FUH SS15
Set of flashcards Details
Flashcards | 80 |
---|---|
Language | Deutsch |
Category | Psychology |
Level | University |
Created / Updated | 02.08.2015 / 22.08.2015 |
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Intentionsinterferenzen und die Transintentionalität des Sozialen
Im zweiten Erklärungsschritt muss das Problem bearbeitet werden, wie aus
dem Handeln der Akteure über die „Logik der Aggregation“
die sozialen Strukturen zustande kommen. Nun geht es also umgekehrt
darum, Handeln als unabhängige Variable zu nehmen und soziale Strukturen
zur abhängigen Variable zu erklären - genauer: die strukturellen Effekte, die
das handelnde Zusammenwirken mehrerer Akteure hat. Damit wendet man
sich den bereits im ersten Kapitel angesprochenen „Verwicklungen“ der Hand-
lungszusammenhänge zu, in denen sich die Akteure miteinander befinden und
aus denen die sozialen Phänomene hervorgehen.
„Logik der Aggregation“
Es geht in der „Logik der Aggregation“ beim handelnden Zusammenwirken
also um die Wirkungen, die ein bestimmtes Handeln im Aufeinandertreffen mit
anderem Handeln hat. Die soziologisch hier interessierenden Handlungswir-
kungen bestehen aus drei Arten von Struktureffekten: dem Aufbau, dem Erhalt
und der Veränderung von sozialen Strukturen.
statisch und dynamisch
Dass Aufbau und Veränderung etwas Dynamisches sind und einen erklä-
rungsbedürftigen Wandel sozialer Strukturen mit sich bringen, leuchtet ohne
weiteres ein. Dementsprechend ist „sozialer Wandel“ eines der wichtigsten
Themen der Soziologie in einer sich beständig verändernden modernen Ge-
sellschaft. Die Beschäftigung mit sozialem Wandel wird oft als Spezialgebiet
soziologischer Theoriebildung angesehen, verbunden mit der Annahme, dass
dazu ganz eigene theoretische Modelle benötigt würden. Das liegt daran, dass
- auch in der Soziologie - oft in einem falschen, gegensätzlichen Verständnis
von Dynamik und Statik gedacht wird. Wenn etwas gleich bleibt, wird es als
statisch bezeichnet, und bedarf dann scheinbar keiner Erklärung aus den Dy-
namiken handelnden Zusammenwirkens. Aber, paradox formuliert: Auch die
Statik ist dynamisch. Wenn zum Beispiel die Einkommensverteilung in der
Bundesrepublik über Jahrzehnte dieselbe bleibt; wenn viele Worte und Rede-
wendungen der Sprache unverändert immer weiter benutzt werden; wenn die
meisten Teilnehmer eines Seminars sich jede Woche auf dieselben Plätze
setzen; oder wenn ein bestimmtes Gesetz über Jahrzehnte unrevidiert Gültig-
keit behält: Auch diese identischen Reproduktionen sozialer Strukturen müs-
sen aus dem handelnden Zusammenwirken erklärt werden.
Dynamik der „structuration“
Schon Anthony Giddens’ bereits im Kapitel 1.2 angesprochenen theoreti-
schen Vorstellungen über die „duality of structures“ betonen, dass alle sozialen
Strukturen, ob sie gleich bleiben oder sich verändern, auf einer beständigen
Dynamik der „structuration“ beruhen. Eines seiner Beispiele ist die Sprache:“...
one of the recurrent consequences of my speaking or writing English in a cor-
rect way is to contribute to the reproduction of the English language as a who-
le.“ (Giddens 1984: 8) Georg Simmel (1917: 39) war sich dieses Tatbestandes
ebenfalls sehr bewusst: „Gesellschaft ist ... keine Substanz, ... sondern ein
Geschehen, ist die Funktion des Empfangens und Bewirkens von Schicksal
und Gestaltung des Einen von Seiten des Andern.“
„Etablierten-Außenseiter-Beziehungen“
Bei Norbert Elias (Elias/Scotson 1990) findet sich die Betrachtung von „Eta-
blierten-Außenseiter-Beziehungen“, etwa alteingesessenen Bewohnern eines
Stadtviertels und neu hinzukommenden sozialen Gruppen, zum Beispiel aus-
ländischen Arbeitern mit ihren Familien. Manchmal ist es so, dass solche an-
fänglichen „Außenseiter“ nach einiger Zeit das Stadtviertel übernehmen, also
die ehemals „Etablierten“ nach und nach wegziehen, so dass die soziale
Struktur sich in Gestalt eines Austausches der „Etablierten“ verändert. Das
muss aber nicht so sein. Elias hat auch stabil bleibende „Etablierten-
Außenseiter-Beziehungen“ untersucht. Stabilität heißt hier nämlich nichts an-
deres, als dass die „Etablierten“ beständig durch bestimmte Handlungsmuster
und Strategien ihren Status aufrecht erhalten müssen, weil man davon ausge-
hen kann, dass die „Außenseiter“ als Benachteiligte in einer solchen Konstella-
tion sich immer wieder bemühen werden, diese Benachteiligung zu verringern.
Das Konstellationsgleichgewicht - wenn es eines gibt - beruht also darauf,
dass kontinuierlich Kräften, die es verschieben wollen, andere Kräfte entge-
gengesetzt werden. Es ist also kein statisches, sondern ein dynamisches
Gleichgewicht.
Intentionsinterferenzen
Ausgangspunkt der Analyse des handelnden Zusammenwirkens ist jetzt al-
so, was die Akteurmodelle im Einzelnen darlegen: dass Akteure normkonform,
nutzenverfolgend, emotionsgetrieben oder identitätsbehauptend handeln. Die
je spezifischen Ausprägungen dieser vier Arten von Handlungsantrieben bil-
den die situativen Intentionen der Akteure. Und die Handelnden haben in ihrer
jeweiligen Handlungssituation im Grunde natürlich die Erwartung, dass sich
ihre Intentionen erfüllen. Niemand würde - aus welchem der Handlungsantrie-
be heraus auch immer - in eine bestimmte Richtung handeln, wenn er oder sie
von vornherein davon ausginge, dass etwas schief geht oder sich die Intention
sowieso nicht erfüllen wird.
Doch was passiert, wenn die Intentionen der Akteure aufeinander treffen?
In dem Moment bestehen zwischen den Akteuren Intentionsinterferenzen -
womit noch nicht gemeint ist, dass ihre Intentionen notwendig konkurrieren
oder unvereinbar sind, sondern zunächst nur, dass ihre Intentionen sich über-
lagern und gegeneinander stehen, allein dadurch, dass die Akteure einander
in die Quere kommen.
Intentionsinterferenzen
bei den 4 Akteuren
Dies wurde im Zusammenhang mit dem sozialen Handeln des Homo Oe-
conomicus als Interdependenzbewältigung angesprochen. Normorientiertes,
emotionales oder identitätsbehauptendes Handeln gerät freilich genauso
schnell in Intentionsinterferenzen. Schon die Überwachung der Normkonformi-
tät eines Akteurs durch seine jeweilige Bezugsgruppe weist auf eine solche
Interferenz hin. Verletzt der Akteur die normativen Erwartungen, greift die Be-
zugsgruppe durch Sanktionen ein. Dass die Bezugsgruppe dann, wenn ihren
normativen Erwartungen entsprochen wird, nicht weiter eingreift, sondern den
Handelnden gewähren lässt, ist eines der wichtigsten Beispiele für den in Ka-
pitel 2 angesprochenen Sachverhalt, dass auch Unterlassen Handeln sein
kann- und eine Intentionsinterferenz ist hier genauso gegeben. Dramatisch
augenfällig werden Intentionsinterferenzen normorientierten Handelns dann,
wenn der Akteur Intra-Rollenkonflikten ausgesetzt, also mit rivalisierenden
Erwartungen verschiedener Bezugsgruppen konfrontiert ist. Weitere Intenti-
onsinterferenzen können bei normorientiertem Handeln daraus entstehen,
dass Akteure Kooperationsnormen unterliegen, also dazu angehalten werden,
in bestimmter Weise mit anderen zusammenzuwirken. Emotiona-
les Handeln kann Intentionsinterferenzen hervorrufen, wenn der Gefühlsaus-
bruch eines Akteurs andere stört oder umgekehrt andere den betreffenden
Akteur daran hindern, seine Gefühle auszuleben. Das Ausleben mancher Ge-
fühle bedingt oder erstrebt auch ein gefühlsmäßig gleichgestimmtes Handeln
anderer Akteure, sozusagen emotionale Kooperation. So will, wer jemanden
liebt, von diesem wiedergeliebt werden. Ähnliche Arten von Interferenzen fin-
det man schließlich auch bei identitätsbehauptendem Handeln.
„Einsamkeit und Freiheit“
Klar ist jedenfalls: Bei kaum einem Handeln ist ein Akteur in
dem Sinne unabhängig von anderen, dass diese handeln könnten, wie immer
sie wollten, ohne dass ihn dies bei der Verfolgung seiner Intentionen tangierte.
Gerade auch „Einsamkeit und Freiheit“ bedarf sozial arrangierter und damit
auch verletzbarer Abschirmung. Wenn man nicht auf einer Insel für sich allein
lebt, hängt man zumindest von der Nicht-Einmischung anderer ab, um wenigs-
tens gelegentlich genau das tun und lassen zu können, was man selbst will.
Wann eigentlich ist jemand ganz und gar ungestört? Er ist es jedenfalls dann
nicht, wenn er sich zum Beispiel zurückgezogen hat, um in Ruhe ein Buch zu
lesen, und plötzlich gewahr wird, wie in der Wohnung über ihm laute Musik
angestellt wird. Dieses Beispiel zeigt im Übrigen auch, dass Intentionsinterfe-
renzen nicht unbedingt von Anfang an wechselseitig sein müssen. Der Buch-
leser stört den Musikhörer zunächst nicht.
Intentionsinterferenzen, wie sie sich aus dem Aktiv- oder dem Unterlassungshandeln Anderer ergeben können
Jemand handelt also, und dabei bemerkt er früher oder später, schon bei
der Planung seines Tuns oder erst im Vollzug, dass er zur Erreichung seiner
Intention die Unterstützung Anderer benötigt; und diese Unterstützung wird
ihm nicht selbstverständlich gewährt, sondern kann auch ausbleiben, weil ein
entsprechendes Handeln nicht ohne weiteres in den Intentionen der betreffen-
den Anderen liegt. Oder ein Akteur wird gewahr, dass die Realisierung seiner
Intentionen davon abhängt, dass Andere ihn nicht stören; und auch das ist
nicht selbstverständlich, weil sich solche Störungen - ohne als solche beab-
sichtigt zu sein - aus den Handlungsabsichten der anderen ergeben können.
Ein Handelnder kann derartige Intentionsinterferenzen, wie sie sich aus dem
Aktiv- oder dem Unterlassungshandeln Anderer ergeben können, natürlich
stets fatalistisch hinnehmen. Damit dürfte er sich aber wohl nur dann zufrie-
den geben, wenn ihm entweder seine Intention nicht besonders wichtig ist
oder wenn er die Situation so einschätzt, dass der Widerstand der anderen für
ihn unüberwindlich ist, und er zugleich auch keine Möglichkeit sieht, diesen
Widerstand durch eine Änderung seines Handelns umgehen zu können, um
so zumindest partiell seine Intentionen zu realisieren.
Transintentionalität
Wovon die verschiedenen Arten des Umgangs mit Intentionsinterferenzen
abhängen und auf welchen Voraussetzungen sie beruhen, wird in den folgen-
den Kapiteln noch eingehend besprochen. Zunächst ist wichtig, sich vor Augen
zu führen, was die in Handlungssituationen gegebenen Intentionsinterferenzen
grundsätzlich für die Akteure bedeuten: Wer eine Handlung in die Welt setzt
und mit ihr eine bestimmte Intention verfolgt, und sich dabei mit anderen Ak-
teuren in die Quere kommt, darf sich nicht darüber wundern, wenn am Ende
etwas ganz anderes aus seinem Handeln resultiert, als er sich vorgenommen
hatte. Erstaunlich ist vielmehr die erfolgreiche und auch noch nebenwirkungs-
freie Verwirklichung von Intentionen. Der Regelfall ist Transintentionalität.
Damit ist gemeint, dass das Handeln von Akteuren Effekte zeitigt, die jenseits
der Intentionen der Beteiligten liegen.
Die meisten Handlungswirkungen stellen sich mehr oder weniger „hinter
dem Rücken“ der beteiligten oder auch außenstehender Akteure ein. Dies
kann sogar schon beim monologischen, nicht-sozialen Handeln passieren.
Jemand richtet beispielsweise sein Zimmer ein und scheitert dabei mehr oder
weniger, etwa weil er eine Wand falsch ausmisst und daraufhin ein zu langes
Regal kauft, das er dann nicht wie geplant stellen kann. Oder: Jemand betätigt
eine bestimmte Tasten-Kombination an seinem PC, und es geschieht etwas
ganz anderes als erwartet. Ein weiteres Beispiel wäre ein monologisch Han-
delnder, der - spieltheoretisch ausgedrückt - ein „Spiel gegen die Natur“ ver-
liert, weil ein Gewitter schneller heraufzieht, als der Akteur es zu Beginn eines
Spaziergangs dachte, und der dann mit seiner Intention scheitert, den Spa-
ziergang trockenen Fußes zu Ende zu bringen. In all diesen Fällen geht die
Transintentionalität daraus hervor, dass ein Akteur die Kontextbedingungen
seines Handelns falsch einschätzt, wobei die Fehleinschätzung auf Irrtümern,
Informationsdefiziten oder Situationsveränderungen beruhen kann.
„Spielen gegen andere“
Soziologisch interessant wird Transintentionalität aber eigentlich erst dann,
wenn sie nicht aus „Spielen gegen die Natur“ hervorgeht, sondern eben in so-
zialen Handlungssituationen aus „Spielen gegen andere“. In diesen Fällen
kann ein Akteur - wie gewohnheitsmäßig oder wohl überlegt auch immer er
sich etwas vorgenommen hatte - seine Intentionen deswegen nicht realisieren,
weil es einen oder mehrere andere Akteure gibt, die ebenfalls ihre Intentionen
verfolgen. Wenn die Intentionen anderer mit denen des Akteurs nicht kompati-
bel sind, gehen die transintentionalen Effekte aus dem wechselseitigen Kon-
terkarieren und Blockieren der Handlungsabsichten beim handelnden Zusam-
menwirken hervor. Ein Parteivorsitzender will zum Beispiel der „Basis“ einen
Richtungswechsel schmackhaft machen und muss nach langen Debatten fest-
stellen, dass seine Linie nicht mehrheitsfähig ist.
gescheiterte Intentionalität
Damit ist eine der grundlegenden Arten von Transintentionalität benannt:
gescheiterte Intentionalität. Ein Akteur bezweckt Etwas und muss dann fest-
stellen, dass er dies aufgrund von Fehleinschätzungen der Kontextbedingun-
gen oder aufgrund der Interferenzen mit dem Handeln anderer nicht erreicht,
oder nur unter Inkaufnahme gravierender, seine Zielverfolgung überschatten-
der negativer Nebenwirkungen, und auf jeden Fall nur für begrenzte Zeit.
beiläufige Transintentionalität
Die zweite grundlegende Art von Transintentionalität ist beiläufige Transin-
tentionalität. Diese resultiert daraus, dass Akteure mit dem Verfolgen ihrer
Intentionen immer auch eine beträchtliche Menge anderer Wirkungen in der
Welt erzeugen. In der Regel ergibt sich nebenher aus dem handelnden Zu-
sammenwirken noch Einiges mehr, was die Akteure manchmal überhaupt
nicht oder erst nach geraumer Zeit registrieren, oder was sie zwar bemerken,
aber nicht weiter wichtig nehmen.
Bei der beiläufigen Transintentionalität kann man wiederum zwei Varianten unterscheiden
Zum einen gibt es Nebenwirkungen des Handelns. Damit sind
die Wirkungen gemeint, die sich schon im Vollzug der Verfolgung der eigentli-
chen Intentionen ergeben. Die Intentionen der Akteure sind auf etwas ande-
res, für sie jeweils näher liegendes gerichtet, und gleichzeitig mit diesem Han-
deln erzeugen sie noch ganz andere Effekte.
„invisible hand effects“
Das berühmteste Beispiel für Nebenwirkungen sind die sogenannten „invi-
sible hand effects“ (Ullmann-Margalit (1978), die sich aus dem handelnden
Zusammenwirken einer Vielzahl von Konsumenten und Produzenten auf ei-
nem Wettbewerbsmarkt ergeben. Ohne es zu wollen oder auch nur zu bemer-
ken, bestimmen beide Gruppen von Akteuren durch ihre aggregierte Nachfra-
ge bzw. ihr aggregiertes Angebot und die Relation zwischen beidem den Preis
der Waren.
der Wandel von Sprache
Und auch der Wandel von Sprache vollzieht sich größtenteils so
(Keller 1994: 87-146). Das Aufkommen und Verschwinden bestimmter Mode-
worte wie zum Beispiel „cool“ ist nichts, was irgendjemand maßgeblich steuert.
Solcher Sprachwandel, wie er vor allem an der Jugendsprache plastisch be-
obachtbar ist, geschieht vielmehr über den alltäglichen, unreflektierten
Sprachgebrauch tausender Gesellschaftsmitglieder. Keiner der Beteiligten hat
das Interesse, bestimmte Worte zu propagieren, und trotzdem passiert es.
Fernwirkungen
Die andere Variante beiläufiger Transintentionalität sind Fernwirkungen des
Handelns. Damit ist gemeint, dass aus dem handelnden Zusammenwirken
zeitlich versetzt Wirkungen eintreten, die auf das betreffende Handeln der Be-
teiligten zurückzuführen sind. Auch hier lassen sich zahlreiche Beispiele aus
dem Bereich der Umweltprobleme heranziehen: Man denke etwa an die Aus-
beutung von Rohstoffen, die Überfischung der Meere oder Phänomene im
Zusammenhang mit dem Klimawandel.
Dimensionen der Transintentionalität
In den Beispielen ist bereits angeklungen, dass man beide Arten von Transin-
tentionalität - gescheiterte Intentionalität und beiläufige Transintentionalität -
aus der Perspektive der Akteure auch danach charakterisieren kann, ob es
sich in kognitiver Hinsicht um vorhergesehene oder unvorhergesehene Effekte
handelt, und ob es sich in evaluativer bzw. normativer Hinsicht um erwünschte
oder um unerwünschte Effekte handelt.
Drei analytische Typen von Transintentionalität lassen sich folglich unterscheiden:
• Erstens gibt es unvorhergesehene und unerwünschte Effekte, d.h. es
kommt beim handelnden Zusammenwirken etwas heraus, das niemand so
im Blick hatte und das auch niemand will.
• Zweitens gibt es als Resultat des handelnden Zusammenwirkens vorherge-
sehene aber unerwünschte Effekte, d.h. es zeigen sich Wirkungen, die man
erwartet hatte oder von deren möglichem Eintreten man wusste, und die
man in Kauf genommen hat, die man aber ebenfalls nicht haben will.
• Drittens gibt es unvorhergesehene aber erwünschte Effekte, d.h. aus dem
handelnden Zusammenwirken ergibt sich etwas, das man nicht im Blick hat-
te, das man dann aber begrüßt bzw. wovon man positiv überrascht wird.
• Nur bei der vierten Kombination dieser beiden Dimensionen, wenn die Ef-
fekte des handelnden Zusammenwirkens sowohl erwünscht als auch vor-
hergesehen sind, liegt keine Transintentionalität vor. In dem Fall sind die
beteiligten Akteure mit ihren Handlungsabsichten durchgekommen und die
Effekte des handelnden Zusammenwirkens sind intentional.
Bezieht man diese Dimensionen auf die beiden Formen von Transintentionalität, lässt sich feststellen:
Gescheiterte Intentionalität kann in kognitiver Hin-
sicht sowohl vorhergesehen als auch unvorhergesehen sein; in evaluativer
Hinsicht ist sie immer unerwünscht. Niemand wird sich vornehmen, zu schei-
tern. Bei der als Neben- oder Fernwirkung auftretenden beiläufigen Transin-
tentionalität finden sich sowohl in kognitiver wie in evaluativer Hinsicht beide
Ausprägungen: Das oben angeführte wechselseitige Verschaffen von öffentli-
cher Sicherheit durch schlichte Anwesenheit in der Innenstadt ist ein Beispiel
für eine unvorhergesehene, aber durchaus erwünschte Nebenwirkung. Eine
vorhergesehene und unerwünschte Nebenwirkung kann am Beispiel der gifti-
gen Abfälle bei der Produktion eines Chemiewerks verdeutlicht werden. Eine
beiläufige Transintentionalität in Form unvorhergesehener und unerwünschter
Fernwirkungen wären etwa die Folgen des Klimawandels.
intendierte Strukturgestaltung
Soweit zur Charakterisierung und Systematisierung verschiedener Erschei-
nungsformen von Transintentionalität. Das Ausmaß der Transintentionalität,
das den Ergebnissen des handelnden Zusammenwirkens anhaftet, bestimmt
aus der Perspektive der Akteure darüber, ob oder inwieweit sie ihr jeweiliges
Handeln als erfolgreich erleben oder nicht. Und dafür ist aus der Sicht der Ak-
teure auch entscheidend, ob sie mit ihrem Handeln lediglich bestimmte Ihnen
nahe liegende Intentionen verfolgen und dann darüber hinaus mit trans-
intentionalen Struktureffekten konfrontiert werden - so wie dies bei den oben
aufgeführten Beispielen zu Neben- und Fernwirkungen der Fall war - oder ob
sie im Hinblick auf das, was beim handelnden Zusammenwirken für alle Betei-
ligten herauskommen soll, von vornherein eine bestimmte Absicht verfolgen:
ob sie also bewusste und gewollte Strukturgestaltung betreiben oder nicht.
Transintentionalität als zentrale Einsicht der Soziologie
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Effekte handelnden
Zusammenwirkens von den Akteuren zwar stets intentional vorangetrieben
werden, dass sie ihnen aber in der Regel - früher oder später, längerfristig auf
jeden Fall, und mal mehr, mal weniger - ins Transintentionale entgleiten, und
dies auch bei bewusster und zunächst erfolgreicher Strukturgestaltung. Dass
handelndes Zusammenwirken überwiegend transintentionale Effekte zeitigt,
gilt nicht nur hinsichtlich der unmittelbaren Ergebnisse des Handelns, so wie
sie sich aus der Perspektive der einzelnen Akteure dann darstellen, sondern
eben auch für die sozialen Strukturen, die dabei herauskommen.
Die „entgleitende Geschichte“
Die involvierten Akteure machen jene Erfahrung, die Jean Paul Sartre (1960: 72) so formu-
liert: „Wenn mir aber die Geschichte entgleitet, dann nicht deshalb, weil ich sie
nicht mache, sondern, weil auch der andere sie macht.“ Die „entgleitende
Geschichte“: Das sind die sozialen Strukturen um mich herum, die sehr oft
ganz anders ausfallen, als ich sie gerne hätte und einzurichten versucht habe.
Sie sind von vornherein transintentional - oftmals schon allein aufgrund der
langen Zeithorizonte, in denen sich aus dem handelnden Zusammenwirken
spürbare Effekte auf soziale Strukturen ergeben.
Warum nimmt ein soziologischer Beobachter angesichts dessen die Intenti-
onen des Handelns überhaupt noch zur Kenntnis?
Auch wenn - wie in den
ersten Kapiteln dargelegt wurde - davon auszugehen ist, dass die einzelnen
Handlungen der Akteure die Grundelemente jeglichen sozialen Geschehens
sind, gewinnen sie ihren sozialen Stellenwert und damit auch ihre soziologi-
sche Erklärungskraft erst in der Relationierung mit anderen Elementen dieser
Art. Dass man trotzdem wissen muss, wie jemand - erst einmal für sich be-
trachtet- handelt, begründet sich daraus, dass die Intention einen Handlungs-
impuls markiert, der sich dann mit den Impulsen der anderen involvierten Ak-
teure gleichsam wie bei der Vektoraddition verbindet. Selbst wenn der Sum-
menvektor, also das Ergebnis handelnden Zusammenwirkens, weit von jedem
in ihn eingehenden Einzelvektor abweicht, ergibt er sich doch in seiner Rich-
tung und Stärke nur aus ihnen. Welche Intentionen die in einen Handlungszu-
sammenhang verstrickten Akteure verfolgen, macht einen Unterschied - wenn
auch oft nicht den Unterschied, den jeder der Akteure jeweils gerne gehabt
hätte. Die Einsicht in die Transintentionalität impliziert also zugleich eine
weitreichende Relativierung der Intentionalität des Akteurs. Die Intention ist
mitsamt den von ihr dirigierten je aktuellen Handlungsmöglichkeiten des Ak-
teurs im jeweiligen Geschehen stets nur ein - manchmal sehr wenig ins Ge-
wicht fallender - Kausalfaktor unter vielen anderen.
„Logik des Misslingens“
Politische Gesellschaftssteuerung ist sicherlich die ambitionierteste inten-
dierte Strukturgestaltung, die gesellschaftlich vorkommt, und unterliegt des-
halb am stärksten der „Logik des Misslingens“ (Dörner 1989), also dem Eintre-
ten unerwünschter Neben- und Fernwirkungen und dem Nichterreichen der
angestrebten Ziele. Man muss dabei gar nicht an die Gestaltungshybris sozia-
listischer Planwirtschaften denken, die nichts als grandiose Scherbenhaufen
hinterlassen haben. Auch viel bescheidenere politische Gestaltungsvorhaben -
etwa eine Hochschulreform oder die lange Zeit notorische Rechtschreibreform
- erweisen sich immer wieder als äußerst schwierig; und neben dem Problem,
die angestrebten Gestaltungsziele nicht zu erreichen, werden die politischen
Akteure auch immer wieder mit dem Risiko konfrontiert, ungeahnte Nebenwir-
kungen zu erzeugen, die im negativen Sinne gravierender sind als die viel-
leicht erzielten positiven Effekte. Nicht selten sind Leute mit den besten Ab-
sichten diejenigen, die das Schlimmste anrichten.
„vier große Kränkungen der Menschheit“
Kupernikus, Darvin, Freud und:
Die von Freud vorgetragene Beobachtung der Geschichte fortschreibend
ließe sich nun sagen, dass die vierte Kränkung des modernen Menschen im
Hinweis auf die Transintentionalität des Sozialen beruht: Selbst wenn der
Mensch bisweilen rational handeln kann und dies auch tut, sich also Ziele setzt
und Pläne verfolgt, werden diese Intentionen mindestens genauso oft schei-
tern wie erfolgreich realisiert werden, und zwar allein deshalb, weil es andere
Menschen gibt, die das Gleiche tun. Nicht erst, aber ganz besonders in der
Gegenwart scheint es als eine tiefe Kränkung empfunden zu werden, dass das
handelnde Zusammenwirken so wenig unter Kontrolle ist. Diese Kränkung ist
deshalb eine so bedrängende, weil die moderne Gesellschaft im Grunde eine
gestaltungsoptimistische ist. Die moderne Fortschrittsidee geht u.a. darauf
zurück, dass die sozialen Bedingungen, unter denen die Menschen leben,
nicht länger als gottgewollt, sondern zum großen Teil als „Menschenwerk“ be-
griffen wurden.
Odo Marquard (1977: 72): „Ende Gottes: menschlicher Machzwang“
Dieser „Machzwang“ bereitet den strukturgestaltenden Akteuren in der modernen
Gesellschaft tagtäglich die Kränkung der Transintentionalität, und der Gestal-
tungsoptimismus muss immer wieder herbe Fehlschläge hinnehmen.
„unintended consequences of intentional social action“
Vor diesem Hintergrund gewinnt Robert Mertons (1936) frühe programmati-
sche Betonung der „unintended consequences of intentional social action“ ihre
Berechtigung. 125 Karl Popper (1948: 342, Hervorh. weggel.) geht so weit, hier
die zentrale Aufgabe der Sozialwissenschaften zu sehen: „It is to trace the
unintended social repercussions of intentional human actions.“ Nur eine sozio-
logische Analyse des handelnden Zusammenwirkens und der sich dabei voll-
ziehenden und zu transintentionalen Struktureffekten führenden Dynamiken
kann davor bewahren, einem völligen Gestaltungsdefätismus zu verfallen. Sie
deckt auf, wo genau und warum das handelnde Zusammenwirken den Akteu-
ren entgleitet, und sie ermöglicht so eine differenzierte Einschätzung, welche
Gestaltungsspielräume die Akteure haben. Die Soziologie kann je nach Situa-
tion bescheidenere oder anspruchsvollere Steuerungsziele und -strategien
nahe legen. Denn so wichtig es einerseits ist, dass sich die Soziologie über die
unaufhebbare Transintentionalität alles handelnden Zusammenwirkens im Kla-
ren ist: Weil die Menschen - und dies erst recht in der modernen Gesellschaft!
- gar nicht anders können, als immer wieder zu versuchen, die Verhältnisse
unter denen sie leben, mit zu gestalten, ist eine „soziologische Aufklärung“
gefragt, die zumindest eine „Intentionalität in Grenzen“ unterstützt.
Akteurkonstellationen
Für eine genauere Analyse des handelnden Zusammenwirkens muss der Blick
zunächst auf die Akteurkonstellationen gerichtet werden, in denen sich die
Handelnden miteinander befinden. Sobald die Intentionen von mindestens
zwei Akteuren interferieren, und diese Interferenz von den Beteiligten wahrge-
nommen wird, ist eine Akteurkonstellation gegeben. Akteurkonstellationen
bestehen somit aus nichts anderem als dem Gewahrwerden und Abarbeiten
von tatsächlichen oder vorweggenommenen Intentionsinterferenzen.
Solche Konstellationen handelnden Zusammenwirkens definieren und sor-
tieren sich dabei danach, auf welchem Modus der Handlungsabstimmung
das handelnde Zusammenwirken beruht: auf der wechselseitigen Beobach-
tung der Akteure, auf der wechselseitigen Beeinflussung der Akteure oder auf
wechselseitigen Verhandlungen.
Dementsprechend lassen sich drei Arten von Akteurkonstellationen unterschieden
Beobachtungs-, Beeinflussungs- und Verhandlungskonstellationen
Beobachtungs-, Beeinflussungs- und Verhandlungskonstellationen
Am elementarsten sind Konstellationen wechselseitiger Beobachtung, in
denen die Handlungsabstimmung allein durch einseitige oder wechselseitige
Anpassung an das wahrgenommene Handeln der anderen - einschließlich
ihres antizipierten Handelns - erfolgt. In Konstellationen wechselseitiger Beein-
flussung findet Handlungsabstimmung - auf Grundlage wechselseitiger Be-
obachtung - durch den gezielten Einsatz von Einflusspotentialen wie Macht,
Geld, Wissen, Emotionen oder moralische Autorität statt. In Konstellationen
wechselseitiger Verhandlungen gehen - auf Basis von Beobachtung und Be-
einflussung - aus Verhandlungen bindende Vereinbarungen, zum Beispiel in
Form von Verträgen, als Handlungsabstimmung hervor.
Abarbeitung von Intentionsinterferenzen
Die Abarbeitung von Intentionsinterferenzen in Akteurkonstellationen kann
damit enden, dass die Konstellation sich auflöst, die Akteure einander also
fortan aus dem Weg gehen. Vielleicht zieht derjenige, der immer wieder durch
laute Musik seines Nachbarn gestört wird, schließlich deswegen entnervt weg.
Beispiele
für ein wenig konfliktbehaftetes Abarbeiten von Intentionsinterferenzen und
das entsprechend rasche Auflösen der Akteurkonstellation sind Fälle, in denen
eine einfache Einigung über die Handlungskoordination möglich ist. Wenn
zwei Personen sich zugleich an einen Tisch begeben, an dem zwei Stühle
stehen, kann es passieren, dass beide sich auf denselben Stuhl setzen wollen.
hin und her
Bleibt die Konstellation hingegen dauerhaft bestehen, kann es zwischen
den Akteuren ständig hin und her gehen, ohne dass sich stabile Muster des
Umgangs mit den Intentionsinterferenzen einspielen. Der durch die Musik des
anderen Gestörte beschwert sich das eine Mal bei diesem, dann bei der Haus-
verwaltung oder ruft sogar mal die Polizei; ein anderes Mal geht er spazieren
oder setzt sich auch Kopfhörer auf und hört selbst Musik. Und der Musikhörer
lässt sich das eine Mal von den Beschwerden beeindrucken und zeigt Einsicht;
das andere Mal geht er nicht an die Tür und ans Telefon, weil er weiß, dass
der Nachbar sich beschweren will; und manchmal nimmt der Musikhörer auch
von vornherein Rücksicht und dreht seine Stereoanlage nicht so laut auf. Ein
solches Hin und Her ist durchaus nicht selten.
soziale Strukturen
In allen drei Konstellationsformen kann das Abarbeiten von Intentionsinter-
ferenzen also punktuell geschehen, d.h. in Episoden, die einmalig sind oder
als einmalig angesehen werden. In vielen Fällen aber bringen die Bemühun-
gen der Akteure, ihre Intentionsinterferenzen zu bewältigen, intentional oder
transintentional soziale Strukturen als relativ dauerhafte Bewältigungsmuster
der Interferenzen hervor. Die Handlungsabstimmung wird dabei in sich wie-
derholenden Episoden verstetigt.
Verstetigung
Eine Verstetigung bedeutet zunächst eine
Steigerung wechselseitiger kognitiver Erwartungssicherheit und findet ihren
Niederschlag in geteilten normativen, kognitiven oder evaluativen Orientierun-
gen in Gestalt von Institutionen oder kulturellen Deutungsmustern. Hat sich
erst eine institutionelle Regel wie zum Beispiel das Händeschütteln als Begrü-
ßungsritual oder „Halbe-Halbe“ als Verteilungsgrundsatz in einer Akteurkon-
stellation eingeschliffen, wird sie durch stete Wiederholung - auch und gerade
dann, wenn man versucht ist, etwas anderes zu tun - aufrechterhalten. Eine
Verstetigung der Handlungsabstimmung kann auch auf anderen sozialen
Strukturen beruhen: Vielleicht erreicht der in seiner Ruhe Gestörte letzten En-
des unter Verweis auf gesetzliche Regelungen vor Gericht, dass seinem
Nachbarn feste Zeiten auferlegt werden, in denen er gar keine Musik hören
darf; und Zuwiderhandlungen werden geahndet. Dann wäre eine normative
Ordnung gefunden, die die Intentionsinterferenz fortan klar regelt.
die Etablierung eines relativ dauerhaften Bewältigungsmusters
Weiterhin vollzieht sich die Etablierung eines relativ dauerhaften Bewälti-
gungsmusters von Intentionsinterferenzen keineswegs immer, sondern eher
selten so, dass dieses Muster bewusst konzipiert und realisiert wird. Beim
Richterspruch ist das der Fall, wobei dann ein Außenstehender der Konstella-
tion ihre soziale Struktur gibt. Hätten sich die beiden Nachbarn untereinander
auf eine ähnliche Regelung geeinigt und sich fortan daran gehalten, läge eine
aus der Konstellation selbst zielgerichtet geschaffene soziale Struktur vor.
Arten sozialer Strukturen
Bevor darauf eingegangen wird, wie über bestimmte Dynamiken bei der Abar-
beitung von Intentionsinterferenzen soziale Strukturen aufgebaut, erhalten
oder verändert werden, soll zunächst noch geklärt werden, welcher Art diese
Strukturen sein können. Drei Arten von sozialen Strukturen lassen sich dabei
unterscheiden: Erwartungs-, Deutungs- und Konstellationsstrukturen.
Erwartungsstrukturen
Erstens gibt es die schon mehrfach angesprochenen institutionalisierten
normativen Erwartungen. Solche Erwartungsstrukturen können sowohl forma-
lisiert als auch informeller Natur sein. Zu den formalisierten gehören Rechts-
vorschriften ebenso wie die formalen Regeln innerhalb von Organisationen.
Normative Erwartungsstrukturen sind aber auch alle Arten von informellen
sozialen Regeln, wie sie innerhalb größerer oder kleinerer Gruppen Geltung
besitzen. Die Sitten und Umgangsformen in einem Land, der Moralkodex eines
bestimmten sozialen Milieus und auch die manchmal ganz idiosynkratischen
wechselseitigen normativen Erwartungen in einer Ehe sind Beispiele dafür.
Viele normative Erwartungen werden in Form von Rollen gebündelt, wie im
Kapitel 3 dargestellt worden ist.