharir-Platz einfand, und plötzlich zur national und international wahrnehmbaren Kraft anwuchs.
Erstmals wahrnehmbar im öffentlichen Raum präsent, verkörperte die Gruppe eindrücklich den großen Unmut einer Gesellschaft mit den Machthabern. Die Gruppe wurde zum politischen Faktor, dem sich immer mehr BürgerInnen anschlossen und der schließlich zum Sturz des autoritären Regimes unter Hosni Mubarak führte. Der weitere Gang der Ereignisse führte zur Machtübernahme zuerst von theokratischen Antidemokraten, die schließlich vom Militär gestürzt wurden, das nun weiterhin im Jahr 2019 auch die zivile Macht innehat. Eine Diktatur – gestützt auf Geheimdienste, Sicherheitsapparat und Militär unter Führung des General Abd al-Fattah as-Sisi.
Fazit (Teil 10)
Wer heute mit ägyptischen AktivistInnen spricht, erfährt, dass die Situation im Hinblick auf die bürgerliche Freiheit manchmal restriktiver erscheint, als unter der Herrschaft von Hosni Mubarak. Die Revolution hat teils zur Verschlechterung der Lebensrealitäten geführt. Wenn das tatsächlich der Fall wäre, warum findet sich die ägyptische Bevölkerung nicht wieder im öffentlichen Raum ein, um für die demokratische Veränderung gleich couragiert wie einst aufzustehen? AktivistInnen erklären, dass die Sicherheitsapparate vor allem eine Lehre aus dem Sturz des Mubarak-Regimes gezogen hätten.
Diese Lehre würde lauten, dass sich Unmut ruhig im virtuellen Raum breit machen kann. Solange er sich dort kanalisiert, stellt die Kritik keine Bedrohung dar. Der entscheidende Fehler, der einst geschehen ist, wäre es gewesen, die Leute auf die Straße zu bringen, weil sie gezwungen waren, ihre Online-Welt zu verlassen. Wichtig wäre es stattdessen, die Personen genau dort zu belassen – im virtuellen Raum. Dort echauffieren sie sich zwar über die unerträglichen Verhältnisse, ihr Aktivismus verhallt jedoch gefahrlos, an der realen Situation ändert sich wenig, für die autoritären Machthaber besteht also wenig Gefahr und kein Grund zum Einschreiten.
Fazit (Teil 11)
Die Geschehnisse, die gegenwärtig den Lauf der Zeit bestimmen, lassen sich in historischer Perspektive als eine Auseinandersetzung über die Ausgestaltung des menschlichen Zusammenlebens interpretieren. Die technologische Zukunft gehört also neu gedacht und auf Basis gemachter Erfahrungen Veränderungen erwirkt. So wirkt Fortschritt. Die Schwierigkeit, der wir heute oft begegnen, besteht darin, dass bereits verstanden wird, wie radikal anders die Ordnung der Dinge sein wird können. Wir sehen also bereits, was alles vergehen wird – ohne bisher erkennen zu können, was stattdessen Besseres entstehen könne. Daher rührt die Verunsicherung.
Die Zeiten künden von einer radikalen Zäsur, die aber überfällig ist. Progressivität bedeutet nun, der Einstellung anzuhängen, dass die Zukunft besser wäre als die Vergangenheit oder Gegenwart, weil an ihr gewirkt werden kann und aus den gemachten Fehlern Lehren gezogen werden.
Fortschritt meint in diesem Sinne nicht die Perfektionierung der Verhältnisse, sondern allein die schlichte Verbesserung wäre der nützliche Maßstab.
Wer sich für den Nutzen der digitalen Transformation einsetzt, wird auch die kommunikative Überzeugungsarbeit leisten müssen, diese Einstellung zu vermitteln und sich der ethischen Folgewirkung mutig zu stellen.
Begriff Digital Transformation
Die Digitale Transformation konzentriert sich auf zwei zentrale Fragestellungen, die bereits in der Wortfolge angedeutet werden.
‚Digital‘ bezeichnet in diesem Zusammenhang die fortschreitende Technologisierung vermehrter Lebensräume. Als einfaches Schlagwort bezeichnet ‚Digitalität‘ die Technologisierung realer Lebenswelten und Alltagserfahrungen. Der Begriff erfasst eine Entwicklung, die sich selbstverständlich nicht auf kommerzielles oder unternehmerisches Handeln beschränkt. Stattdessen verändern sich als Folgewirkung der Digitalität die allgemeinen und umfassenden Lebensverhältnisse radikal und rasant.
Der Ursprung des Worts Transformation findet sich im Lateinischen. Im Wort Transformation findet sich die Idee von Formation mitbezeichnet.
Formation bedeutet in der lateinischen Wortwurzel sinngemäß etwas zu bilden, zu gestalten, zu formen. Transformation meint dann die Umwandlung des davor Bestehenden, die Verwandlung, die Veränderung des bereits Geformten. Jede Transformation symbolisiert konsequenterweise den Wandel des Seienden.
Transformation meint im Wortsinn also nicht die Schaffung von Neuem, sondern die Veränderung von Vorhandenen.
Drei Begriffsdefinitionen lassen sich unterscheiden:
- Digitalisierung meint schlicht den Vorgang, Informationen in Bits und Bytes abzulegen, damit sie von Computern gelesen werden.
- Digitalität meint die Technologisierung unserer Lebenswelt.
- Digitale Transformation bezeichnet die unternehmerischen, organisatorischen und gesellschaftlichen Folgewirkungen, die durch diese breitenwirksamen Phänomene veranlasst werden.
Rekapitulation: Der Begriff Ethik (Teil 1)
Den ersten Versuch, ein konzises Verständnis von Ethik zu systematisieren, unternimmt der griechische Philosoph Aristoteles. Seine wichtigste Studie zum Thema markiert das Werk Nikomachische Ethik. Aristoteles widmet den bedeutsamen Text seinem Sohn Nikomachos - daher der ungewöhnliche Name. Die Darstellung lässt sich als Handreichung des Vaters an den Sohn betrachten, wie gut zu wirken sei.
Was erachtet Aristoteles als richtiges Tun? Seiner Meinung nach findet es sich immer dort, wo Tugend anzutreffen sei. Tugend repräsentiert, so seine Analyse, immer den Ausgleich zweier Laster. Sie steht mittig zwischen Übermaß und Mangel. Tugend findet sich beispielsweise zwischen den Extremen Verschwendung und Geiz. Sie sitzt dort, wo wir auf Freigiebigkeit treffen. Sie bildet das Zentrum zwischen Schmeichelei und Streitsucht, wird dort entdeckt, wo Freundlichkeit herrscht. Ethisches Handeln besteht nach Auffassung von Aristoteles im Ausgleich zweier Gegenpole, in der Mäßigung, in der Unterlassung des absolut Machbaren.
Um ethisch zu handeln, verlangt es nach den Grundsätzen von Aristoteles, also Vernunft und Erkenntnis. Nur durch reflektiertes Begreifen lässt sich das eigene Verhalten gestalten und zur balancierenden Mitte hin orientieren. Bei all dem lässt Aristoteles über eine Einschätzung keinen Zweifel: Ethik bildet seiner Meinung nach den einzigen Weg, ein guter Mensch zu werden, um ein glückliches Leben zu führen. Seit der griechischen Antike gilt nun auch das Verständnis, dass Ethik eine bewusste Entscheidung vo-raussetzt und sich von unethischen Handlungen abgrenzen lässt.
Rekapitulation: Der Begriff Ethik (Teil 2)
Das Mittelalter befördert anschließend ein anderes Konzept im Verständnis der Ethik. Es gilt in dieser Epoche, das Leben auf die Gefälligkeit Gottes hin auszurichten. Ethisch handelt, wer durch sich selbst die Werke Gottes vollbringt. Ethisch agiert, wer sich selbst zum Werkzeug eines göttlichen Prinzips macht, als Instrument einer höheren Instanz arbeitet, finale Rechenschaft ablegen wird.
Auch dieser Zugang zur Ethik basiert auf der Überzeugung, dass der Mensch eigene Entscheidungen trifft, doch agiert er nicht im Namen seiner selbst, sondern hinsichtlich göttlicher Wirkung.
Von dieser Ausgangsposition kommt schließlich die Aufklärung ab. Sie erkennt im Menschen ein autonomes Wesen, das über ein wahrnehmbares Bewusstsein für einen sittlichen Kodex verfügt. Das Motiv, ethisch zu handeln, existiert, weil der Mensch mit Würde ausgestattet ist, weil wir Rechte und Pflichten haben, die uns zu richtigem Verhalten anleiten, weil wir auf Grundlage von Freiheit entscheiden. Wir agieren ethisch, weil auf diese Weise der eigenen und der universellen Würde des/der Anderen entsprochen wird.
Der deutsche Philosoph Immanuel Kant hat uns genau diesen Zusammenhang bewusst gemacht. Er hat als Erster entdeckt und begriffen, dass wir ethisch handeln sollen, um der universellen Würde des Menschen zu entsprechen. Wenn wir ethisch handeln, dann geschieht dies aus freien Stücken, weil wir mit Vernunft ausgestattet sind, die uns richtiges Verhalten erkennen lässt.
Zusammenfassend: Wir können ethisch handeln, weil uns Vernunft leitet, und wir sollten ethisch handeln, um der Würde des Menschen zu entsprechen. Beides lässt sich begreifen, weil wir als Menschen über die Fähigkeit der Erkenntnis verfügen.
Rekapitulation: Der Begriff Ethik (Teil 3)
Wie läss sich ethisches Handeln ergründen? Was gibt den entscheidenden Hinweis darauf?
Für Immanuel Kant lässt sich der moralische Wert einer Handlung ermessen, wenn die Intention bewertet wird, die eine Handlung veranlasst.
Immanuel Kant schreibt in seiner Abhandlung Metapyhsik der Sitten: „Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet [...] sondern allein durch das Wollen [...] an sich gut [...].“
Ethisch verhalten sich Menschen dann, wenn die Motive, die eine Handlung veranlassen, lauter wären. Nur die Intentionen, die anstoßen, geben Aufschluss über den moralischen Wert von Taten. Da Entscheidungen in Handlungsmotiven gründen, müssen diese Handlungsmotive allgemeinen Wertvorstellungen entsprechen, um ethisch zu sein. Nur wenn universellen Prinzipen genügt wird, wird richtigen Veranlassungen gefolgt. Immanuel Kant geht in seinem Argument so weit, dass er keine Ausnahme von der Regel akzeptiert.
Sein Rigorismus wird von Kritikern durch ein exemplarisches Beispiel herausgefordert: Angenommen ein Freund verstecke sich im eigenen Haus, weil er vor einem Mörder flieht. Der Mörder klopft an die Tür und fragt, ob man wisse, wo sich der Freund aufhalte. In diesem Fall wäre es doch zweifellos eine ethische Handlung, den Mörder zu belügen und von der Vorgabe, die Unwahrheit zu verpönen, abzuweichen.
Immanuel Kant verneint. Er behauptet, es brauche moralische Bedingungslosigkeit. Kein Ausnahmefall kann es erlauben, von grundsätzlichen Devisen abzuweichen. Wird nur in einem einzigen Fall die Lüge als legitim erachtet, dann verabschieden wir uns von unumstößlichen Standpunkten und wissen in Folge nicht mehr, wann gelogen und wann die Wahrheit gesagt wird. Da die Essenz der Ethik im Grundmotiv des Vorgehens zu eruieren sei, wirken keine Abweichungen von diesem Prinzip zulässig oder begründbar.
Abweichende Haltungen von der Position Immanuel Kants: Einen massiven Widerspruch formuliert der Konsequentialismus. Die Idee besagt: Der moralische Wert einer Handlung bemisst sich nicht nach der Intention, sondern der Konsequenz einer Tat. Die Wirkung und nicht der Ausgangspunkt müssen Entscheidungskriterium sein, um zu ermessen, ob ethisch gehandelt wird. Ethik wird durch ein Duopol bestimmt.
Intentionalismus steht der Überzeugung des Konsequentialismus entgegen.
Ethik: Beispiel 1
Angenommen wir wären ChirurgInnen in der Notaufnahme eines Krankenhauses und es kommt zu einem tragischen Autounfall. Fünf schwer verletzte Personen werden ins Spital gebracht. Eine Person erleidet extrem tragische Verletzungen, sie zu operieren würde den ganzen Tag in Anspruch nehmen und die anderen vier Personen würden, während wir operieren, mit Sicherheit ihr Leben verlieren. Oder aber wir operieren die anderen vier Personen und akzeptieren, dass wir damit die eine Person sterben lassen. Wie würde man entscheiden?
Ethik: Beispiel 2
Jemand arbeitet als Transplantationschirurgin, ein kerngesunder Patient kommt im Nachbarzimmer zum re-gelmäßigen Check-up und schläft dort auf der Bank für ein kurzes Nickerchen ein. Die Transplantationschirurgin sorgt sich in diesem Moment um vier Verletze des Autounfalls, die dringend eine Organspende brauchen, weil ihr Zustand äußerst kritisch ist und sich zusehends verschlechtert. Nun ließe sich, da sich eine Person im Tiefschlaf befindet, Nutzen daraus ziehen. Der Person ließe sich Herz, Lunge, Leber, Niere entwenden, um sie den anderen PatientInnen zu implantieren. Der Tod einer Person wird in Kauf genommen, um das Leben von den anderen vier zu retten.
Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, die eigene Position zu ordnen. Wie würden Sie entscheiden, wenn Sie ihren eigenen ethischen Überzeugungen folgen wollen?
Wie entscheiden sich andere im Vergleich, wenn sie ihren ethischen Über-zeugungen folgen? Erfahrungen zeigen ein eindeutiges, aber kein einstim-miges Bild.
Im ersten Fall tendiert eine Mehrheit befragter Personen dazu, die vier verletzten Personen zu operieren und zu akzeptieren, dass die tragisch schwerverletzte Person sterben würde.
Im zweiten Beispiel hingegen nimmt die Mehrheit der Personen davon Abstand, dem kerngesunden Menschen die Organe zu entwenden, um das Leben der anderen vier zu retten.
Wie lässt sich im analytischen Rahmen dieser Unterschied reflektieren?
Im ersten Beispiel stehen die tatsächlichen Konsequenzen der Entscheidung im Vordergrund. Das eigene Handeln wird durch die Rettung der vier begründet.
Im zweiten Fall leiten andere moralische Prinzipien, die kategorisch gelten und als Begründung vorab Entscheidungen anstoßen. Man müsste bereit sein, den Tod eines anderen Menschen willentlich herbeizuführen, um vier andere zu retten. Vor der Handlung wird zurückgeschreckt, weil sie einen Entschluss voraussetzt, der als unethisch betrachten wird.
Im dem einen Fall motiviert die Konsequenz, in der anderen Situation führt die anfängliche Intention. Intentionalismus und Konsequentialismus bilden also keine unumstößlichen Direktiven, sondern sie begründen Verhalten situationsabhängig und haben beide ihre Berechtigung.
Ethik: Beispiel 3 "Entführte Passagiermaschine"
Das deutsche Innenministerium hat vor einigen Jahren einen Gesetzesentwurf vorbereitet, der vorsieht, dass entführte Passagiermaschinen abgeschossen werden dürfen, wenn davon auszugehen ist, dass ein Flugzeug als terroristische Waffe gegen von Menschen frequentierte Einrichtungen gesteuert wird. Der Bundestag hat das Gesetz verabschiedet, das Bundesverfassungsgericht es jedoch für nichtig erklärt. Aufgrund der Würde des Menschen, die als Grundprinzip im deutschen Grundgesetz verankert ist, kann nicht Menschenleben mit Menschenleben aufgerechnet werden. Das Bundesinnenministerium reflektierte also auf einer konsequentialistischen Basis, indem es mathematisch kalkuliert. Es muss der Tod von Menschen herbeigeführt werden, um andere Menschen zu retten. Das Bundesverfassungsgericht hält eine intentionalistische dagegen, indem es argumentiert, Menschenleben lässt sich nicht gegen Menschenleben subtrahieren. So funktioniert unser Verständnis von Würde nicht.
Die Idee von menschlicher Würde wäre laut Grundgesetz kein mathematisches Modell, sondern Würde wäre immer unteilbar und ihre Bewahrung muss oberstes Prinzip staatlichen Handelns sein.
Ethik: Beispiel "Autonomes Fahren"
Das Massachusetts Institute of Technology führt aktuell eine großangelegte Studie online durch, an der sich jede/r ohne Vorbedingung beteiligen kann. Die Untersuchung möchte querschnittsartig herausfinden, was beispiels-weise von selbstfahrenden Autos erwartet wird, wenn es zu brenzligen Situationen kommt. Wie soll ethisch entschieden werden? Das ganze Model baut auf einem konsequentialistischen Fundament auf. Das Experiment verhandelt ähnliche Fragen, wie die oben gestellte.
Gerade bei der Fragestellung hinsichtlich des gewünschten Verhaltens von autonomen Vehikeln zeigt sich die Komplexität der Fragestellung, wie mit autonomisierten Entscheidungen umzugehen wäre.
Beispiel direkt aus dem Fragebogen des MIT:
Ein selbstfahrendes Auto kann einen Zusammenprall mit tödlichem Ausgang nicht abwenden. Es stehen nun zwei Optionen offen. Entweder rammt das Auto einen Block, der mitten auf der Straße steht und die Insassin verliert das Leben, oder das Auto wechselt intentional die Fahrspur, um dem Block auszuweichen, überfährt jedoch einen Fußgänger, der die Straße auf dem Zebrastreifen überquert.
Die Situation impliziert faktisch mehrere zentrale Herausforderungen.
Neben der vordringlichen Entscheidung, ob die Fahrspur gewechselt wer-den soll oder nicht, stellt sich auch die Frage, wer dies festlegen darf. Sollen Gesellschaften in Form eines gesetzlichen Regelwerks beschließen, wie ein autonomes Fahrzeug in diesem Fall zu reagieren hat? Braucht es also ge-setzliche Bestimmungen? Wenn ja, dann müssen konsequenterweise nati-onale Parlamente darüber befinden und verbindliche Entscheidungen tref-fen. Das könnte bedeuten, dass bei einer knapp vierstündigen Fahrt von Wilna nach Riga auf litauischem Gebiet andere Regelwerke gelten könnten als in Lettland. Also braucht es eher internationale Standards.
Oder wird es den Autoherstellern selbst überlassen, als Unternehmen, ei-genständige Festlegungen über das Verhalten ihres Autos zu treffen und diese dann zu bewerben? Wie würden dann Autokäufer darauf reagieren, dass bei einem Hersteller die Insassen, bei anderen die Fußgänger ge-schützt würden? Wird das plötzlich zum Wesensgehalt der Kaufentschei-dung?
Oder aber wird den KonsumentInnen die Entscheidung autonom anheim-gestellt? Wird heute beim Autokauf beispielsweise darüber befunden, wel-
Seinsbestimmung und Seinsformen des 20. Jahrhundert
Ökologie und die digitale Transformation bilden die zentralen gesell-schaftlichen Seinsbestimmungen und Seinsformen im 21. Jahrhundert.
Permanente Veränderung aufgrund historischer Beschleunigung (Teil 1)
Der Philosoph Immanuel Kant ist überzeugt, dass der menschlichen Natur erfahrbare Konfliktpotenziale im sozialen Zusammenleben eingewoben wären.
- Denn erst störrischer Widerwille am Bestehenden setzt den Gestaltungswillen frei, der jeder Verbesserung vorangeht.
- Es braucht Missmut mit dem Vorhandenen, um die Intention zu kreieren, den Stand der Dinge zu wandeln.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der zeitlich nach Kant wirkte, sah hingegen nicht eine Eigenart der menschlichen Natur am Wirken, die den Gang der Geschichte vorantreibe. Stattdessen vermutete er einen metaphysischen Weltgeist, der in der Geschichte wirksam wäre. Fortschritt erkannte er als unumgänglich, weil die Geschichte als Instrument der Vernunft wirke. Die Vernunft wiederum wird durch die Geschichte selbst zur Wirklichkeit. Alles was damit Wirklichkeit wird, materialisiert den Fortschritt.
Permanente Veränderung aufgrund historischer Beschleunigung (Teil 2)
Karl Marx erkennt die Grundlage der wirksamen Veränderungskräfte stattdessen weder in individuellen Persönlichkeitsmerkmalen noch in einem metaphysischen Konzept wie jenem des Weltgeists.
Der Philosoph dachte vielmehr, dass ein antagonistischer Klassenkampf den Fortschritt von Gesellschaften begründe. Die letzte Stufe vor dem zielführenden Abschluss der historischen Entwicklung machte Karl Marx konsequenterweise im Kapitalismus fest. Denn jede Form von Gesellschaft zeichnet bisher immer eine Dualität zweier gesellschaftlicher Pole aus, die als herrschende und beherrschte Klasse im strukturellen Widerstreit stehen. Der Kapitalismus bildet insofern die vorletzte Stufe dieser Entwicklung, als in seiner Ära Produktivitätskräfte geschaffen werden, die den Menschen von den Gängelungen durch Entbehrungen befreien. Erstmalig in der Geschichte der Menschheit werden produktive Kräfte geschaffen, die es erlauben, Mangel zu überwinden. Durch den Kapitalismus entwickelt sich konsequent ein Wohlstandsniveau, das es ermöglicht, bisherigen Entsagungen abzuschwören.
Nach Auffassung von Karl Marx wird, von diesem Standard ausgehend, eine unumwundene kommunistische Revolution zur Abschaffung der Dialektik aus Herrschenden und Beherrschten führen. Erstmal Überfluss erzielt, verlangt es seiner Auffassung nach keine Trennung mehr zwischen Herrschenden und Beherrschten, denn bei Marx ist gesellschaftliche Macht immer direkt an die Verfügungsgewalt über ökonomischen Wohlstand gekoppelt. Die kommunistische Revolution führt also seiner Auffassung nach nicht zum Austausch der Herrschenden, sondern zur Abschaffung der Herrschaft an sich, weil unter den Bedingungen des Überflusses auch die Modalitäten von konventioneller Herrschaft überflüssig werden.
Permanente Veränderung aufgrund historischer Beschleunigung (Teil 3)
Alle Denker, die im fortschrittsgläubigen 19. Jahrhundert davon ausgingen, dass Fortschritt unumgänglich wäre, strafte das 20. Jahrhundert Lügen. Anstatt eines Fortschritts hin zu einem größeren Humanismus und finaler Freiheit, führte die totalitäre Ideologie des Faschismus in den menschlichen Abgrund und der real existierende Kommunismus entpuppte sich nicht als Reich der Herrschaftslosigkeit sondern als Großgefängnis und Unterdrückungsmechanismus.
Diese gemachten Erfahrungen helfen dabei, die gegenwärtige Situation in einen reflektierten Kontext zu setzen: Auch das 20. Jahrhundert zeigt wesentliche technologische Durchbrüche, die nicht unumwunden und automatisch zu politischen und sozialen Verbesserungen wurden. Fortschritt in einem Bereich begründet nicht zwangsweise Fortschritte in anderen Bereichen. Wie sich technologischer Fortschritt in sozialen, politischen, ökologischen Fortschritt übersetzen lässt, bleibt eine gesondert zu erzielende und bedeutsame Aufgabe.
Veränderung ist dem modernen Zeitalter immanent, denn Wandel wirkt als Konstante.
Permanente Veränderung aufgrund historischer Beschleunigung (Teil 4)
Bereits das Zeitalter vor dem Ersten Weltkrieg lässt sich frappierend mit der Jetztzeit vergleichen. Die Neuerungen in der Telekommunikation durch die Erfindung und Verbreitung des Telefons, die intensive Verflechtung des internationalen Handels, Jahrzehnte der internationalen politischen Stabilität und eine damit einhergehende fatale Unterschätzung von Kriegsrisiken bei zwischenstaatlichen Konflikten, Neuerungen im Transportwesen, das Gefühl der technologischen Veränderung und des sozialen bzw. politischen Stillstands führten zu einem gesellschaftlichen Mix, der schließlich den Nährboden für die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs bildete.
Das Neuartige an der Jetztzeit liegt folglich nicht in der Technologisierung der Lebensumstände, auch weniger in der Digitalisierung der vorhandenen Technologien – der massive Unterschied lässt sich in der Rasanz des Wandels bestimmen und durch die Folgewirkungen dieser Umbrüche ausmachen. Nicht dass Wandel stattfindet, ist also die Besonderheit der Gegenwart, sondern wie schnell er agiert. Tiefgreifende Erneuerungen führen häufig zu nachhaltigen Machtverschiebungen, Hierarchien geraten ins Wanken.
Die I. Industrielle Revolution baute auf der Durchsetzung der Dampfmaschine auf. Diese technische Veränderung führte dazu, dass England zur führenden Weltmacht aufstieg. Auch die kontinentalen Wege verkürzten sich durch die Durchsetzung der Dampfeisenbahn zeitlich. Die Dampfeisenbahn ersetzte mühsame Überlandreisen in Kutschen.
Im ersten Dow Jones Index, der noch vor der II. Industriellen Revolution gemessen wurde, fanden sich aufgrund der Popularität dieser Reisemethode und ihrer wirtschaftlichen Signifikanz fast ausschließlich Dampfeisenbahnen – nur das Telegraphenunternehmen Western Union bildete diesbezüglich eine Ausnahme.
Permanente Veränderung aufgrund historischer Beschleunigung (Teil 4, Dow Jones Index)
Der Dow Jones Index selbst erfasst einen Aktienindex, der über die Kursentwicklung des Aktienmarkts Aufschluss geben soll, indem die Performance der Leitaktien von 30 Unternehmen mit Gewichtung zusammengefasst wird. Diese führenden Unternehmen gelten symptomatisch für die Entwicklung der amerikanischen Gesamtindustrie selbst. Berücksichtigt werden also für den Dow Jones Index vor allem Unternehmen, deren Tätigkeit als maßgeblich und beispielhaft für die Entwicklung der amerikanische Volkswirtschaft erscheinen.
Dass der Dow Jones Index maßgeblich durch Dampfunternehmen bestimmt wurde, war beispielsweise zu Anfang des 20. Jahrhunderts der Fall. In der kurzen Ära zwischen Jahrhundertwende und vor dem Ersten Weltkrieg, der 1914 beginnt, setzte dann eine Dynamik unterschiedlicher Entwicklung ein, die durch verschiedene Innovationen begründet wird. Die Dynamiken führen dazu, dass am Ende des Ersten Weltkriegs im Jahr 1918 nur noch ein Unternehmen im Aktienindex erfasst wird, das bereits zum Jahrhundertbeginn dazu gezählt wurde: Das Telegraphenunternehmen Western Union, auch damals schon bekannt für Geldüberweisungen, die sich mittels des Unternehmens organisieren lassen. Die Dampfunternehmen hingegen waren mittlerweile allesamt aussortiert.
Innovation agiert folglich gnaden- und rücksichtlos. Sie besorgt nicht nur, dass Neues entsteht, sondern auch das Bestehendes obsolet wird und unwiederbringlich vergeht, als sich die Bedürfnisse einer Gesellschaft ändern. Waren im Jahr 1900 also Eisenbahnen noch die bedeutsamsten Unternehmen in den USA, war das knappe zwei Jahrzehnte später bereits nicht mehr der Fall.
Permanente Veränderung aufgrund historischer Beschleunigung (Teil 5, Dow Jones Index)
Wird das 20. Jahrhundert durch den Blickwinkel eines anderen US-amerikanischen Aktienindexes betrachtet, zeigen sich ähnliche Muster und Auffälligkeiten.
Der S & P 500 erfasst als instruktiver und auskunftsstarker Leitindex die 500 größten börsennotierten US-Unternehmen, ausgewählt anhand ihrer Marktkapitalisierung. Dabei wirkt es aussagekräftig, wie lange die durchschnittliche Erwartungshaltung besagte, dass die Aktie eines Unternehmens als Teil des S & P 500 registriert werden konnte.
- Im Jahr 1935 waren es durchschnittlich 90 Jahre, die als Erwartungshaltung galten, wie lange ein Unternehmen im S & P 500 Index gelistet blieb.
- Im Jahr 1955 reduzierte sich dieser Wert bereits auf 45 Jahre.
- Im Jahr 1975 sank er auf 30 Jahre.
- Im Jahr 1995 waren es nunmehr 22 Jahre.
- Im Jahr 2005 sind es dann schließlich noch 15 Jahre, die der Aktie eines Unternehmens als Verweildauer im S & P 500 zugemessen wird.
Der Bedeutungszeitraum der Relevanz eines Unternehmens sinkt kontinuierlich.
Kräfteverhältnisse und Bedeutungsverschiebungen im Online-Bereich erscheinen dabei noch gravierender und rasanter als diese Vergleichswerte nahelegen.
Die untere Abbildung zeigt an, welche 20 Unternehmen in den USA die häufigsten Internetaufrufe über den Verlauf von zwei Jahrzehnten auf sich vereinigen. Es handelt sich dabei selbstverständlich um einen anderen Referenzwert als durch die Marktkapitalisierung erfasst. Doch besitzen unter volkswirtschaftlichen Umständen, die Aufmerksamkeit zu kapitalisieren versteht, diese Referenzwerte entscheidende Bedeutung.
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