Strafrecht erste Prüfung (1. bis 6. Teil)

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Langue Deutsch
Catégorie Droit
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Crée / Actualisé 28.02.2021 / 14.03.2021
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Gesetzliche Rechtfertigungsgründe – bei Notwehr

Rechtfertigende Notwehr (Art. 15 StGB) Grundgedanke: derjenige, der rechtswidrig angegriffen wird, darf sich verteidigen Voraussetzung: Notwehrlage und die Vornahme einer gebotenen Notwehrhandlung Marginalien von Art. 15 und 16 StGB sind unzutreffend: Notwehr ist stets rechtfertigend! Bei Art. 16 StGB liegt keine Notwehr vor, sondern ein spezieller Strafmilderungsgrund (Art. 16 Abs. 1 StGB) → bei Strafzumessung berücksichtigen bzw. Entschuldigungsgrund (Art. 16 Abs. 2 StGB) → bei Schuld zu berücksichtigen

Notwehrlage: Begründet wird die Notwehrlage durch einen gegenwärtigen oder unmittelbar drohenden rechtswidrigen Angriff gegen ein Individualrechtsgut. Angriff = Jede durch menschliches Verhalten drohende Verletzung rechtlich geschützter Interessen (durch aktives Tun oder Unterlassen) Rechtwidrigkeit Unrechtmässige Einwirkung auf fremde Rechtgüter (tatbestandsmässig & rechtswidrig) Angriff darf seinerseits nicht durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt sein Notwehrbefugnis besteht auch gegenüber rechtswidrigen Angriffen schuldunfähiger Personen Kein Notwehrzustand bei einem Angriff durch ein Tier (Notstandssituation). Jedoch gegeben, wenn das Tier von einem Menschen als „Werkzeug“ eingesetzt wird (BGE 97 IV 73 E. 2)

Unmittelbarkeit des Angriffs Der Angriff muss gegenwärtig sein, d.h. unmittelbar bevorstehen oder andauern. Bevorstehen: Indizien einer drohenden Verletzungshandlung. Bei Konkretisierung der Gefahr braucht man nicht zu warten, bis es für die Abwehr womöglich zu spät ist Keine Präventivverteidigung Andauern: Der Angriff ist trotz Deliktsvollendung noch nicht beendet (mit der Beute flüchtender Dieb, siehe dazu auch BGE 107 IV 14) Bei Dauerdelikten wie etwa der Freiheitsberaubung endet die Notwehrlage somit erst mit der Aufhebung des rechtswidrigen Zustandes bzw. mit der Beendigung des Delikts 

Liegt kein rechtswidriger Angriff und damit keine Notwehrsituation vor, handelt der Abwehrende rechtswidrig. Putativnotwehr = Irrige Annahme des Vorliegens eines rechtswidrigen Angriffes - Irrtum vermeidbar: evtl. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit - Irrtum nicht vermeidbar: Verhalten wird so beurteilt, wie wenn die Notwehrlage vorgelegen hätte 

 

Gesetzliche Rechtfertigungsgründe – bei Notwehr (2)

Notwehrhandlung Liegt eine zur Notwehr berechtigende Konstellation vor, ist der Angegriffene nach Art. 15 StGB berechtigt, „den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren“. Abwehrhandlung muss sich gegen die Rechtsgüter des Angreifers richten Nicht nur der Angegriffene bzw. Bedrohte ist zur Abwehr berechtigt, sondern auch Dritte (sog. Notwehrhilfe) Aber: nur zulässig, wenn der Rechtsgutträger nicht auf Gegenwehr verzichten will. Eine Verteidigung gegen seinen Willen ist nicht durch Notwehrhilfe gerechtfertigt

Angemessenheit der Notwehrhandlung: Damit die Abwehr gerechtfertigt ist, muss sie „den Umständen angemessen“, d.h. erforderlich und verhältnismässig sein Erforderlich (Subsidiarität): mildestes geeignetes Mittel, die Möglichkeit der Flucht ist dabei grds. nicht in Betracht zu ziehen, da sie kein Verteidigungsmittel darstellt) und Verhältnismässig (Proportionalität): Zwischen der abgewehrten und der durch die Abwehr herbeigeführten Rechtsgutverletzung darf kein krasses Missverhältnis bestehen Bsp.: Der Rollstuhlfahrer darf die Kirschen stehlenden Kinder nicht vom Baum schiessen. Aber, ist zur Verteidigung von Sachwerten eine lebensbedrohende Abwehr prinzipiell unzulässig? Ausnahme, wenn der Angriff durch eine schuldunfähige Person (bspw. Kleinkind) oder eine Person erfolgt, die einem unvermeidbaren Irrtum unterliegt: zunächst Ausweichen oder hinhaltender Widerstand, subsidiär volles Notwehrrecht → gilt auch für Fälle der Absichtsprovokation

Gesetzliche Rechtfertigungsgründe – Notstand

Rechtfertigender Notstand (Art. 17 StGB) StGB unterscheidet zwischen dem rechtfertigenden (Art. 17 StGB) und dem entschuldbaren Notstand (Art. 18 StGB) Kriterium: überwiegende Interessen Verlangt wird wiederum: 1. Notstandslage 2. Notstandshandlung Der entschuldigende Notstand ist im Deliktsaufbau unter dem Titel der Schuld zu behandeln

Notstandslage Sie liegt vor, wenn ein Individualrechtsgut in unmittelbarer Gefahr steht. Vorausgesetzt wird im Einzelnen folgendes: Notstandsfähiges Rechtsgut: alle Rechtsgüter des Einzelnen (Individualinteressen), sowohl eigene als auch fremde Rechtsgüter (Notwehrhilfe), nicht notstandsfähig sind Rechtsgüter der Allgemeinheit Gefahrenlage: Unmittelbare und konkrete unrechtmässige Einwirkung bspw. durch Naturereignisse, Tierangriffe oder auch menschliches Verhalten (bei rechtswidrigem menschlichen Angriff geht Art. 15 StGB als Spezialnorm vor) Unmittelbarkeit der Gefahr: Unmittelbar ist die Gefahr erst im letzten Zeitpunkt, bevor es zu spät sein könnte, sie abzuwehren. 

Notstandshandlung

In Notstandskonstellationen stehen sich stets divergierende Interessen gegenüber. Der Eingriff in die Güter Dritter ist nur unter nachfolgenden strengen Voraussetzungen gerechtfertigt. Eignung: Die Notstandshandlung muss geeignet sein, die drohende Gefahr abzuwehren Strikte Subsidiarität: Die Gefahr darf nicht anders abwendbar sein als durch die Notstandshandlung. Im Unterschied zur Notwehr gilt beim Notstand die Subsidiarität strikt, so dass der Sich-im-Notstand-Befindende der Gefahr wenn immer möglich ausweichen muss Wahrung höherwertiger Interessen: Im Unterscheid zur rechtfertigenden Notwehr ist eine Interessenabwägung vorausgesetzt. Neben dem Rang der betroffenen Rechtsgüter sind auch die Grösse der drohenden Gefahr sowie alle Umstände der Tat miteinzubeziehen. 

Entscheidend für die Interessenabwägung ist des Weiteren, in wessen Rechtssphäre die Abwehrhandlung eingreift: Aggressivnotstand: - Eingriff in die Güter unbeteiligter Dritter - die individuellen Interessen des sich im Notstand Befindlichen müssen deutlich überwiegen Defensivnotstand: - Gefahr stammt aus dem Verantwortungsbereich derjenigen Person, in deren Güter eingegriffen wird - Abwehrhandlung selbst bei Gleichwertigkeit der Güter gerechtfertigt 

Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe – Einwilligung

 

Einwilligung des Verletzten Art. 28 Abs. 2 ZGB Freie Selbstbestimmung Einwilligung des Rechtsgutträgers schliesst das Unrecht der Verletzung aus, sofern der Einwilligende über das Rechtsgut verfügen kann.

Systematische Einordnung der Einwilligung umstritten (tatbestandsausschliessend oder rechtfertigend) Gemäss neuerer Auffassung schliesst eine Einwilligung hingegen stets den Tatbestand aus, das BGer hat diese Frage offen gelassen: BGer 6P.106/2006 vom 18.08.2006, E. 6.3.2: «Gemäss dem Beschwerdeführer soll die Einwilligung tatbestandsausschliessend wirken. Nicht zuletzt die explizite Erwähnung der Unrechtmässigkeit im Tatbestand spricht dafür, dass eine einverständliche nicht bloss eine gerechtfertigte, sondern gar keine Freiheitsberaubung ist (z.B. Reise im Zug), die Einwilligung also bereits den Tatbestand ausschliesst. Die Frage braucht nicht abschliessend entschieden zu werden, da sich die Einwilligung in beiden Fällen auf die konkreten Umstände des Freiheitsentzugs, mithin auf den konkreten Verletzungserfolg, zu beziehen hat (BGE 131 IV 1 E. 3.1; Philippe Weissenberger, Die Einwilligung des Verletzten bei den Delikten gegen Leib und Leben, Diss. Basel 1996, S. 60).»

Voraussetzung der Einwilligung

- Verfügungsbefugnis über das Rechtsgut

- Einwilligung vor der Tat

- Einwilligungsfähigkeit

- Subjektives Element des „Täters"

Voraussetzung der Einwilligung

 

Voraussetzung der Einwilligung

- Verfügungsbefugnis über das Rechtsgut

- Einwilligung vor der Tat

- Einwilligungsfähigkeit

- Subjektives Element des „Täters"

Verfügungsbefugnis über das Rechtsgut Ausschliesslich individuelle Rechtsgüter wie bspw. Vermögen, Ehre, Freiheit Höchstpersönliche Rechtsgüter (Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit) sind nur beschränkt verfügbar Die Einwilligung in eine vorsätzliche Tötung ist durch Art. 114 StGB konkludent ausgeschlossen Einwilligung in eine einfache Körperverletzung allgemein anerkannt In schwere Körperverletzungen (Art. 122 StGB) nur, wenn medizinisch geboten oder bei einer Organspende unter Lebenden 

Einwilligung vor der Tat Erteilung zeitlich vor der Tat Nach aussen manifestiert Blosses Geschehenlassen reicht nicht Konkludente Einwilligung möglich, sofern gegen aussen manifestiert bspw. Teilnahme an einer sportlichen Aktivität mit sämtlichen, den Teilnehmenden bekannten Verletzungsgefahren Nicht abgedeckt sind aber in jedem Fall grobe und gefährliche Missachtungen von Spielregeln, welche die Spieler vor Verletzungen schützen sollen. Die Spielregeln und Rahmenbedingungen sind durch die Sportverbände folglich so festzulegen und den Beteiligten mitzuteilen, dass jeder genau wissen kann, in welche Risiken er einwilligt. Jederzeit frei widerruflich 

Einwilligungsfähigkeit Urteilsfähigkeit im Hinblick auf das Wesen und die Tragweite des Verzichts auf den Schutz des Rechtsgutes Je nach Art des betroffenen Rechtsgutes unterschiedlich hohe Anforderungen an die Einwilligungsfähigkeit Einwilligung unwirksam, sofern eine Täuschung, unzureichende Aufklärung oder andere Willensmängel vorliegen Aufklärungspflichten der Ärzte und des Betreuungspersonals (sog. informed consent) Subjektives Element Handlung erfolgt in Kenntnis und aufgrund der Einwilligung Wenn nicht: Versuchsstrafbarkeit oder Sachverhaltsirrtum prüfen

Einwilligung muss grundsätzlich vor dem Eingriff in ein Rechtsgut erfolgen Einwilligung ist in bestimmten Situationen mangels Willensbildungs- oder Willensäusserungsfähigkeit nicht einholbar, bspw. infolge Bewusstlosigkeit. Mutmassliche Einwilligung, sofern die nachfolgende Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. nächste Folie). 

Voraussetzung der mutmasslichen Einwilligung 

Voraussetzung der mutmasslichen Einwilligung 

- Verfügungsbefugnis über das Rechtsgut

- Entscheidungszwang (Entscheidung unaufschiebbar und der Betroffene ausserstande, sie zu treffen)

- Entscheid im Sinne des Betroffenen (Ist der mutmassliche Wille ungewiss, dann aus Sicht eines vernünftig handelnden Dritten in der konkreten Situation)

- Subjektives Element des „Täters“ (Subjektives Element Handlung erfolgt in Kenntnis und aufgrund der Einwilligung Wenn nicht: Versuchsstrafbarkeit oder Sachverhaltsirrtum prüfen)

Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe – Wahrung berechtigter Interessen

Gewohnheitsrechtlich anerkannt Wahrung ethisch höherrangiger oder gesellschaftlich zumindest positiv bewerteter Interessen BGer verlangt, dass „zuvor der Rechtsweg mit legalen Mitteln beschritten und ausgeschöpft“ worden ist (BGE 115 IV 75 E. 4b; BGE 94 IV 68 E. 2). BGE 127 IV 122 und 129 IV 6 E. 3.3: «Wahrung berechtigter Interessen setzt voraus, dass die Tat ein zur Erreichung des berechtigten Ziels notwendiges und angemessenes Mittel ist, sie insoweit den einzig möglichen Weg darstellt und offenkundig weniger schwer wiegt als die Interessen, welche der Täter zu wahren sucht.» Bsp.: Nachstellung des Todeskampfs einer Äsche in einem Dokumentarfilm, um Folgen des Chemieunfalls nachzustellen. 

Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe – Rechtfertigende Pflichtenkollision

Mit dem Notstand eng verwandt Zwei (oder mehr) Rechtspflichten in derselben Situation treffen zusammen Der Verpflichtete kann keine von ihnen ohne Verletzung der anderen erfüllen Wer die höhere Pflicht auf Kosten der niedrigeren erfüllt, handelt rechtmässig Als höherrangig gilt eine Pflicht dann, wenn in Bezug auf das gefährdete Rechtsgut eine Garantenpflicht besteht, während die andere Pflicht „bloss“ eine allgemeine Hilfeleistungspflicht darstellt Bsp.: Der Arzt am Unfallort, der sich nicht um alle Verletzten zugleich kümmern kann, handelt rechtmässig, wenn er zumindest einen Verunfallten rettet und den anderen sterben lässt. Sind die zu schützenden Rechtsgüter gleichwertig, so ergibt sich die Rangfolge aus dem Grad der drohenden Gefahr. Sind sowohl Rechtsgüter als auch Gefahrenlage gleich, so führt jede Entscheidung zwischen ihnen zur Rechtfertigung.

Schuld

Schuld Ist das Verhalten einer Person tatbestandsmässig und rechtswidrig, so ist in einem letzten Schritt unter dem Titel „Schuld“ zu prüfen, ob die Person für ihr Verhalten auch persönlich verantwortlich gemacht werden kann. Frage, ob der Täter zum Zeitpunkt der Tat überhaupt fähig gewesen wäre, rechtmässig zu handeln. Die individuelle Fähigkeit zu einer freien Entscheidung zugunsten eines rechtmässigen Verhaltens wird einer psychisch gesunden, erwachsenen Person i.d.R. zugeschrieben und bis zum Beweis des Gegenteils unterstellt. Ist die Fähigkeit zu einer freien Entscheidung ausnahmsweise nicht oder nur eingeschränkt vorhanden, so ist keine Schuldzurechnung möglich. Schuldprinzip: Keine Strafe ohne Schuld 

Die Strafbegründungsschuld ist eine notwendige Voraussetzung für die Strafbarkeit Die Strafzumessungsschuld ist hingegen erst bei der Strafzumessung zu berücksichtigen und setzt somit das Vorliegen einer Zurechnungsschuld voraus Der Schuldvorwurf setzt voraus, dass der Täter zum Zeitpunkt der Tat fähig war: das Unrecht der Tat einzusehen (Einsichtsfähigkeit) und sich nach dieser Einsicht zu verhalten (Steuerungsfähigkeit) Die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit sind bezogen auf das konkret in Frage stehende Delikt zu prüfen und müssen zum Tatzeitpunkt vorliegen.

Schuldausschliessungs- und Entschuldigungsgründe

Schuldunfähigkeit (Art. 19 StGB) 

Keine Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit aufgrund seelisch-geistiger Beeinträchtigung

Jugendliches Alter • Psychische oder geistige Krankheit • Alkohol- oder Drogenrausch

Fehlende Verbotskenntnis (Art. 21 StGB

Keine Einsichtsfähigkeit mangels Wissen oder WissenKönnen vom Unrecht der Tat

• direkter Verbotsirrtum • indirekter Verbotsirrtum

Unzumutbarkeit rechtmässigen Handelns

Keine Steuerungsfähigkeit aufgrund einer besonderer Konfliktsituation 

• entschuldbarer Notstand (Art. 18 StGB) • entschuldbarer Notwehrexzess (Art. 16 StGB

Schuldunfähigkeit

Schuldunfähigkeit (Art. 19 Abs. 1 StGB) Fehlt es dem Täter aufgrund eines psychopathologischen Zustandes an der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit, so ist ihm die Tat nicht persönlich vorzuwerfen Das Gericht oder die Untersuchungsbehörde ordnet eine Begutachtung durch einen Sachverständigen an (Art. 20 StGB) Begutachtung durch einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Gericht muss triftige Gründe angeben, wenn es in Fachfragen vom forensischen Gutachten abweicht Beispiele: Paralyse, Intoxikation, Psychose, schwere Fälle der Persönlichkeitsstörung Der Ausschluss der Schuldfähigkeit führt vorbehaltlich der Fälle vermeidbarer Schuldunfähigkeit gemäss Art. 19 Abs. 4 StGB (sog. actio libera in causa) zum Ausschluss der Strafbarkeit. Möglich bleiben therapeutische oder sichernde Massnahmen (Art. 19 Abs. 3 StGB)

Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit auch bei Bewusstseinsstörungen wie etwa infolge eines Drogen- oder Alkoholrausches, eines Fieberdeliriums oder eines hypnotischen Zustandes Gerichtspraxis bei der Anerkennung des Alkoholrausches als Schuldausschliessungsgrund äusserst zurückhaltend Faustregel: die Schuldfähigkeit bei einer Blutalkoholkonzentration (BAK) von 2 Promille ist noch zu bejahen und bei einer BAK von über drei Promille zu verneinen Zwischen 2 und 3 Promille wird eine verminderte Schuldfähigkeit vermutet

Verminderte Schuldfähigkeit

Ist die Einsichts-oder Steuerungsfähigkeit aufgrund eines psychopathologischen Zustandes nicht völlig, aber immerhin zum Zeitpunkt der Tat teilweise aufgehoben, so liegt eine verminderte Schuldfähigkeit vor Schwächere Ausprägung der zuvor genannten Schuldausschlussgründe bzw. um sog. minderschwere Formen der Defektzustände (BGE 134 IV 132 E. 6.1) Auch eine Verminderung der Schuldfähigkeit ist gemäss Praxis des Bundesgerichts nicht leichthin anzunehmen: Psychische Krankheiten sind gemäss BGE 116 IV 273 nur dann relevant, wenn das Verhalten der Betroffenen in hohem Masse in den Bereich des Abnormen fällt Bei betäubungsmittelabhängigen Tätern hingegen wird StGB 19 Abs. 2 in relativ häufig bejaht, sofern die Sucht ausgeprägt ist 

Der Sachverständige unterscheidet in seiner Begutachtung zwischen leichter, mittelgradiger und schwerer Herabsetzung der Schuldfähigkeit Nach Art. 19 Abs. 2 StGB ist die Strafe entsprechend dem Grad der Verminderung der Schuldfähigkeit zwingend zu mildern Erstinstanzlich angewandte Praxis, die Strafe nach fixen Prozentsätzen (25% = leichtgradig, 50% = mittelgradig, 75% = hochgradig verminderte Schuldfähigkeit) zu mildern Das Gericht muss die Strafe nicht linear herabzusetzen, zumal der Gutachter den Grad der Herabsetzung niemals exakt festlegen kann (BGE 136 IV 55) Wie bei der Schuldunfähigkeit bleiben auch hier therapeutische oder sichernde Massnahmen gemäss Art. 19 Abs. 3 StGB möglich 

Vermeidbare Schuldfähigkeit

Vermeidbare Schuldunfähigkeit Art. 19 Abs. 4 StGB stellt eine Ausnahme von der Regel dar, dass nur schuldhaft handelnde Täter voll bestraft werden können Die Schuldunfähigkeit im Tatzeitpunkt ist nicht massgeblich, wenn der Täter die Möglichkeit der Tatbegehung vor dem Eintritt der Schuldunfähigkeit vorhergesehen hat und hätte vermeiden können Der Täter ist für sein Verhalten vollumfänglich verantwortlich Gilt sowohl bei einer vorsätzlichen als auch bei einer fahrlässigen actio libera in causa (eine in ihrer Ursache, aber nicht in sich selbst freie Handlung) 

Eine vorsätzliche actio libera in causa liegt bspw. vor: wenn sich ein Täter vor Ausführung einer geplanten Tat Mut antrinkt und die Tat dann aufgrund von Trunkenheit in einem schuldunfähigen Zustand begeht. Da der Täter hier seine Schuldunfähigkeit vorsätzlich herbeigeführt und in diesem Zustand die bereits zuvor geplante Tat ausgeführt hat, ist er wegen vorsätzlicher Begehung der Tat strafbar Eine fahrlässige actio libera in causa liegt bspw. vor: Der Täter wirft sich Drogen ein, die jedoch anders als erwartet nicht sofort wirken. Da der Täter ein dringendes Telefonat erledigen muss, sein Telefon aber von der Polizei abgehört wird, fährt er zum nächsten Münztelefon. Während des Telefonats beginnen die Medikamente zu wirken, woraufhin er in schuldunfähigem Zustand unter Verletzung der Verkehrsregeln nach Hause fährt Falls die Begehung einer Straftat im schuldunfähigen Zustand nicht vorhersehbar war, liegt keine actio libera in causa vor → Die Strafbarkeit wegen der Begehung der Tat ist ausgeschlossen 

Fehlende Verbotskenntnis

Fehlende Verbotskenntnis Das Unrechtsbewusstsein (Bewusstsein, unrecht zu handeln) ist ein vom Vorsatz unabhängiges Schuldelement Nur wer weiss oder wissen kann, dass er Unrecht tut, handelt schuldhaft Diesem Grundsatz trägt das Gesetz mit dem sog. Verbotsirrtum Rechnung Die Irrtümer werden zu einem späteren Zeitpunkt noch behandelt Grds. ist das Fehlen des aktuellen Unrechtsbewusstseins vorwerfbar, sofern die Einsicht in das Unrecht der Tat durch einen zumutbaren Einsatz der individuellen Fähigkeiten hätte erlangt werden können (potentielles Unrechtsbewusstsein) → Soweit kein potentielles Unrechtsbewusstsein vorliegt, ist kein Schuldvorwurf möglich Unkenntnis schützt also vor Strafe, sofern die Unkenntnis nicht vorwerfbar ist

Unzumutbarkeit rechtmässigen Verhaltens – Entschuldbarer Notstand

Entschuldbarer Notstand (Art. 18 StGB) Die Anforderungen an die Notstandslage entsprechen beim entschuldigenden Notstand weitgehend denjenigen beim rechtfertigenden Notstand Anders als Art. 17 StGB erfordert der entschuldbare Notstand allerdings die Gefährdung hochwertiger Güter, wie Leib, Leben, Freiheit, Ehre oder Vermögen Ob höherwertige Interessen gewahrt werden ist anders als bei Art. 17 StGB irrelevant → Gleichrangigkeit genügt Entscheidend ist bei Art. 18 Abs. 2 StGB, ob die Preisgabe des gefährdeten Rechtsgutes zumutbar war oder nicht

Unzumutbarkeit Die Unzumutbarkeit der Preisgabe des gefährdeten Rechtsgutes schliesst nach Art. 18 Abs. 2 StGB den Schuldvorwurf aus Beispiel (Brett des Karneades): Zwei Schiffsbrüchige A und B versuchen sich an einer im Meer treibenden Schiffsplanke zu halten, die nur eine Person tragen kann. Um sein Leben zu retten, stösst A den B von der Planke. B ertrinkt War die Preisgabe des gefährdeten Rechtsgutes jedoch zumutbar, so erfolgt nur eine Strafmilderung, sofern das gefährdete Rechtsgut im Sinne von Art. 18 Abs. 1 StGB hochwertig war In subjektiver Hinsicht ist ein Rettungswille erforderlich

Die Frage der Zumutbarkeit ist stets in Beachtung der psychischen Belastung des Täters zu prüfen der sog. Nötigungsnotstand ist ebenfalls unter den entschuldbaren Notstand zu subsumieren. Mitzuberücksichtigen sind aber allfällige Gefahrtragungspflichten des Täters (bspw. kraft ihres Berufes: Polizei, Feuerwehr) Eine Gefahrtragungspflicht kann sich überdies auch daraus ergeben, dass der Täter die Gefahr, um deren Abwendung es geht, pflichtwidrig herbeigeführt hat

Unzumutbarkeit rechtmässigen Verhaltens – Entschuldbarer Notwehrexzess

Entschuldbarer Notwehrexzess (Art. 16 StGB) Eine entschuldbare Notwehr kommt in Betracht, wenn zwar eine Notwehrlage gemäss Art. 15 StGB vorliegt, die rechtfertigende Notwehr aber mangels Berücksichtigung der Anforderungen an die Notwehrhandlung verneint wurde

Intensiver Notwehrexzess

Überschreitung durch unverhältnismässig heftige Abwehrhandlung 

Strafmilderung (Art. 16 Abs.1 StGB) 

Extensiver Notwehrexzess

Überschreitung der zeitlichen Grenzen der Notwehrberechtigung 

Strafmilderung? Rechtsprechung: Ja. Lehre: Ja, falls nur geringfügige Überschreitung 

Der Notwehrexzess führt grundsätzlich nur zu einer Strafmilderung Entschuldbar im Sinne von Art. 16 Abs. 2 StGB ist ein Notwehrexzess nur unter bestimmten Voraussetzungen: Zu unterscheiden ist vorab, ob die zum Notwehrexzess führende Gemütsbewegung entschuldbar war Sthenischer Affekt: Wut, Rache, Zorn Asthenischer Affekt: Verwirrung, Furcht, Schrecken 

Entschuldbar ist ein Notwehrexzess nur, wenn der Angegriffene die Grenzen der Notwehr aus einem asthenischen Affekt heraus überschreitet (Art. 16 Abs. 2 StGB) Der sthenische Affekte kommt als Schuldausschliessungsgrund nicht in Betracht Je unangemessener die Abwehrhandlung ist, desto höhere Anforderungen werden an den Grad der Aufregung oder Bestürzung des Abwehrenden gestellt (BGE 102 IV 71 E. 3b) 

Echtes und unechtes Unterlassungsdelikt

Echtes Unterlassungsdelikt

Ein bestimmtes Unterlassen wird in einem Deliktstatbestand ausdrücklich mit Strafe bedroht.

Beispiele: Gefährdung des Lebens (Art. 127 StGB) Unterlassung der Nothilfe (Art. 128 StGB)

Unechtes Unterlassungsdelikt 

Die Verwirklichung eines als Begehungsdelikt formulierten Deliktstatbestandes durch Unterlassen.

Beispiel: Tötung durch Unterlassen (Art. 111 i.V.m. Art. 11 StGB)

Unterlassungsdelikt

Begehen durch Unterlassen (Art. 11 StGB) Auch Untätigbleiben kann strafbar sein Es muss sich um ein Verbrechen oder Vergehen handeln (Abs. 1) Es muss eine qualifizierte Handlungspflicht (sog. Garantenpflicht) bestehen (Abs. 2) Dem Täter muss derselbe Vorwurf gemacht werden können, wie wenn er die Tat durch aktives Tun begangen hätte (Abs. 3) Das Gericht kann die Strafe mildern (Abs. 4) Ein pflichtwidriges Untätigbleiben kann sowohl vorsätzlich als auch fahrlässig begangen werden Der Deliktsaufbau bei den echten vorsätzlichen Unterlassungsdelikten folgt jenem der vorsätzlichen Begehungsdelikte das Prüfschema beim unechten Unterlassungsdelikt weicht hingegen ab (Folie 78, 3. Präsentation)

Tatbestandsaufbau Unterlassungsdelikt

Aufbau beim unechten Unterlassungsdelikt

Objektiver Tatbestand

Eintritt des Erfolgs (Verletzung eines Rechtsguts) Nichtvornahme einer erfolgsabwendenden Handlung Möglichkeit der Vornahme einer solchen Handlung Vorliegen einer hypothetischen Kausalität zwischen unterlassener gebotener Handlung und Erfolg Garantenstellung (aus Gesetz, Vertrag, freiwillig eingegangener Gefahrengemeinschaft oder infolge Schaffung einer Gefahr) Bei Fahrlässigkeitsdelikten zusätzlich zu prüfen: Zurechnungszusammenhang zwischen Sorgfaltswidrigkeit und Erfolg (auch Risikozusammenhang oder Relevanz der Sorgfaltspflichtverletzung genannt)

Subjektiver Tatbestand 

 Vorsatz: Willentliches Untätigbleiben im Wissen aller objektiven Tatumstände, insbesondere auch der Möglichkeit zur Abwendung des Erfolgs? oder objektiver Fahrlässigkeit im Sinne der allgemeinen Voraussehbarkeit, Vermeidbarkeit und Zumutbarkeit (adäquate Kausalität)? (Falls bejaht, ist zusätzlich Prüfung unter dem objektiven Tatbestand vorzunehmen.) Vorliegen übriger subjektiver Unrechtselemente? 

Rechtswidrigkeit

Hier wirkt sich neben den üblichen Rechtfertigungsgründen v.a. die Pflichtenkollision rechtfertigend aus: Der Täter handelt nicht rechtswidrig, wenn er auf Kosten der einen Pflicht eine höherrangige Pflicht erfüllt.

Schuld

Schuldfähigkeit Unrechtsbewusstsein, d.h. fehlen eines unvermeidbaren Gebotsirrtums gem. Art. 21 StGB (der Täter kennt alle (tatsächlichen) Umstände, die seine Garantenpflicht begründen, glaubt aber gleichwohl, die rechtlich geforderte Handlung unterlassen zu dürfen) Schuldausschliessungsgründe (Zumutbarkeit der gebotenen Handlung): Der Täter handelt bspw. nicht schuldhaft, wenn er auf Kosten der einen Pflicht eine gleichwertige erfüllt (sog. entschuldigender Notstand)

Vorprüfung, ob überhaupt ein Tun oder Unterlassen vorliegt Falls kein aktives Handeln den Tatbestand erfüllt, wird subsidiär ein unechtes Unterlassungsdelikt geprüft Subsidiaritätsprinzip (vgl. auch BGE 115 IV 203 f.) Genaue Prüfung insbesondere bei doppelrelevantem Verhalten

Hypothetische Kausalität

Einzelne Tatbestandselemente Hypothetische Kausalität Die hypothetische Kausalität liegt vor, wenn der Täter den verpönten Erfolg nach allgemeiner Lebenserfahrung durch eine Handlung hätte verhindern können Welcher Massstab soll an die Wahrscheinlichkeit des Ausbleibens des Erfolges angelegt werden? Wahrscheinlichkeitstheorie (BGer und Teil der Lehre): Der Erfolg ist nur dann zurechenbar, wenn die gebotene Handlung den Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit abgewendet hätte Risikoerhöhungstheorie (Teil der Lehre): Der Erfolg ist schon dann zurechenbar, wenn die gebotene Handlung das Risiko des Erfolgseintrittes minimiert hätte 

Garantenstellung

Garantenstellung Eine Garantenstellung gem. Art 11 Abs. 2 StGB liegt vor, wenn eine Person rechtlich verpflichtet ist, den in der konkreten Situation eintretenden Erfolg nach Möglichkeit abzuwenden Die heutige Lehre unterscheidet zwischen: Obhuts- oder Schutzpflichten: Der sog. Schutzgarant ist zum Schutz eines bestimmten Rechtsguts vor unbestimmt vielen Gefahren rechtlich besonders verpflichtet Sicherungs- oder Überwachungspflichten: Der sog. Überwachungsgarant ist rechtlich besonders verpflichtet, eine bestimmte Gefahrenquelle zu überwachen und zu verhindern, dass unbestimmt viele Rechtsgüter durch die Realisierung der Gefahr verletzt werden 

Art. 11 Abs. 2 StGB nennt in einer nicht abschliessenden Aufzählung vier Grundlagen für die Entstehung einer Garantenstellung: Gesetz Vertrag Freiwillig eingegangene Gefahrengemeinschaft Schaffung einer Gefahr (Ingerenz) 

Garantenstellung aus Gesetz 

Garantenstellung aus Gesetz (lit. a) Gesetze, die in bestimmten Bereichen eine besondere Verantwortung übertragen Bspe.: Bestimmungen über den Transport von gefährlichen Gütern; Anzeigepflicht bei bestimmten Straftaten Gesetze, die zur Obhut von bestimmten Personen verpflichten Bspe.: Elterliche Sorge (Art. 301 ff. ZGB); Eltern gegenüber ihren unmündigen Kindern; Ehepartner untereinander; öffentlich-rechtliche Berufspflichten (Lehrer) 

Garantenstellung aus Vertrag

Garantenstellung aus Vertrag (lit. b) Verträge, die den Schutz des betroffenen Rechtsgutes als Hauptpflicht enthalten - Nebenpflichten als Treu und Glauben genügen nicht kommt häufig in Kombination mit einer Ingerenz (Gefahrschaffung) nach lit. d oder Gefahrengemeinschaft nach lit. c vor Bspw. der Lagerleiter, welcher die Lagerteilnehmenden in gefährliche Bergregionen oder Badesituationen führt, oder der Lehrer, welcher mit den Schülern eine Schulreise an den Bielersee unternimmt und diese unbeaufsichtigt baden lässt Die Garantenpflicht aus Vertrag entsteht erst dann, wenn die vertraglich abgemachte Aufgabe tatsächlich übernommen wird

Freiwillig eingegangene Gefahrengemeinschaft 

Freiwillig eingegangene Gefahrengemeinschaft (lit. c) Liegt vor, wenn sich mehrere Personen freiwillig gemeinsam in eine Gefahrensituation begeben, ohne die Gefahrenquelle selbst geschaffen zu haben Bspw. Himalaya-Expedition In der Gefahrengemeinschaft verpflichten sich alle Beteiligten zu wechselseitigem Beistand Vertragsähnliche Situation 

Garantenstellung aus Gefahrschaffung

Garantenstellung aus Gefahrschaffung (lit. d) Die Schaffung einer Gefahrenquelle begründet eine Garantenstellung, welche den Täter dazu verpflichtet, zumutbare Vorsichts-und Schutzmassnahmen vorzukehren, um Schaden zu vermeiden (Ingerenz) Für die Strafbarkeit wird zusätzlich verlangt, dass sich der Täter sorgfaltswidrig verhalten hat, also ein unerlaubtes Risiko geschaffen hat. Bsp.: Autoritätsperson, die seine Schützlinge auf rein kosmische Ernährung trimmt (BGE 108 IV 3); Betrieb einer mangelhaften Luftseilbahn (BGE 122 IV 61) Weitere Grundlagen für eine Garantenstellung enge Lebensgemeinschaft Geschäftsherrenhaftung (aber Exkulpationsmöglichkeit)

Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen

Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen/Strafmilderung

Der Täter macht sich wegen pflichtwidriger Untätigkeit nur strafbar, wenn ihm nach den Umständen der Tat derselbe Vorwurf gemacht werden kann, wie wenn er die Tat durch aktives Tun begangen hätte Aufgewendete kriminelle Energie bei einem Unterlassungsdelikt oft geringer als bei einem Handlungsdelikt Anstifter oder Gehilfen zu einem unechten Unterlassungsdelikt brauchen keine Garantenstellung innezuhaben Fakultative Strafmilderung gem. Art. 11 Abs. 4 StGB Nur fakultativ, da das passive Verhalten des Täters auch besonders verwerflich sein kann, so bspw. eine Mutter, die ihr Kind verhungern oder verdursten lässt

Handlungsmöglichkeit

Handlungsmöglichkeit Das Unterlassen einer gebotenen Handlung kann nur strafbar sein, wenn die generelle und individuelle Möglichkeit der Vornahme der gebotenen Handlung besteht: 

Generelle Handlungsmöglichkeit

Fehlt, wenn eine Rettungshandlung im konkreten Fall schlechthin unmöglich ist (ultra posse nemo tenetur)

Individuelle Handlungsmöglichkeit

Fehlt, wenn der Verpflichtete physisch oder psychisch nicht in der Lage ist, im konkreten Fall die Rettungshandlung vorzunehmen

Keine Handlungsmöglichkeit, wenn die Notsituation nicht erkennbar war (objektiv-individueller Massstab) War die Vornahme der gebotenen Handlung unzumutbar, so entfällt die Schuld

Aufbau beim fahrlässigen Handlungsdelikt

 

Objektiver Tatbestand

 Tathandlung Taterfolg (bei Erfolgsdelikten) Natürliche Kausalität Verletzung einer Sorgfaltspflicht Verstoss gegen eine generell-abstrakte Sorgfaltsnorm oder Rückgriff auf den allgemeinen Gefahrensatz objektive Voraussehbarkeit des tatbestandsmässigen Erfolgs (Vertrauensgrundsatz) objektive Vermeidbarkeit des tatbestandsmässigen Erfolgs Risikozusammenhang / Relevanz des sorgfaltswidrigen Verhaltens Risikoerhöhungs- oder Wahrscheinlichkeitstheorie (wäre der Erfolg bei pflichtgemässem Verhalten des Täters ebenfalls eingetreten?) Schutzzweck der Norm

Subjektiver Tatbestand 

Fehlen eines Vorsatzes bewusste Fahrlässigkeit: Der Täter hält den Erfolgseintritt zwar für möglich, vertraut jedoch aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit auf dessen Ausbleiben. unbewusste Fahrlässigkeit: Der Täter erkennt aus pflichtwidriger Un-vorsichtigkeit die Möglichkeit der Erfolgseintritts nicht

Rechtswidrigkeit

Unrechtsaufhebung durch Rechtfertigungsgründe (mit objektiven und subjektiven Elementen

Schuld

Schuldfähigkeit Subjektive Fahrlässigkeit Voraussehbarkeit Vermeidbarkeit potentielles Unrechtsbewusstsein Schuldausschliessungsgründe

Relevante einzelne Tatbestandselemente

Unvorsichtigkeit

Unbewusste Fahrlässigkeit: Täter sieht Tatbestandsverwirklichung nicht voraus und will sie auch nicht. Bewusste Fahrlässigkeit: Täter hält Tatbestandsverwirklichung für möglich, vertraut jedoch auf deren Ausbleiben

Pflichtwidrigkeit

Unerlaubtes Risiko: Überschreiten der Grenzen des erlaubten Risikos. Vertrauensgrundsatz Übernahmeverschulden

Voraussehbarkeit

Massstab: Individuelle Kenntnisse und Fähigkeiten. Adäquate Kausalität: Betrifft Frage der Eignung des Täterverhaltens in Bezug auf den vorauszusehenden verpönten Erfolg und deren Kriterien

Vermeidbarkeit

Massstab: Individuelle Kenntnisse und Fähigkeiten Ergreifen von Vorkehren zur Verhinderung der Risikoverwirklichung Unterlassen der gefährlichen Handlung

Relevanz

Nutzlosigkeit rechtmässigen Alternativverhaltens Erfolgsrelevanz Risikozusammenhang 

 

Fahrlässigkeitsdelikt Übersicht

Das Fahrlässigkeitsdelikt ist nur strafbar, wenn der Straftatbestand dies ausdrücklich vorsieht (Art. 12 Abs. 1 StGB) Ausnahme: Art. 100 Abs. 1 SVG, wonach Strassenverkehrsdelikte grundsätzlich auch fahrlässig begehbar sind Die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit kommt nur bei einem vollendeten Delikt in Frage Den fahrlässigen Versuch gibt es nicht 

 

Fahrlässigkeitsdelikt Unvorsichtigkeit

Unvorsichtigkeit Unvorsichtig ist ein Täter, der eine Tatbestandsverwirklichung nicht in Erwägung zieht Es handelt auch derjenige unvorsichtig, der eine solche Folge zwar für möglich hält, aber darauf nicht Rücksicht nimmt, d.h. leichtfertig darauf vertraut, diese werde schon nicht eintreten Die Unterscheidung zwischen bewusster und unbewusster Fahrlässigkeit hat in der Praxis höchstens für die Strafzumessung eine gewisse Bedeutung

Bewusste Fahrlässigkeit

Täter erkennt die Gefahr für das Rechtsgut Täter erkennt die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung Täter erkennt die möglichen Folgen seines Verhaltens

Täter nimmt aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht Rücksicht auf die Folgen seines Verhaltens

Täter vertraut pflichtwidrig darauf, die Gefahr werde sich nicht verwirklichen 

Unbewusste Fahrlässigkeit

Täter hätte die Gefahr für das Rechtsgut erkennen müssen Täter hätte die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung erkennen müssen Täter hätte die möglichen Folgen seines Verhaltens erkennen müssen 

Täter bedenkt die Folgen seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht

Fahrlässigkeitsdelikt Pflichtwidrigkeit

Pflichtwidrigkeit Pflichtwidrig ist gemäss Art. 12 Abs. 3 Satz 2 StGB die Unvorsichtigkeit, wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist Es handelt nur derjenige pflichtwidrig, welcher die Grenzen des erlaubten Risikos (BGE 130 IV 10) überschreitet Zu denken ist bspw. an den Strassen-, Eisenbahn- und Luftverkehr, an das Betreiben von Chemieanlagen und AKWs oder den Transport gefährlicher Güter Vertrauensgrundsatz → abgeleitet aus Art. 26 Abs. 1 SVG Besondere Umstände können jedoch gegen die Berechtigung eines solchen Vertrauens sprechen: Wer mit dem Auto mit 50 km/h durch eine Ortschaft fährt und 100 Meter weiter vorne Kinder auf dem rechten Gehsteig spielen sieht, hat das Fahrtempo unter die signalisierte Höchstgeschwindigkeit zu senken, weil er nicht darauf vertrauen darf, dass sich die Kinder regelkonform verhalten werden

Übernahmeverschulden Hat sich ein Täter auf eine Tätigkeit eingelassen, die bekanntermassen eine spezielle Leistungsfähigkeit, eine besondere Ausbildung oder entsprechende Kenntnisse oder Erfahrungen erfordert so macht er sich strafbar, sofern er zur Erkenntnis fähig gewesen wäre, dass ihm die für die entsprechende Verrichtung notwendige Qualifikation fehlt Vorausgesetzt ist folglich, dass der Täter von seinem Unvermögen gewusst hat oder hätte wissen können Im Ausnahmefall gerechtfertigt, bspw. um eine andere Gefahr abzuwenden

Fahrlässigkeitsdelikt Pflichtwidrigkeit Voraussehbarkeit/ Vermeidbarkeit

Voraussehbarkeit Die individuelle Voraussehbarkeit des Erfolgseintrittes ist dann gegeben, wenn der Täter erkennen kann, dass die unerlaubte Gefahr, die er schafft, möglicherweise einen bestimmten Erfolg herbeiführt Das Verbot, unerlaubte Risiken zu schaffen, kann nur bezüglich solcher Risiken bestehen mit denen nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge gerechnet werden müsste

Vermeidbarkeit Strafbarkeit nur, wenn die Tatbestandsverwirklichung vermeidbar Vermeidbarkeit, wenn auf das gefährliche Tun verzichtet werden sollte (z.B. Übernahmeverschulden) oder wenn die Beachtung der geforderten Sorgfalt die Tatbestandsverwirklichung verhindert hätte 

Fahrlässigkeitsdelikt Relevanz

Relevanz (wäre der Erfolg bei pflichtgemässem Verhalten ebenfalls eingetreten?) Der erforderliche Zusammenhang fehlt wenn feststeht, dass sorgfaltsgemässes Handeln nutzlos gewesen wäre Anders verhält es sich nur im Falle der sog. Doppelkausalität Nur wenn eine hypothetische Prüfung ergibt, dass das unsorgfältige Verhalten des Täters die Gefahr erheblich gesteigert hat, ist der geforderte Konnex und damit die Strafbarkeit gegeben (h.L.: Risikoerhöhungstheorie) Die Wahrscheinlichkeitstheorie (BGer) umschreibt dabei den Grad der Wahrscheinlichkeit der Abwendung des Erfolgs mit dem Begriff «höchstwahrscheinlich» (BGE 108 IV 8), «mit hoher Wahrscheinlichkeit» (BGE 118 IV 141; 115 IV 206), «mindestens einen hohen Grad der Wahrscheinlichkeit oder an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit» (BGE 130 IV 11; 121 IV 290

Risikozusammenhang zwischen Sorgfaltswidrigkeit und Erfolg Schutzzweck der angerufenen Norm Die Tatbestandsverwirklichung muss auf ein Risiko zurückzuführen sein, das zu denjenigen gehört, derentwegen die Handlung verboten ist

Konnex

BILDUNGSSPRACHLICH

  1. 1.

    zwischen Dingen bestehende Verbindung, bestehender Zusammenhang

  2. 2.

    persönlicher Kontakt

    "mit jemandem in [näheren] Konnex kommen"

Fahrlässige Unterlassungsdelikte

Das fahrlässige echte Unterlassungsdelikt ist selten und wirft keine besonderen Fragen auf Nach herrschender Lehre können alle fahrlässigen Erfolgsdelikte – im Gegensatz zu den Tätigkeitsdelikten – in der Form des unechten Unterlassungsdelikts begangen werden (bspw. fahrlässige Tötung oder Körperverletzung) Erschöpft sich der Tatbestand in einer reinen Tätigkeit, kann er nicht durch blosses Passivbleiben erfüllt werden Stellt die entsprechende Norm selber auch die Fahrlässigkeit unter Strafe, so genügt es für die Strafbarkeit, dass der Täter pflichtwidrig und schuldhaft den Tatbestand erfüllt bspw. Art. 37 Abs. 2 GwG: fahrlässige Verletzung der Meldepflicht nach Art. 9 GwG 

Setzt das Vorliegen einer Rechtspflicht zur Vornahme der unterlassenen Handlung (Garantenstellung) voraus Es muss ferner die Möglichkeit bestehen, die Handlung vorzunehmen Die Entstehungsgründe der Garantenpflicht sind dieselben wie beim vorsätzlichen Handlungsdelikt Die Fahrlässigkeit kann sich auf jedes Tatbestandsmerkmal beziehen, auch auf die Garantenstellung

Aufbau beim fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt 

Objektiver Tatbestand

Taterfolg Nichtvornahme der gebotenen, erfolgsabwendenden Handlung Möglichkeit der Vornahme der erfolgsabwendenden Handlung Verletzung einer Sorgfaltspflicht : Verstoss gegen eine generell-abstrakte Sorgfaltsnorm oder Rückgriff auf den allgemeinen Gefahrensatz objektive Voraussehbarkeit des tatbestandsmässigen Erfolgs (Vertrauensgrundsatz) objektive Vermeidbarkeit des tatbestandsmässigen Erfolgs Hypothetische Kausalität Garantenstellung Risikozusammenhang/Relevanz des sorgfaltswidrigen Verhaltens Risikoerhöhungs- oder Wahrscheinlichkeitstheorie (wäre der Erfolg bei pflichtgemässem Verhalten des Täters ebenfalls eingetreten?) Schutzzweck der Norm 

Subjektiver Tatbestand

Fehlen eines Vorsatzes bewusste Fahrlässigkeit: Der Täter hält den Erfolgseintritt zwar für möglich, vertraut jedoch aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit auf dessen Ausbleiben. unbewusste Fahrlässigkeit: Der Täter erkennt aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit die Möglichkeit der Erfolgseintritts nicht.

Rechtswidrigkeit

Unrechtsaufhebung durch Rechtfertigungsgründe (mit objektiven und subjektiven Elementen)

Schuld

Schuldfähigkeit Subjektive Fahrlässigkeit (Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit) potentielles Unrechtsbewusstsein Schuldausschliessungsgründe

Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme

Die Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme dient der Differenzierung der Tatverantwortlichkeit bei der Zurechnung der Strafe Gem. h.L. und Rechtsprechung zwei Grundformen: Täterschaft als die Verantwortlichkeit für eine eigene Tat im Gesetz nicht ausdrücklich definiert Teilnahme als Verantwortlichkeit aus der Beteiligung an einer fremden Tat in Art. 24-27 StGB geregelt Art. 27 StGB bezieht sich sowohl auf Formen der Täterschaft als auch jene der Teilnahme 

Formen der Täterschaft 

Alleintäterschaft, Mittäterschaft, Mittelbare Täterschaft, Nebentäterschaft 

(Konkretisierung durch Lehre und Rechtsprechung)

Formen der Teilnahme

Anstiftung Art. 24 StGB, Gehilfenschaft Art. 25 StGB

Numerus clausus der Beteiligungsformen keine weiteren Beteiligungsformen Bei jeder Straftat liegt eine dieser Beteiligungsformen vor

Alleintäterschaft

Der Begriff der Täterschaft wird im Gesetz nicht definiert Die herrschende Lehre sowie das Bundesgericht folgen der sog. Tatherrschaftslehre: Täter ist, wer als Herr über den zur Tatbestandsverwirklichung führenden Geschehensablauf erscheint Unproblematischster Fall: Nur eine Person ist als Täter am tatbestandsmässigen Geschehensablauf beteiligt Wer alle objektiven Tatbestandsmerkmale wissentlich und willentlich verwirklicht, ist zweifelsohne Täter 

Mittäterschaft

Mittäterschaft liegt vor, wenn mehrere Personen gemeinsam eine funktionale Tatherrschaft innehaben Gem. bundesgerichtlicher Rechtsprechung handelt als Mittäter, «wer bei der Entschliessung, Planung oder Ausführung eines Deliktes vorsätzlich und in massgebender Weise mit anderen Tätern zusammenwirkt, so dass er als Hauptbeteiligter dasteht» (BGE 120 IV 265 E. 2.c.aa) Mittäter muss demnach nicht zwingend an den Ausführungshandlungen beteiligt sein → alternative Aufzählung Bewusstes und gewolltes Zusammenwirken Tatbeiträge ergänzen sich wechselseitig und sind aufeinander abgestimmt

Mittäterschaft – gemeinsamer Tatentschluss

In subjektiver Hinsicht setzt die Mittäterschaft Vorsatz (bzw. Eventualvorsatz) sowie einen gemeinsamen Tatentschluss voraus Entschluss zur partnerschaftlichen Tatbegehung erlaubt wechselseitige Zurechnung der Tatbeiträge Entschluss kann auch konkludent oder nach Beginn der Tatausführung (sukzessiv) gefällt werden Ein Exzess ist nur demjenigen zuzurechnen, der ihn begangen hat Bsp.: Wenn bei einem Diebstahl in Mittäterschaft einer der Mittäter plötzlich eine Pistole – von welcher keiner der anderen Kenntnis hatte und auch nicht damit rechnen musste – hervornimmt und jemanden erschiesst, handelt es sich hierbei um einen Exzess, so dass die Tötung nur dem einen Mittäter zuzurechnen ist.