Klinische Psych.


Kartei Details

Karten 52
Sprache Deutsch
Kategorie Psychologie
Stufe Universität
Erstellt / Aktualisiert 22.02.2018 / 02.03.2024
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Was ist Epidemiologie? Definition

E. beschäftigt sich mit der räumliche und zeitlichen Verteilung sowie den Determinanten von Gesundheit, Krankheit, Morbidität und Mortalität in definierten Populationen. 
E. ergänzt klinische Befunde im Rahmen von biopsychosozialen Bedingungsmodellen. 

Epidemiologische Kennwerte (Parameter)

  • Prävalenz = Gesamtzahl (%) aller Krankheitsfälle in einer definierten Population zu einem bestimmten  Zeitpunkt (Punktprävalenz) oder während einer Zeitperiode (Strecken-oder Periodenprävalenz) oder des  Lebens von Personen (Lebenszeit oder lifetime-Prävalenz)
  • Inzidenz = Häufigkeit d. Neuauftretens einer Krankheit in einem bestimmten Zeitraum (z.B. eines Jahres) unabhängig davon, ob die Krankheit noch besteht oder nicht (lifetime-Prävalenz = kumulative. Lifetime-incidence)
  •  „Wahre“ (=Feldstudie in der Bevölkerung) vs. „behandelte“ (administrative) Prävalenz (=Häufigkeit in Behandlungseinrichtungen) bzw. Inzidenz (entsprechend)

Zentrale Voraussetzung: genaue Definition der Bezugspopulation, repräsentative Stichprobe oder Totalerhebung, reliable Falldefinition, Wahl des adäquaten Designs

Der epidemiologogische Trias

Wirt: Person, Disposition, Physiologie, Genetik 

Schädlicher Agens: Akute oder chronische, soziale, psychische, physikalische Belastung oder Noxe

Umwelt: Aktuelle, soziale und physische Umwelt 

Was ist Epidemiologie? Definition

1. deskriptive Epidemiologie: Feststellung d. Krankheitshäufigkeiten/ -verteilung über Raum und  Zeit in Abhängigkeit von Umwelt, Organismus und  Persönlichkeit

- Ermittlung Erkrankungsraten

- Identifizierung allgemeiner Krankheitsrisiken und Risiko-/Schutzfaktoren

- deskriptive Querschnittsstudien (große Stichproben!)

 

2. analytische (genetische) Epidemiologie: Untersuchung von Entstehung, Verlauf und Ausgang von Erkrankungen (incl. Versorgung)

- Prüfung von Hypothesen über kausale Beziehungen zwischen Umweltfaktoren, Krankheit und Person (Ergebnisse der  klinischen Forschung)

- Ermittlung von individuellen Krankheitsrisiken

- Längsschnittstudien (prospektiv-longitudinal, quasi-experimentelle Designs)

- Untersuchung der Versorgungsstruktur u. - qualität und Funktionsweise des Gesundheitswesens (administrative Epidemiologie, Versorgungsepidemiologie)

Epidemiologische Kennwerte (Parameter)

  • Prävalenz = Gesamtzahl (%) aller Krankheitsfälle in einer definierten Population zu einem bestimmten  Zeitpunkt (Punktprävalenz) oder während einer Zeitperiode (Strecken-oder Periodenprävalenz) oder des  Lebens von Personen (Lebenszeit oder lifetime-Prävalenz)
  • Inzidenz = Häufigkeit d. Neuauftretens einer Krankheit in einem bestimmten Zeitraum (z.B. eines Jahres) unabhängig davon, ob die Krankheit noch besteht oder nicht (lifetime-Prävalenz = kumulative. Lifetime-incidence)
  •  „Wahre“ (=Feldstudie in der Bevölkerung) vs. „behandelte“ (administrative) Prävalenz (=Häufigkeit in Behandlungseinrichtungen) bzw. Inzidenz (entsprechend)

Zentrale Voraussetzung: genaue Definition der Bezugspopulation, repräsentative Stichprobe oder Totalerhebung, reliable Falldefinition, Wahl des adäquaten Designs

Psychische Störungen in Deutschland

Bis 2000 keine bundesweiten Untersuchungen; auch international erst in der  letzten Dekade besser untersucht (USA: ECA, NCS; WHO: „Global Burden of Disease“ Studien)

1.Bundesgesundheitssurvey 1998 (BGS98): nationale Erhebung des Gesundheitszustands Erwachsener (18-65) in Deutschland

2.Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS): Deutscher Erwachsener Gesundheitssurvey (DEGS1): bundesweit repräsentative epidemiologische Studie (Robert Koch-Institut, TU Dresden), Daten erhoben zwischen 2008 und 2011, Alter 18-79 Jahre

DEGS1-Mental Health: klinisch-diagnostische Interviews (CIDI) + Fragebögen

Methodik des DEGS1-Mental Health

90-120 min. dauernde persönliche  Zusatz-Untersuchung aller DEGS Teilnehmer möglichst zeitnah nach dem Kernsurvey (14 - 42 Tage)

Standardisiertes computerisiertes diagnostisches Interview (15 Sektionen, einschließlich neuropsychologischer Status) durch klinische Untersucher

Diagnostische Zusatzmodule, z.B. Psychosen, kognitive Beeinträchtigungen

Nicht-diagnostische Module, z.B. Inanspruchnahme, Persönlichkeit, Arbeitswelt, Lebensqualität

Verlaufsmodul (Modul für ehemalige BGS98 –Teilnehmer: Veränderung und Prädiktoren)

Ziel: umfassende Beschreibung psychopathologischer Symptome, Syndrome und Diagnosen psychischer Störungen sowie assoziierter Einschränkungen im Querschnitt und Verlauf

DEGS1-MH - Erfasste Störungsgruppen (ICD-10, DSM-IV)

  • Körperlich- /substanzbedingte psychische Störungen, z.B. organisch wahnhafte Störungen
  • Missbrauch und Abhängigkeit von Substanzen, z.B. Alkohol-, Nikotin-, Stimulantienabhängigkeit
  • Psychotische Störungen: z.B. Schizophrenie, Wahnstörung
  • Affektive Störungen: z.B. Major Depression, Dysthymie, Bipolare Störung
  • Angststörungen: z.B. Panik, GAD, Agora-, Spezifische-, Soziale Phobie
  • Stress-/Anpassung, z.B. Post-traumatische Belastungsstörung
  • Zwangsstörungen, z.B. Zwangsgedanken, -handlungen
  • Essstörungen, z.B. Bulimie, Anorexia nervosa
  • Somatoforme Störungen, z.B. Hypochondrie, Schmerzstörung,
  • Dissoziative  Störung

Der Bundes-Gesundheitssurvey (GHS-MHS)  - Psychische und somatische Morbidität

Anteil aller Untersuchten, die in den letzten 12 Monate die Kriterien für eine oder mehrere Störungsbilder erfüllten – ungeachtet von Dauer, Schwere und Behandlungsstatus!

 

N = 7221 Personen (18-65)

Körperliche Erkrankungen: ohne Bagatellerkrankungen (z.B. Erkältung)

Psychische Erkrankungen: einschließlich  Schlafstörungen (>4 Wochen) und Nikotinabhängigkeit

Beispiele: Nikotinabhängigkeit + kardiovaskuläre Krankheit oder Diabetes, Hypertonus + Major Depression)

 

  • Nur jeder 4. Bundesbürger frei von Krankheit!

Prävalenzraten psychischer Störungen  (Der Bundes-Gesundheitssurvey - GHS-MHS)

Lebenzeit: 42, 6% 

12-Monate Prävalenz: 31,1%

1-Monats Prävalenz: 19,8%

Häufigkeit psychischer Störungen in Deutschland (DEGS1-MH)

12-Monats-Diagnosen psychischer Störungen (18-79 Jährige)

  • Jedes Jahr sind 27,7%  der Bevölkerung von mindestens einer Störung betroffen (95% KI: 26.3-29.2; einschließlich Nikotinabhängigkeit: 34,4%)

33% der Betroffenen sind Frauen, 22% der Betroffenen sind Männer

44% haben mindestens zwei psychische Diagnosen, 22% haben mindestens vier psychische Diagnosen

Junge Erwachsene sind am häufigsten betroffen (46% der 18-79 Jährigen)

Alters- und Geschlechtsverteilung- 12-Monatsprävalenz (DEGS1-MH)

  • Psychische Störungen  am häufigsten bei jungen Menschen (18-34) und weniger häufig bei Älteren

Die häufigsten psychischen Störungen in der Bevölkerung

  • Angststörungen 15,3%
  • Unipolare Depression 7,9%
  • Alkoholstörungen 4,3%
  • Somatoforme Störungen 3,5%
  • Psychotische Störungen 2,6%
  • Bipolare Störungen 1,5%
  • Körperlich bedingte  psychische  Störungen 1,2%
  • Anorexia Nervosa 0,7%
     
  • Frauen leiden am häufigsten an Angststörungen, Depressionen, Somatoformen Störungen, Essstörungen
  • Männer leiden häufiger an Sucht-/Alkoholstörungen

Diagnostische Prävalenz = Behandlungsbedarf?

Obwohl die Vergabe einer jeden CIDI/DSM-IV Diagnose voraussetzt:

  • definierte Symptomkriterien (incl. Minimalmerkmale der Dauer, Schwere, Frequenz) + klinisch bedeutsames Leiden
  • Symptombedingte Einschränkungen und Behinderungen
  • und/oder aktives professionelles Hilfesuchverhalten

ist eine derartige Gleichsetzung höchst problematisch!

Weitere Faktoren: Motivationales Stadium des Patienten, psychosoziale Rahmenbedingungen, Verfügbarkeit von „first-line treatments“, Merkmale des Therapeuten/Dienstes, Wirtschaftlichkeitskriterien, etc

Trotzdem kann wissenschaftlich begründet bei jeder der Diagnosen von einem zumindest „niederschwelligen“ Interventionsbedarf in bestimmten Phasen der Störung ausgegangen werden

Versorgung psychischer Störungen

Inanspruchnahme von Personen mit Störung (self-report. Fälle mit einer Lifetime-Diagnose einer psychischen Störung):

Stationär 13.0%, Ambulant 34.4%, Hausarzt 13.6%, Psychiater/Nervenarzt 11.8%, Psychotherapeut 19.4%

Fazit: Epidemiologie psychischer Störungen in Deutschland

  • Größenordnung psychischer Störungen bislang gravierend unterschätzt: 43% der  Bevölkerung (Lebenszeitprävalenz) hat schon einmal eine psychische Störung  durchgemacht (Frauen: 48%)!!
     
  • aktuell leidet mehr als jeder vierte Bundesbürger (27,7% 12-M-Prävalenz) unter mindestens einer psychischen Störung; Frauen (33,3%) sind auch aktuell (12-MPrävalenz) häufiger betroffen als Männer (22,0%) - Ausnahme Sucht
     
  • Ausgeprägte Lebenszeit- und Querschnittskomorbidität psychischer Störungen sowie mit körperlichen Erkrankungen und  bedeutsame Folgen für Verlauf und Schweregrad
     
  • Assoziierte Einschränkungen/Behinderungen sowie gesundheitsökonomische  und volkswirtschaftliche Folgen höher als bei somatischen Erkrankungen

Ersterkrankungsrisiko und Verlauf

Ersterkrankungsrisiko: diagnostisch unterschiedlich, am höchsten in den ersten 3 Dekaden:

  • frühe Störungen (Alter <20): Phobien, Drogen-, Ess- und somatoforme Störungen (Ausnahme Schmerzsyndrome)
  • spätere Störungen: Panikstörung, Generalisierte Angst, Alkohol, Depression

Verlauf: variabel

  • eher episodisch: affektive Störungen (Major Depression, Bipolare Störung)
  • eher persistierend/chronisch: Alkoholabhängigkeit, Angststörungen, somatoforme Störungen, Dysthymie
  •  höhere Spontanremission: frühe Phobien, Drogenmissbrauch

Ätiologie und Pathogenese psychischer Störungen I: Einführung
Definition

Ätiologie:  Lehre von den Krankheitsursachen, umfasst die Gesamtheit von (Risiko-) Faktoren, die (kausal) zu Krankheit oder Störungen führen

Ätiopathogenese/Pathogenese: Konzepte von der Ursache für die Entstehung einer bestimmten Krankheit. Prozess der Gesamtheit der an der Entstehung und Entwicklung einer Krankheit beteiligten Faktoren

Pathophysiologie: Lehre von den krankhaften (biologischen) Prozessen und Funktionsstörungen im Organismus

Kernfragen der Ätiologie psychischer Störungen

  • Gibt es überhaupt überindividuelle kausale (Einzel-) Ursachen für psychische Störungen bzw. lassen sich diese eindeutig bestimmen?
  • Sind die Ursachen psychischer Störungen primär körperlicher, psychischer oder sozialer Art – oder kommt alles zusammen?
  • Wie sind ätiologische Fragestellungen empirisch zu untersuchen (Möglichkeiten und Grenzen)?
  • Welche Modelle auf Basis des aktuellen Forschungsstandes sind bisher formuliert worden?

Bedingungen des Störungsverlaufes

Verlauf einer Störung in vier aufeinanderfolgenden Phasen mit in jedem Abschnitt Bedingungsfaktoren mit unterschiedlicher Funktion:

1. prä- und perinatale Phase

2. Sozialisations- und Entwicklungsphase

3. Prodromalphase

4. Verlauf nach Störungsausbruch

Verlauf psych Störungen/ Phase 1 (prä- und perinatale Phase)

  • Randbedingungen für die weitere Entwicklung:
  • genetische Faktoren, Einflussgrößen, die während Schwangerschaft wirksam werden, Einflussgrößen aus der Zeit während bzw. um die Geburt
  • Ergebnis dieser Einflussgrößen: (genetische) Disposition bzw. Prädisposition, Diathese bzw. Vulnerabilität, Persönlichkeitsaspekte („Akzentuierung“), welche die Herausbildung einer Störung begünstigen

Verlauf psych.  Störungen / Phase 2 Sozialisations- und Entwickklungsphase

Entwicklung: intraindividuelle Veränderungsquellen (z.B. Reifung) als lebenslanger Prozess (life-span development)

-Sozialisation: Persönlichkeitsveränderungen aufgrund der Einflüsse anderer Personen und Institutionen

-Risiko-/Schutzfaktoren: an der Entstehung von Störungen sind sowohl vulnerabilisierende und protektive Einflussgrößen aus der frühen Kindheit beteiligt als auch Faktoren, die sich im Erwachsenenalter herausbilden

-Interaktion: Zusammenwirken der Einflussgrößen der frühen Kindheit mit den Einflussgrößen des Erwachsenenalters: ob eine Störung entsteht hängt von zusätzlichen auslösenden Momenten ab

-Resilienz/Salutogenese: keine Herausbildung einer Störung trotz vulnerabilisierender Faktoren

-Marker: Indikatoren für eine Störung

  • Trait-marker: vor erstmaligem Auftreten einer Störung vorhandene Merkmale
  • State-marker: Indikatoren, die nur während einer Störung gemessen werden können. Vorhersagemöglichkeit für den weiteren Verlauf

Phase 3 (Prodromalphase) und Phase 4 (Verlauf nach Störungsausbruch)

Phase 3:

-Störungsausbruch in der Regel nicht plötzlich, sondern schleichend

-Beginn der Störung meist nur bedingt zeitlich lokalisierbar (Datierungshilfen wie Diagnosestellung, Änderungswunsch, Hilfesuchverhalten)

-Im Vorfeld des Störungsausbruches in der Regel Auslöser sowie vulnerabilisierende oder protektive Faktoren wirksam

-Diathese-Stress-Modelle erklären das Zusammenspiel zwischen Anlage und Belastung

Phase 4:

Zeit nach dem Störungsausbruch: aufrechterhaltende Bedingungen

Auch hier beeinflussen schädigende und schützende Faktoren den weiteren Verlauf der Störung, z.B. „Expressed Emotion“: unterschiedliche Familienkonstellationen führen zu unterschiedlichem Rückfallrisiko bei schizophren Erkrankten

Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen 

Akquisitionsbedingungen:

-Faktoren der Phasen 1 + 2: kausale Entstehungsfaktoren für Vulnerabilität oder störungsfördernde Bedingungen: primäre Prävention (gezielte Verringerung bzw. Unterbindung spezifischer Risiken)

-Ätiologisches Wissen über Akquisitionsbedingungen ermöglicht Indikations- und Prognosestellung und die gezielte Entwicklung therapeutischer Strategien

-Allerdings sind Ätiologietheorien nur begrenzt verfügbar. Empirisch fundiertes Bedingungswissen ist bedeutsamer!

Performancebedingungen:

Faktoren der Phase 3 + 4: haben hohen Stellenwert für die Therapie: Kenntnisse über jene Faktoren, die zum Zeitpunkt der Störung das gestörte Erleben und Verhalten regulieren

Funktionale Zusammenhänge zwischen gestörtem Verhalten einerseits und externen Stimulusbedingungen sowie internen kognitiven, verdeckten Verhaltenstendenzen andererseits

  • Klärung der Performancebedingungen: alpha- (externe situative Variablen), beta- (personale Variablen wie Kognitionen) und gamma-Variablen (biologische Variablen)

Methodische Gesichtspunkte zur Versuchsplanung ätiologischer Studien

  • Wesentliches Problem: Spezifizität der Befunde – Welche spezifischen Risikofaktoren verursachen welche spezifischen Störungen?
  • Überprüfung an klinischen Vergleichsgruppen: Gesund und Personen mit anderen Störungen
  • Stichprobenselektion
  • Design: Zahl der Erhebungszeitpunkte
  • Stichprobenumfang: Zahl der untersuchten Personen
  • Auflösungsgrad: Abbildungsgenauigkeit Phänomen /Untersuchung
  • Ausmaß an Einflussnahme der Untersucher
  • Analyseform

Studientypen

Naturalistische Studien: unmittelbare Erfassung der Realität an repräsentativer Bevölkerungsstichprobe

Klinische Studien: reale Bedingungsanalyse an selektierten Stichproben (Patienten in Behandlung)- Selbstselektivität

Analogstudien: nur partielle oder vergleichsweise Abbildung der Realität – trotz eingeschränkter Übertragbarkeit leisten sie wichtige Beiträge zur Frage der Ätiologie: Tieruntersuchungen, Experimente an gesunden Menschen, Computersimulationen

Einzelfallstudien: können wichtige Anregungen zur Ätiologie/Bedingungsanalyse geben – aber nicht als Beweise für Ätiologieaussagen akzeptabel, wegen begrenzter externer Validität

  • Dilemma interne vs. externe Validität: es gibt keine bezüglich aller Aspekte valide Studie!

Drei Arten der Stichprobenselektion

  • Klinische Gruppen: Analyse der Entstehungsbedingungen aus Daten von Inanspruchnahmepopulationen: selektive Stichproben, die eine bestimmte Institution frequentieren – verwendbar für alle Designs der Längs- und Querschnittstudien
     
  • Risikogruppen: Analyse der Bedingungen für ein erhöhtes Krankheitsrisiko: kleinere Stichprobengrößen legitim, Verzicht auf Kontrollgruppe hingegen nicht – verwendbar für prospektive Längsschnittstudien (Risikogruppen auch verwendet bei Querschnittsstudien)
     
  • Unausgelesene Stichproben der Normalpopulation: Überprüfung von real-life-Bedingungsgefügen – für prospektive Längsschnittstudien, große Ausgangsstichproben sind erforderlich

Design Querschnitt

Vergleich von 2 oder mehr Stichproben, die sich in ätiologisch wichtigen Aspekten unterscheiden (z.B. gesund vs. gestört):

Genetik: Berechnung Morbiditätsrisiko für eine Störung bei verschiedenen Verwandschaftsgraden – Erwartung von Gesetzmäßigkeiten

Epidemiologie: Untersuchung von Stichproben z.B. mit unterschiedlicher Schichtzugehörigkeit bezüglich des Erkrankungsrisikos

Experiment: Versuchsgruppe wird mit Kontrollgruppe verglichen – oftmals korrelatives oder quasiexperimentelles Design

Kritik: Querschnittsuntersuchungen bergen Interpretationsprobleme bezüglich kausaler Fragestellungen – das beobachtete Phänomen kann unterschiedlich erklärt werden:

Symptomvariante: Phänomen P (bsp. Schlafstörung) ist Teil der Störung X (bsp. Depression)

Variante Aufrechterhaltung der Störung: P (Korsakow-Demenz)  folgt sekundär aus X (Alkoholkrankheit)

Ursachen-, Bedingungsvariante: P (Schilddrüsenfehlfunktion)  führt kausal – allein oder mit anderen Faktoren – zu X (Depression)

Vulnerabilitätsvariante: P (Genetische Belastung) – allein oder zusammen mit anderen Faktoren – erhöht das Risiko für X (Schizophrenie)

Design: Drei Arten von Längsschnittstudien

  • Retrospektive Längsschnittstudie: Rekonstruktion der Vergangenheit aus aktueller Sicht: retrospektive Verlaufsaussagen, wichtig in der life-event und coping-Forschung
  • Kritik: Verzerrungseffekte
     
  • „Fiktive“ Längsschnittstudie (cross sectional): Zeitliche Aneinanderreihung einzelner Gruppen (Kohorten bsp. Patientengruppen, die seit 1, 5 und 10 Jahren an Schizophrenie leiden) ergeben künstliche Längsschnittdaten aus verschiedenen Stichproben
  • Kritik: Kohorten- und Zeiteffekte, Risiko falscher Schlussfolgerungen
     
  • (repräsentative) prospektive Längsschnittstudie:: Normale Personen (noch-gesunde) vor Ausbruch einer Störung werden über einen längeren Zeitraum unter natürlichen Bedingungen beobachtet. Nach Ausbruch der Störung Vergleich mit Personen ohne Störung
  • Kritik: Befunde nur für betreffende Kohorte gültig (Generationeneffekt)

Zusammenfassung: Ätiologie-Vorstellungen

  • Es existieren verschiedenste Formen von Ursachen-Erklärungen
  • Meist nicht nur eine Ursache, sondern Ursachenbündel bzw. Ursachenkette: Multikausalität bzw. multifaktorielle Entstehung/Bedingungen einer Störung: Wirksamkeit mehrerer Faktoren
  • Psychische Störungen bedingt durch biologisch/somatische, psychische, soziale und/oder ökologische Faktoren: gegenseitige Beeinflussung verschiedener Faktoren
  • Verschiedene Zusammenhänge möglich: Störung X und Y sind voneinander unabhängig oder haben eine gemeinsame Ursachenkette oder bedingen sich ein- oder wechselseitig
  • Komorbidität: gegenseitige Relation der den jeweiligen Störungen zugeordneten Bedingungsketten: Verkomplizierung der Ursachenfrage
  • Die Gültigkeit einer angenommenen Ätiologietheorie ist nicht automatisch durch eine erfolgreiche Intervention bewiesen

Ätiologie und Pathogenese psychischer Störungen II: Verhaltensgenetik – genetische Faktoren

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Folie 02: Verhaltensgenetik

Wissenschaftliche  Disziplin, die sich mit der intrafamiliären Häufung von Störungen und Vehaltensdispositionen beschäftigt und sich genetisch-epidemiologischer und humangenetischer Methoden bedient

Fragestellungen:

  • Für welche psych. Störungen lassen sich familiäre Häufungen identifizieren (in welchem Ausmaß)?
  • Welche Ursachenbedingungen (genetische vs. Umweltfaktoren) sind in welchem Verhältnis dafür verantwortlich?
  • Liegen psychischen Störungen veränderte Genstrukturen zugrunde, die von den Eltern auf die Kinder übertragen werden und die in kritischen Expressionsphasen manifest werden?

 Methodik von Familienstudien

1. repräsentative und hinreichend große Stichprobe der Indexpatienten und ihrer Angehörigen

Bsp: Eltern und ihre Kinder oder Kinder und  ihre Eltern und  Geschwister und Großeltern

2. umfassende psychopathologische Untersuchung (incl. Subklinischer Ausprägungen psychischer Störungen!)

3. prospektiv-longitudinale Untersuchung der Kinder (ob und wann tritt Störung auf?)

4. Berücksichtigung familiärer Sozialisationseinflüsse (Familienklima, Erziehungsstil etc.)

5. Heranziehung aller verfügbaren Datenquellen (Informationen auch von anderen über andere – best estimate)

6. Beachtung der relevanten Zeiten für Erstmanifestation und Charakter der Störung (episodisch vs. chronisch)

Jenseits deterministischer Theorien: 3 Interaktionsarten zw. Genen und Verhalten

1. Passive Interaktion: Genetische Faktoren der Eltern (z.B. Übergewicht) erzeugen Umweltbedingungen (z.B. vermehrtes Essen, mehr u. fettreichere Nahrungsmittel), die passiv vom Kind aufgenommen werden

2. Evokative Interaktion: genetisch bestimmte Eigenschaften (z.B. Adipositas o. äußerliche Missbildung) ruft spezifische Reaktionen der Umwelt hervor (Ablehnung, Stigmatisierung), die ihrerseits Problemverhalten („Frustessen“) auslösen können

3. Aktive Interaktion: Person sucht oder schafft sich Umweltbedingungen/Situationen, die zu seinen genetisch bedingten Eigenschaften u. Verhaltensmustern passen (z.B. Lichtempfindlichkeit, also  Tätigkeit in Innenräumen)

-> Genetische u. epigenetische Einflüsse (Umwelt) auf das Verhalten lassen sich i.d.R. nur schwer voneinander trennen, vielfältige Wechselbeziehungen!

Forschungsmethoden der Verhaltensgenetik

1. Familienstudien: Vergleich von Blutsverwandten: Kinder erhalten von ihren Eltern jeweils 50% der Gene, Nichten und Neffen teilen 25% der genetischen Veranlagung eines Onkels/einer Tante

2. Adoptionsstudien: Vergleich der Störungsprävalenz wegadoptierter Kinder mit a) ihren leiblichen Eltern u. Geschwistern mit b) ihren Stiefeltern und Geschwistern

3. Zwillingsstudien: Vergleich Monozygote (MZ = 100% genetisch identisch) mit Dizygoten (DZ = 50% genetisch identisch) oder Geschwistern

4. Tierstudien: Systematische Züchtungsexperimente mit Kandidaten-Genen (z.B. Toleranz, Sensitivierung  und  Craving bei Substanzstörungen)

Interpretationsprobleme/ Verhaltensgenetik 

1. Differenzierung des Einflusses von Genen und Umweltfaktoren oft nicht möglich – da oft gemeinsam aufgewachsen (same nurture): dies kann nur durch Untergruppen getrennt Aufgewachsener bzw. durch Adoptionsstudien geklärt werden.

2. Quantifizierung und Interpretation oft schwierig, da sich verschiedene Störungen zu unterschiedlichen Lebenszeiten (Reifung, Entwicklung) erstmalig manifestieren und sie unterschiedliche Verläufe haben: z. B.: müsste man bei Depressionen bis zum 45. Lebensalter der Nachkommen warten, oder bei der Schizophrenie bei Männern bis 18, bei Frauen jedoch bis 28, bei Phobien hingegen früher (bis 16)

Was bedeutet das für die Vererbbarkeit psychischer Störungen?

Das menschliche Gehirn ist das komplexeste bekannte System des Universums

Psychische Störungen stellen ihrerseits komplexe Phänomene dar, die aus einem komplizierten Wechselspiel unterschiedlichster Funktions- und Struktureinheiten sowie Person-Umwelt-Interaktionen resultieren

Angesichts der relativ kleinen Zahl von Genen ist es daher extrem unwahrscheinlich, dass es einzelne Gene für psychische Störungen verantwortlich sein können

  • Die überwiegende Mehrzahl von verhaltensrelevanten Merkmalen ist polygenetisch bedingt, das erschwert die Identifikation von genetischen Ursachenzusammenhängen

Fazit: Familiäre Risikofaktoren bei psychischen Störungen

Folie 53: Fazit: Familiäre Risikofaktoren bei psychischen Störungen

Für die meisten psychischen Störungen gibt es sowohl aus Zwillingsstudien-Untersuchungen, wie auch aus Familienuntersuchungen Evidenz für familiäre Risikofaktoren

Dabei ist von einer Interaktion genetischer und umweltbedingter Faktoren auszugehen

Der Erklärungsanteil der Genetik ist insgesamt erheblich, aber die relativen Anteile  biologische versus psychosoziale Faktoren bleiben noch unklar!

Bei der Spezifität bleibt offen, ob es konkrete Krankheitszeichen sind (ein Gen für Depression ist  unwahrscheinlich!) oder ob es spezifische Vulnerabilitäten (z. B. HPA Dysfunktionen) sind, die übertragen werden

  • Der Einfluss von Genen und Umwelt ist nicht als Entweder-Oder zu sehen, sondern in Form vielfältiger Wechselbeziehungen!

Ätiologie und Pathogenese psychischer Störungen III: Neurobiologische Faktoren

Neurobiologie psychischer Störungen

  • Alle normalen wie gestörten psychischen Prozesse sind an die Intaktheit neurobiologischer Prozesse (Reizübertragung, Neurotransmitter, Hormone, Proteine) gebunden.
     
  • Hirnorganische Störungen verändern Bewusstsein, Wahrnehmung, Informationsverarbeitung, Gedächtnis, denken und Emotionen in oft dramatischer Weise.
     
  • Auch psychische Störungen sowie akute Stresszustände weisen in der Regel Veränderungen neurobiologischer Prozesse und Funktionen auf.
     
  • Diese Veränderungen können durch genetische Einflüsse, Lernerfahrungen oder Reizverarbeitung induziert und moderiert werden.
     
  • Psychopharmakologisch wird versucht, diese Prozesse gezielt zu beeinflussen, z.B. durch Einsatz förderlicher (Agonisten) oder blockierender Substanzen (Antagonisten)

Effizienz der Signalübertragung – synaptische Struktur

Die Effizienz der Signalübertragung hängt vom Ausmaß der Rezeptorstimulation ab, d.h.

  • von der Rezeptoranzahl, die zunehmen (Up-Regulation) oder abnehmen (Down-Regulation) kann
  • der Verfügbarkeit der Transmittermoleküle

Bis zu 200mal in der Sekunde feuert eine Nervenzelle ihre Signale ab

Auf einen Stromstoß hin versammeln sich am Ende des Axons Kalzium-Ionen, und in Bläschen konzentrieren sich Neurotransmitter, chemische Botenstoffe

Sie überqueren den Spalt zur Nachbarzelle, bewirken dort eine Öffnung der Ionenkanäle

Der Fluss der geladenen Teilchen erregt die Dendriten – das elektrische Signal wird weitergegeben

Funktion einer Synapse

  • Die Transmitter-Verfügbarkeit hängt u.a. ab: Vom Ausmaß der Herstellung (Synthese) und Freisetzung (Release) der Transmitter
  • Der enzymatischen Inaktivierung im synaptischen Spalt
  • Der Wiederaufnahme (Reuptake) in das präsynaptische Axonterminal