FUH SS15
Kartei Details
Karten | 66 |
---|---|
Sprache | Deutsch |
Kategorie | Psychologie |
Stufe | Universität |
Erstellt / Aktualisiert | 29.07.2015 / 13.06.2020 |
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Die Umdefinitionen von sozialen Nichtbestätigungen
Die Umdefinitionen von sozialen Nichtbestätigungen erfordern aller-
dings kein identitätsbehauptendes Handeln, zeichnen sich gegenüber den
anderen Praktiken der Identitätsbehauptung also gerade dadurch aus, dass
das Handeln weiterhin anderen Antrieben folgt.
Identitätsbehauptung durch Umgebungswechsel
Identitätsbehauptung durch
Umgebungswechsel ist hingegen ein Handlungsantrieb, der manchmal an-
sonsten unerklärliche, weil zum Beispiel rationaler Nutzenverfolgung zuwider-
laufende Handlungsweisen einer Person begreiflich macht. Kann man die
nicht-bestätigende soziale Umgebung nicht oder nur unter hohen Kosten ver-
lassen, bietet sich oft die Möglichkeit, deren Einfluss auf die eigenen Identität
zumindest dadurch zu relativieren, dass man sich gezielt zusätzlich in andere
Umgebungen begibt, wo man die betreffenden Identitätsbestandteile bestätigt
bekommt. Der Akteur setzt gewissermaßen Kontrapunkte. So mag sich zum
Beispiel ein Professor, der unter seinen Kollegen kein hohes wissenschaftli-
ches Ansehen genießt, durch besondere Anstrengungen in der Lehre darum
bemühen, von Seiten seiner Studenten eine entsprechende Anerkennung zu
erhalten.
Je mehr ihm das im Übrigen gelingt, desto mehr kann er sich mögli-
cherweise auch eine Umdefinition der Haltung seiner Kollegen als Neid sub-
jektiv plausibel machen. Hier zeigt sich, dass die verschiedenen Arten von
Praktiken der Identitätsbehauptung einander wechselseitig stützen können.
Identitätsbedrohung aus manifesten Existenzgefährdungen
Behauptung
Rührt die Identitätsbedrohung aus manifesten Existenzgefährdungen des
Akteurs her, werden ebenfalls oftmals Praktiken verstärkter Anstrengung ein-
gesetzt, um mit der eigenen Existenz auch die eigene Identität zu behaupten -
siehe den Kranken, der sich plötzlich gesundheitsbewusst zu ernähren ver-
sucht. Natürlich ist Existenzsicherung immer auch eine Leitlinie rationaler Inte-
ressenverfolgung. Aber zugleich wird damit die Identität des betreffenden Ak-
teurs gegenüber ihrer radikalsten Bedrohung behauptet.
substantielle Identitätsbedrohungen als „Emotional man“
Wenn spezifische substantielle Identitätsbedrohungen daraus erwachsen,
dass der Akteur als „Emotional man“ von momentanen oder dauerhaften Ge-
fühlen übermannt wird, die bestimmten evaluativen oder normativen Selbstan-
sprüchen zuwider laufen, sind Maßnahmen zur Affektkontrolle geeignete Prak-
tiken der Identitätsbehauptung. Dies ist auch als eine weitere Form des „con-
strained emotional man“ zu fassen. Zum Beispiel muss jemand, der sich als
Polizist mit seinem Beruf identifiziert und darin einen wichtigen Bestandteil
seiner Identität sieht, es als Identitätsbedrohung empfinden, wenn er sich in
beruflichen Gefahrensituationen immer wieder als „Angsthase“ erweist - selbst
wenn dies niemand anders als er selbst bemerkt.
Behauptung gegen spezifische substantielle Identitätsbedrohungen oder Entindividualisierungserfahrungen die auf Rollenzwänge zurückgehen
Wenn spezifische substantielle Identitätsbedrohungen oder Entindividuali-
sierungserfahrungen auf Rollenzwänge zurückgehen, gibt es ein reiches Ar-
senal an Praktiken der Identitätsbehauptung durch Rolleninszenierung, Rol-
lendistanz und Rollendevianz. Diese Arten von Praktiken sind insbesondere
in der interaktionistischen Auseinandersetzung mit der strukturfunktionalisti-
schen Rollentheorie immer wieder angesprochen worden, so dass hierzu viel
empirisches Material vorliegt.
Rolleninszenierung
Die Rolleninszenierung ist die Selbstdarstellung einer Person in der Rolle.
Dabei werden Freiräume genutzt, die viele Rollen für solche Selbstdarstellun-
gen des Rollenträgers lassen, die mit den Rollenerwartungen kompatibel sind,
aber von ihnen differieren. Wenn sich zum Beispiel ein Verwaltungsbeamter
im Kontakt mit Klientinnen als Frauenheld aufzuspielen versucht, bringt er ei-
nen evaluativen Selbstanspruch - der ihm vielleicht von seiner Ehefrau nicht
bestätigt wird - ins Spiel, den die Rolle nicht vorsieht, aber innerhalb gewisser Grenzen auch nicht explizit verbietet.
In vielen Arbeitsrollen, in denen die be-
treffenden Personen durch wenig anspruchsvolle und monotone Tätigkeiten
die Erfahrung machen, nur ein völlig austauschbares „Rädchen im Getriebe“
zu sein, bestehen dennoch Möglichkeiten, eine individualistische Identität da-
durch zu behaupten, dass man eine „persönliche Note“ hineinbringt - wie etwa
eine besonders freundliche Kellnerin, der man anmerkt, dass dies nicht ge-
schäftsmäßig aufgesetzt ist, sondern „von Herzen“ kommt.
Rollendistanz als Selbstdarstellung neben der Rolle
Andere Praktiken der Identitätsbehauptung laufen auf Rollendistanz als
Selbstdarstellung neben der Rolle hinaus. Rollendistanz ist eine relativieren-
de Kommentierung der eigenen Rollendarstellung, was mehr oder weniger
eindeutig und offen, aber auch verdeckt und implizit geschehen kann. Die Ab-
sicht ist jedenfalls stets, seiner Umgebung zu signalisieren, dass man „persön-
lich“ nicht in vollem Maße oder überhaupt nicht hinter der eigenen Rollendar-
stellung steht. Ironie ist eine der Ausdrucksformen von Rollendistanz; eine
andere besteht darin, dass ein Rolleninhaber übermäßig und demonstrativ
Nebenbeschäftigungen nachgeht, wodurch er ausdrückt, dass für ihn die ei-
gentliche Rollendarstellung nur noch eine lästige Pflichtübung ist. In Arbeitsrol-
len muss man beispielsweise aufgrund der eigenen Machtunterworfenheit viele
Dinge tun, die mit dem eigenen Selbstbild nicht übereinstimmen und zudem
auch als Fremdbestimmtheit erlebt werden. Oft drückt man dann Rollendistanz
mit der expliziten Differenzierung „persönlich/dienstlich“ aus.
Rollendevianz
Wenn weder die Rolleninszenierung noch die Rollendistanz dem Akteur
genügend Möglichkeiten zur Identitätsbehauptung bietet, muss er noch einen
Schritt weiter zur Rollendevianz als Selbstdarstellung gegen die Rolle überge-
hen. 99 Der Akteur fällt aus der Rolle - ohne dass er sich jedoch einem weiteren
Verbleib in der entsprechenden Position zwangsläufig verweigern muss. So-
lange die Rollendevianz nur gelegentlich, nur hinsichtlich mancher und viel-
leicht weniger wichtiger Rollenerwartungen und nur gegenüber manchen, vor-
zugsweise wenig sanktionsfähigen Bezugsgruppen ausgeübt wird, kann die
Identitätsbehauptung durchaus mit einem weiteren Festhalten an der Rolle
einhergehen. Identität und Rolle stehen einander dann zwar sozusagen feind-
lich gegenüber; aber die partielle Devianz wird als Preis der ansonsten geleis-
teten Rollenkonformität hingenommen.
Ausstieg aus der Rolle
Manchmal hilft es dem Akteur aber erst, wenn er die identitätsbedrohende
Rolle ganz hinter sich lässt, also demonstrativ „aussteigt“, wie es zum Beispiel
immer wieder Wissenschaftler getan haben, die ihre Forschungsarbeiten nicht
mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten. Der Ausstieg aus der Rolle ist - au-
ßer bei zwangsweise auferlegten Rollen - stets als letzte Möglichkeit vorhan-
den, mit Identitätsbedrohungen fertig zu werden, die aus den Rollenpflichten
herrühren. Wiederum gilt: In dem Maße, in dem ein Akteur als Rolleninhaber
unersetzbar ist, kann er mit dem Ausstieg drohen und dadurch bestimmte
Identitätsbedrohungen von vornherein abwehren. So vermag ein gesuchter
wissenschaftlicher Experte für bestimmte Forschungsthemen vielleicht durch-
zusetzen, dass seine Ergebnisse nicht militärisch genutzt werden.
überindividuelle Akteure als Identitätsbehaupter
Die bisher für Personen als individuelle Akteure beschriebene Sachverhalte
lassen sich größtenteils auch auf überindividuelle Akteure übertragen. Auch
Organisationen wie Unternehmen, Verbände und Parteien, oder soziale Be-
wegungen können nicht identitätslos existieren.
Für formale Organisationen spricht man von deren „corporate identity“ oder auch „Organisationskultur“
Identitätskrise bei überindividuellen Akteuren
Kein Interessenverband beschränkt sich darauf, lapidar
die von ihm aktuell verfolgten spezifischen Interessen aufzulisten. Dies wird
vielmehr in einen überwölbenden Begründungszusammenhang gefügt, der
den Kern der Identität dieses überindividuellen Akteurs ausmacht. Und wenn
ein solcher substantieller Begründungszusammenhang ausdünnt, der Interes-
senverband nicht länger zu sagen vermag, wofür und wogegen er eigentlich
steht, gerät er in eine ebensolche Identitätskrise, wie sie auch Personen
durchmachen können. Ein Beispiel, an dem das in den letzten Jahrzehnten
vielfach diskutiert worden ist, ist der Wandel der alten „Weltanschauungs-“ zu
den heutigen „Allerweltsparteien“.
formal organisierte soziale Bewegungen oder ethnische Gruppierungen
Gleiches ließe sich auch für nicht formal organisierte soziale Bewegungen
oder ethnische Gruppierungen aufzeigen. Sie benötigen, damit die involvierten
individuellen Akteure ein abgestimmtes gemeinsames Handeln realisieren
können, eine kollektive Identität. Deren Stellenwert ist sogar noch höher als
der der „corporate identity“ für formale Organisationen, da letztere zur Hand-
lungsabstimmung ihrer Mitglieder primär ihre institutionalisierten normativen
Erwartungsstrukturen einsetzen.
die kollektiven Identitäten ethnischer oder regional umschriebener Gruppen
Noch diffuser fallen oftmals die kollektiven Identitäten ethnischer oder regi-
onal umschriebener Gruppen aus. Was zum Beispiel die Identität der Schotten
gegenüber den Engländern ausmacht, läuft auf eine heterogene und wenig
kohärente Liste von Merkmalen des Lebensstils hinaus und ist wohl letztlich
nicht mehr als ein kultureller „Überbau“, hinter dem handfeste Interessenge-
gensätze stehen. Unter dem Vorwand der Identitätsbehauptung agiert also in
solchen Auseinandersetzungen oftmals niemand anders als der Homo Oeco-
nomicus - was es natürlich auch bei individuellen Akteuren geben kann.
Identitätsbedrohung für überindividuelle Akteure
Die maßgebliche Art der Identitätsbedrohung, die auch für überindividuelle
Akteure in Betracht kommt und bei ihnen verstärkt identitätsbehauptendes
Handeln auslöst, ist die indirekte Identitätsbedrohung durch Existenzgefähr-
dung. Was für Personen der Tod ist, gibt es in analoger Form auch bei überin-
dividuellen Akteuren: als Zerfall, Zerschlagung, Auflösung, Konkurs und Ähnli-
ches. Die Identitätsbedrohung beruht dabei zum einen auf ungünstigen Kon-
stellationen, wie im Falle von Unternehmen vor allem auf einer zu harten Kon-
kurrenz am Markt und entsprechend bis aufs Messer ausgetragenen Konflik-
ten zwischen den Konkurrenten. Gleiches gilt für die politische Partei, die
durch eine dramatische öffentliche Kampagne um ihren Verbleib im Parlament
bei anstehenden Wahlen kämpft, woran ihr Fortbestehen insgesamt hängt.
Zum anderen altern und durchlaufen auch überindividuelle Akteure vom Zeit-
punkt ihrer Entstehung an durchaus ähnliche Entwicklungsphasen wie Perso-
nen. des Und-so-weiter der Existenz des betreffenden Akteurs.Auf solche Nie-
dergangstendenzen müssen soziale Bewegungen und formale Organisationen
ebenso reagieren wie Personen auf lebensbedrohliche Ereignisse, weil eben
die Wahrung der jeweiligen eigenen Identität an die Fortexistenz als Akteur
gebunden ist.
Der „Emotional man“
Der „Emotional man“ ist ein Akteurmodell, das soziales
Handeln als auf emotionalen Antrieben beruhende Handlungswahlen erfasst.
Dieser Akteur verarbeitet seine Handlungssituationen in der Weise, dass sein
Handeln von solchen strukturellen Determinanten der Situation bestimmt wird,
die Emotionen auslösen; und sein Bestreben besteht insofern im Ausleben
dieser Emotionen, wodurch die Strukturen in der sozialen Situation ertragen
und damit erhalten oder auch verändert werden sollen. So erwächst zum Bei-
spiel Neid aus sozialen Verteilungsstrukturen, die von Schlechtergestellten als
ungerechtfertigt erlebt werden; und durch diesen Neid angetriebenes Handeln
von Akteuren kann sich dann in vielerlei Weisen auf die Veränderung dieser
Verteilungsstrukturen richten.
Emotionen zwischen Handeln und Verhalten
In einem urplötzlichen Wutausbruch oder sponta-
ner sexueller Lust brechen sich körperliche Reaktionen vor aller sinnhaften
Deutung ihre Bahn und überwältigen die Person oftmals im wahrsten Sinne
des Wortes. Aber selbst diese emotionalen Reaktionsmuster sind sozial ge-
prägt, also in intersubjektiv geteilte Sinnmuster eingebettet.
Modi der Weltaneignung: Instinkte, Kognitionen, Emotionen
Instinkte, Kognitionen und Emotionen sind die drei grundlegenden menschlichen
„Modi der Weltaneignung“ (Gerhards 1988: 72). Alle drei dienen dem Men-
schen dazu, in der Welt, in die er durch seine Geburt hineingeworfen wird,
zurechtzukommen.
Instinkte konstituieren eine gleichsam automatische, biologisch festgelegte
und entsprechend eindeutig vorgeprägte Reaktion auf einen bestimmten
Schlüsselreiz. Es werden Punkt-für-Punkt-Entsprechungen zwischen Umwelt-
beschaffenheit und Verhalten eines Lebewesens hergestellt: Wenn ein Angrei-
fer erscheint, sträuben sich dem Hund die Nackenhaare. Diese Alternativlosig-
keit instinktgeleiteter Reaktionen wird aufgebrochen, sobald Kognitionen oder
Emotionen ins Spiel kommen.
Unterschied Emotion und Kognition
Was diese beiden „Modi der Weltaneignung“
von Instinkten unterscheidet, ist die Unterbrechung der starren Reiz-
Reaktions-Sequenzen. Denn sowohl bei Kognitionen als auch bei Emotionen
findet eine auf Wahrnehmung gegründete Informationsverarbeitung statt. Al-
lerdings unterscheidet sich die Art der Informationsverarbeitung bei beiden
wiederum grundlegend. Kognitionen beruhen auf sequentieller Informations-
verarbeitung. Sie nehmen Schritt für Schritt die verschiedenen Elemente auf,
aus denen sich die Handlungssituation zusammensetzt, sortieren und ver-
knüpfen die Elemente unter anderem mit Hilfe kausaler Schemata, und leiten
dann daraus durch logische Schlüsse ein situationsangemessenes Handeln
ab. Diese Vorgänge sind für rationale Nutzenverfolgung ganz offensichtlich,
finden aber auch bei Normkonformität statt. Normkonformes Handeln setzt ja
voraus, dass Bezugsgruppen identifiziert und deren spezifische Erwartungen
ausfindig gemacht, nicht selten auch konfligierende Erwartungen gegeneinan-
der abgewogen werden müssen, bis der Handelnde weiß, was er zu tun hat.
Emotionen beruhen demgegenüber auf simultaner Informationsverarbei-
tung. In dem Maße, wie ein Handelnder gefühlsbestimmt agiert, schnurren die
Abfolgen von Wahrnehmungs- und Denkschritten gleichsam in einem einzigen
Bild zusammen, ohne dass aber der Kurzschluss rein instinktiven Verhaltens
auftritt. Emotionen versorgen den Akteur mit einem gestalthaften Bild der Situ-
ation, aus dem sich dann die Handlungswahl ergibt. Kognitionen stellen dem-
gegenüber eine Serie von Bildern dar, die sich auseinander herleiten, bis sie
ins Handeln münden. Als „Modus der Weltaneignung“ sind Emotionen somit
eine ganzheitliche Informationsverarbeitung.
beziehungsorientierte Emotionen
Als Antriebe sozialen Handelns kommen vor allem solche Emotionen in Be-
tracht, die in und durch soziale Beziehungen zustande kommen und die sich
auf Inhalte und Formen sozialer Beziehungen richten. 75 Zu solchen bezie-
hungsorientierten Emotionen gehören beispielsweise Liebe oder Mitgefühl
oder Bewunderung. Sie sind Beispiele dafür, wie die Beziehung zu einem an-
deren Akteur emotional positiv getönt sein kann. Daneben stehen natürlich
zum Beispiel Neid, Hass, Verachtung oder Schadenfreude als negativ getönte
emotionale Bestimmungen sozialer Beziehungen. Quer zu diesem Kontinuum
verschiedener Ausprägungen von Sympathie und Antipathie steht das Konti-
nuum von Verlust und Gewinn als emotional bewertetem Handlungsresultat.
Mittels dieser beiden Dimensionen ließen sich vier Gruppen von beziehungs-
orientierten Emotionen unterscheiden.
Erwartungsenttäuschungen
Ohne dass die soziologische Betrachtung der Emotionen bislang eine um-
fassende Antwort auf die Frage nach den sozialen Auslösefaktoren emotiona-
ler Handlungsantriebe gegeben hat, lassen sich zumindest drei Teilantworten:
Emotionale Handlungsantriebe werden durch massive, insbesondere plötzlich gewahr werdende Erwartungsenttäuschungen ausgelöst.
Der zweite Auslösefaktor emotionalen Handelns ergibt sich daraus, dass
auch Emotionen der Routinisierung unterliegen können.
Ein dritter Auslösefaktor emotionalen sozialen Handelns können inszenierte Emotionen sein.
Emotionale Handlungsantriebe werden durch massive, insbesondere plötzlich gewahr werdende Erwartungsenttäuschungen ausgelöst
Es kann sich dabei um normative Erwartungen handeln
- wenn zum Beispiel das Gegenüber seine Pflicht nicht erfüllt und man darüber
wütend wird, oder wenn man Scham darüber empfindet, dem anderen gegen-
über selbst bestimmten Normen nicht gerecht geworden zu sein. Aber auch
die Enttäuschung evaluativer Erwartungen, also etwa das Scheitern bestimm-
ter Hoffnungen und Wünsche an den anderen, können emotionale Reaktionen
wie beispielsweise Trauer und Verzweiflung hervorrufen. Oder kognitive Er-
wartungen bleiben unerfüllt, die Dinge entwickeln sich ganz anders als vorge-
sehen, und man reagiert mit Gefühlen der Nervosität oder Angst.
Dass Erwartungsenttäuschungen, je größer die Diskrepanz zwischen dem
erwarteten und dem tatsächlichen Geschehen ist, Emotionen auslösen und
das Handeln aus der Fixierung auf Normkonformität bzw. rationale Nutzenver-
folgung herausbrechen, erklärt sich aus der geschilderten Beschaffenheit die-
ses „Modus der Weltaneignung“. Der Homo Sociologicus und der Homo Oe-
conomicus operieren beide auf der Basis von Kognitionen, also sequentieller
Informationsverarbeitung. Genau dieser zeitaufwendige „Modus der Weltan-
eignung“ wird aber durch massive Erwartungsenttäuschungen, vor allem wenn
sie abrupt eintreten, tief greifend gestört.
Routinisierung von Emotionen
Routinisierung vermag nicht zu erklären, warum irgendwann einmal ein bestimmtes emotionales
Handeln begonnen hat. Aber falls sich dieses Handeln dann immer wieder
wiederholt, lässt sich das sehr wohl als Routinisierung verstehen. So können
etwa die ursprünglichen Auslöser dafür, dass zwei Menschen sich ineinander
verliebt haben, längst nicht mehr gegeben und vielleicht sogar gänzlich in Ver-
gessenheit geraten sein. Die Liebe kann anhalten, weil beide sich daran gewöhnt haben, den anderen zu lieben.
Inszenierte Emotionen
Wenn normative oder rationale Beweggründe den Akteur
dazu bringen, Emotionen nach außen darzustellen, die in seinem Inneren
überhaupt nicht vorhanden sind, kann das dazu führen, dass er sich sozusa-
gen mit diesen Emotionen anfreundet und sie zu echten werden. Das muss
keineswegs so sein. Aber es kann passieren - wobei nur psychologisch er-
gründet werden könnte, auf welchen innerpsychischen Dynamiken so etwas
beruht. Eine Soziologie emotionalen Handelns muss lediglich zur Kenntnis
nehmen, dass so etwas gelegentlich stattfindet. Vor allem mit Bezug auf Liebe
ist beobachtet worden, wie aus gespielter echte Leidenschaft werden kann.
zwei Modelle emotionsgetriebenen sozialen Handelns
Flam stilisiert zunächst einen „pure emotional man“ als einen in der sozialen
Wirklichkeit kaum einmal rein vorkommenden theoretisch konstruierbaren
Grenzfall. Der spontane Wutausbruch kommt diesem ausschließlich emoti-
onsgetriebenen Handelns wohl noch am nächsten. Darauf aufbauend model-
liert Flam anschließend den „constrained emotional man“. Dies ist ein Akteur,
dessen Handeln ebenfalls in starkem Maße emotional bestimmt ist; doch diese
Emotionalität ist erheblich durch normative oder rationale Handlungsantriebe
mitbestimmt. Mit diesem zweiten Modell leistet Flam bereits eine Verknüpfung
von „Emotional man“ und Homo Sociologicus bzw. Homo Oeconomicus.
„pure emotional man“
Flam (1990a: 43-45) charakterisiert den „pure emotional man“ als „unfree,
inconsistent, cost-indifferent“ sowie durch „inconstancy and indeterminancy“
• Der „pure emotional man“ ist „unfree“, weil ihn Gefühle überkommen. Seine
Emotionen sind nicht freiwillig und bewusst gewählt, sondern unwillkürlich.
• Der „pure emotional man“ ist „cost-indifferent“. Seine Gefühle sind maßlos
im wörtlichen Sinne.
• Der „pure emotional man“ ist „inconsistent“. Manche Gefühle gegenüber
einer bestimmten Person harmonieren miteinander, beispielsweise Liebe
und Bewunderung. Das eine trägt das andere und umgekehrt. Aber nicht
selten koexistieren durchaus widersprüchliche, spannungsreiche emotiona-
le Strömungen gegenüber einem anderen. Das bekannteste Beispiel ist die
sprichwörtliche Hassliebe.
• Der „pure emotional man“ ist durch „inconstancy“ gekennzeichnet. Emotio-
nen sind oftmals nichts Beständiges, sondern schwanken erratisch sowohl
in ihrer Intensität als auch in ihrer Tönung. Es gibt zwar den ewigen Hass,
vielleicht auch manchmal die ewige Liebe. Häufiger aber ist die Wechsel-
haftigkeit von Gefühlen.
• Der „pure emotional man“ ist durch „indeterminacy“ gekennzeichnet. Emoti-
onen sind oftmals schwer in ihrem Auftreten und ihrem Verlauf vorhersag-
bar. Das ergibt sich vor allem aus der Wechselhaftigkeit und der Inkon-
sistenz emotionaler Zustände. Auch für einen selbst sind die eigenen emotionalen Zustände oft nur schwer vor- ausschaubar oder erklärbar. Letzteres hängt damit zusammen, dass man
Emotionen nur schwer willentlich erzeugen und stabilisieren kann.
Liebe als Gesellschaftsprinzip
Es ist ja kein Zufall, dass es noch keine Gesellschaft gewagt
hat, Familienbeziehungen allein auf Liebe zu gründen. Selbst das Ideal der
leidenschaftlichen romantischen Liebe in modernen westlichen Gesellschaften
ist bekanntlich größtenteils Fiktion geblieben, die zwar in Romanen und Fil-
men, aber nicht im richtigen Leben funktioniert (Luhmann 1982). Normative
Verpflichtungen gegenüber dem Ehepartner und den eigenen Kindern halten
die Familie zusammen, nicht Gefühle. Die taugen allenfalls zur Initialzündung
dieser sozialen Ordnung und flackern vielleicht, wenn man Glück hat, ab und
zu, sozusagen als Versüßung der Pflichterfüllung, immer wieder einmal auf.
Ehe- und Familienbeziehungen sind somit ein Beispiel dafür, dass emotio-
nale Handlungsantriebe normativ eingebettet werden, um ihnen gewisserma-
ßen „Sozialverträglichkeit“ zu verleihen. Der „Emotional man“ wird gleichsam
vom Homo Sociologicus an die Kandare genommen.
„constrained emotional man“
Er ist dadurch gekennzeichnet, dass bestimmte Emotionen, die ihn an-
treiben, durch soziale Normen und/oder Erwägungen rationaler Nutzenverfol-
gung kanalisiert werden. Diese Kanalisierung kann sich auf die Tönung und
die Intensität von Emotionen beziehen oder sogar in eine Umformung be-
stimmter Emotionen münden. In jedem Fall sind Emotionen vorhanden, die
sodann durch Normen und Nutzenerwägungen weiter geformt werden.
Das Modell des „constrained emotional man“ macht zunächst darauf auf-
merksam, dass Emotionalität und Normbefolgung einander nicht ausschlie-
ßen.
das Ausleben von Emotionalität vs soziale Normen
So darf die Liebe der Mutter zu
ihrem Kind nicht soweit gehen, dass Sexualität ins Spiel kommt. Ebenso darf
die Mutter, wenn ihre Liebe durch das momentane Verhalten des Kindes plötz-
lich in Wut umschlägt, dieser Emotion nicht maßlos nachgeben. Und wenn
eine Mutter zwei Kinder hat, von denen sie eines viel mehr liebt als das ande-
re, wird von ihr erwartet, dass sie sich das nicht anmerken lässt, sondern ihre
Emotion gleichmäßig auf beide Kinder verteilt.
Das Beispiel zeigt, dass das Ausleben von Emotionalität durch soziale
Normen vorgeschrieben, zugelassen oder untersagt wird - und wenn es vor-
geschrieben oder zugelassen wird, spezifizieren Normen weiterhin, welche Art
und welches Ausmaß von Emotionen ausgelebt werden dürfen. Arlie Hoch-
schild (1979) spricht treffend von „feeling rules“.
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