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Langue Deutsch
Catégorie Pédagogie
Niveau Université
Crée / Actualisé 16.01.2015 / 22.05.2020
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Nennen Sie drei Beispiele für die Standardisierung des Angebots in verschiedenen wirtschaftlichen Bereichen und beschreiben Sie, welche standardisierenden Maßnahmen jeweils ergriffen werden.

1) Beim Hausbau entscheiden sich immer mehr Menschen zu einem Fertighaus, statt Schritt für Schritt ein mit einem Architekten auf individuelle Bedürfnisse zugeschnittenes Haus zu planen und mit Unterstützung von Familie und Freunden zu errichten und vieles über Hausbau zu erlernen. Dieses wird in standardisierten Größen angeboten, je nach Kopfquote und Finanzkraft. Die Rohmaterialien werden über große Mengen z.T. am Weltmarkt eingekauft und nach vorgegebenen Normen weiterverarbeitet, daher gibt es dasselbe Haus weltweit mehrfach.

2) Tagesablauf in einer Kita: Es ist genau vorgegeben wie der Tagesablauf zu erfolgen hat. Morgens Freispiel, dann Morgenkreis mit Führung der Anwesenheitsliste, danach Toilettengang und Händewaschen, anschließend gemeinsames Gabelfrühstück, Toilettengang und erneutes Händewaschen, Freispiel bzw. Vormittagsaktivität wie Turnen, Vorschule ect. Um 11:30 Uhr wird aufgeräumt, zur Toiletten gegangen und Hände gewaschen. Dann gibt es Mittagessen, danach werden die Zähne geputzt/Hände gewaschen. Es folgt die Ruhe- bzw. Schlafphase, danach Freispiel und 1. Abholphase, gegen 15 Uhr ein erneuter Snack, usw.

3) Urlaubsplanung: der Pauschalurlauber zahlt und kümmert sich um nichts mehr. Nach der Landung mit dem Flugzeug, wird er wird mit dem Bus zum Hotel gefahren. Er bekommt je nach gebuchter Verpflegung seine Speisen und Getränke, ohne sich darum kümmern zu müssen. Er macht gebuchte Führungen mit Reiseleitung. Für Freizeitmöglichkeiten und Animation ist ausreichend gesorgt. Am Ende fährt der Bus den Urlauber wieder zurück zum Flugzeug. Alternativ dazu könnte man sich selbst um eine Unterkunft kümmern und unterschiedlich essen gehen, selbst Reiserouten zusammenstellen und viele neue Erfahrungen machen.

Ergänzend wäre vielleicht zu sagen, dass diese Standardisierung bei den Konsumenten "Erwartungssicherheit" entstehen lässt. Als weitere Folge kann die Anspruchs-Enttäuschungs-Spirale angefügt werden.

Welche Unterschiede diagnostiziert Sennett in den Erwerbsbiographien der beiden Generationen, die er in seiner Studie untersucht?

Die Erwerbsbiographie der älteren Generation (Bsp: Enrico als Einwanderer der 1. Generation) ist gekennzeichnet durch einen berechenbaren, linearen und durch langfristige Arbeitsverhältnisse, der es möglich machte Erfolg (gemessen an Ersparnissen bzw. Einkünften) zu kumulieren. Damit war es erfolgreich möglich, beispielsweise Eigentum zu erwerben und auszubauen sowie und den Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen, was als Ziele der Arbeitsanstrengung dieser Generation galten. Der berechenbare Lebenslauf basierte auf einer bürokratischen Struktur, z.B. in Form eines an das Dienstalter gekoppelte Lohnsystem. Die Erwerbsbiographie jüngeren Generation (Bsp.: Sohn Rico) weist kumulativen Erfolg, die Berechenbarkeit der Zeit, eine stützende bürokratischen Struktur, aus der eine klare Lebensgeschichte hervorgeht, nicht auf. Kennzeichnend für dieses Leben ist kurzfristige und wechselnde Arbeitsverhältnisse als Folge des flexiblen Kapitalismus. Die Einkommensverhältnisse und das Bildungsniveau sind zwar insgesamt höher, was aber mit dem Verlust an langfristigen Bindungen, Sicherheiten und Gemeinschaften einhergeht, da ein Arbeitsplatz- und Ortswechsel zur Regel und zum Muss werden. Der steigende Konkurrenzkampf am Arbeitsmarkt, welcher flexible Arbeitnehmer fordert, führt zu Kontrollverlustängste sowie ein brüchig werdendes Selbstkonzept der Individuen.

Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem ‚flexiblen’ Kapitalismus im Hinblick auf die Verhältnisse sozialer Integration?

die Konsequenzen sind z.B.

  • viele Arbeitsplatz- und Wohnortwechsel
  • oberflächlichere Bindungen (da Vertrauen, Loyalität und gegenseitige Verpflichtung sind von langem Zusammenhalt abhängig)
  • keine langfristige Planbarkeit
  • Bedrohung eines stabilen Selbstwertgefühls
  • Werterigorismus (extreme Strenge)
  • Verlust von Gemeinschaftssinn
  • Entwurzelung

Diese Faktoren erschweren eine soziale Integration.

Als Drift wird bei Sennet eine "biographische und kollektive Entfremdung" bezeichnet. Sie wird beschrieben als ein Zustand des "Dahintreibens" oder illustriert mit dem Bild des fortwährenden "Umtopfens" dem sich die Menschen unterziehen müssen, womit ein Verlust der inneren Sicherheit und der beruflichen Identität entsteht; das Selbstbewusstsein und das soziale Gedächtnis werden "fragmentiert".

Die Drift wird durch den Lebensstil ausgelöst, die der Konkurrenzkampf in der flexiblen Wirtschaft erzwingt. Menschen müssen sich ständig beruflich und örtlich verändern und fangen jedes Mal wieder bei Null an. In den Wohnorten bilden sich oberflächliche Gemeinschaften auf Zeit. Die Risiken, die die Menschen dabei eingehen, gleichen einem Würfelspiel. Der nächste Zug kann gut oder schlecht sein, da vergangene Erfolge den nächsten Schritt nicht mehr beeinflussen. Die zunehmende Automatisierung von Arbeitsprozessen verstärkt diesen Prozess, die den Menschen keine Identifizierung mehr mit ihrer Tätigkeit erlauben. Arbeit wird zu einem Computersymbol und dadurch "unlesbar".

Drift bedeutet, dass die Menschen nirgendwo mehr fest verwurzelt sind, weder in einer örtlichen Gemeinschaft, noch einem Beruf, sondern durch Gelegenheiten oder Notwendigkeiten hierhin oder dorthin getrieben werden. Aus diesem Getrieben werden lässt sich keine Lebenserzählung gestalten, kein fester Charakter ausbilden, woran Menschen, trotz wirtschaftlichem Erfolg, leiden.

Ein Weg aus der Drift beruht in der Übernahme von Verantwortung für das eigene Schicksal. Dies bedeutet, sich wirklich einzulassen und mit anderen Menschen eine echte Gemeinschaft zu bilden, ein echtes "Wir".

Welche drei Prozesse bezeichnen den Umbau der Strukturen der Arbeitsorganisationen?

1. Umstrukturierung von Arbeitsorganisationen geschieht im neoliberalen Modell durch „Re-engineering“. Damit ist zum einen der Abbau von Personal im Rahmen einer Betriebsverschlankung und daraus resultierenden Kostenersparnis gemeint, was bei den Entlassenen zu einem Gefühl der Dequalifizierung und Nutzlosigkeit führt und ihre Arbeitsmoral einbrechen lässt. Die noch-Beschäftigten sollen dann alle routinisierten Arbeitserfahrungen aufgeben und Flexibilität aufbauen, womit die persönliche Autonomie des Personals gefordert ist. Für die Streichung von Arbeitsbereichen ist allerdings nicht mehr entscheidend, wie erfolgreich jemand ist. Es entsteht Druck auf die verbleibende Belegschaft und zum anderen führt das Re-engineering nicht zum gewünschten Erfolg, da bewährte Prozesse unterschätzt wurden.

2. Flexible Spezialisierung der Produktion: Ziel der Profitabilität. Der Markt wird in kleine Segmente unterteilt, welche jeweils von einer Unternehmenseinheit bedient werden. Damit sind die Beschäftigten direkt dem Marktdruck ausgesetzt. Es werden nicht mehr alle Arbeitsschritte umfassend von Großunternehmen allein durchgeführt, sondern viele kleine Zulieferfirmen arbeiten in der Produktionskette mit entsprechendem Erfolgsdruck in jedem Segment. Sennett erkennt maßlose und unspezifische Profiterwartungen, die systematische Gefühle des schlechten Gewissens und der Selbstvorwürfe auslösen können.

3. Konzentration der Macht ohne Zentralisierung: Dies ist eine subtile Art der Macht, da sie unsichtbar bleibt. Auf formal selbständige, aber schwächere Partnerunternehmen werden Misserfolge abgewälzt. Auf der Mikroebene werden ebenfalls formal selbstentscheidende Teams über zu hoch angesetzte Vorgaben unter Erfolgsdruck gesetzt. Innerhalb der Teams herrscht Konkurrenz um den Erhalt des Arbeitsplatzes, wobei diese Konkurrenzsituation nicht thematisiert werden darf, da eine Ideologie der Teamarbeit herrscht. 

Was versteht Sennett im Zusammenhang mit der Umgestaltung von Arbeitsorganisationen und Arbeitsverträgen unter dem Begriff der ‚Unlesbarkeit’?

Mit "Unlesbarkeit" ist z.B. die Unsicherheit gemeint, was es heißt, ein "guter Arbeiter" zu sein. Durch die Technisierung in allen Bereichen des Erwerbslebens sind Arbeitskräfte programmabhängig. Sie verfügen nicht mehr über ausgeprägtes praktisches Wissen. Verantwortung übernimmt z.B. der Vorarbeiter bzw. Vorgesetzte, nicht mehr die ganze Belegschaft. Damit kommt es zur Abnahme des Gemeinschaftsgefühls und eine Gleichgültigkeit dem Arbeitsprozess und dessen Produkten gegenüber.

Durch Maschinen (in der Automatisierung) wird den Arbeitern die Möglichkeit genommen, sich mit ihrer Arbeit zu identifizieren und fungiert so quasi als Puffer zwischen Arbeitskraft und Produkt, was zu einer Identitätslosigkeit führt.

Welche drei Arten von Unsicherheiten unterscheidet Sennett? Wodurch zeichnen sie sich jeweils aus?

1. Mehrdeutige Seitwärtsbewegungen: Das berufliches Vorwärtskommen ist nicht mehr eindeutig erkennbar. Eine Person glaubt, beruflich vorwärts zu kommen, bewegt sich allerdings nicht nach oben, sondern zur Seite, weil Stellenkategorien in der flexiblen Arbeit gestaltloser werden. Das erkennt man jedoch erst, wenn man sich mitten im flexiblen Netzwerk befindet. Durch diese „Schwammigkeit“ kann man beruflichen Erfolg schwer definieren, womit man eher bereit ist, die Stelle zu wechseln, da man sich erhofft, dass der nächste Job konkreter wird.

2. Retrospektive Verluste: Akteure erkennen häufig erst nach einem Wechsel rückblickend, dass die falsche Entscheidung getroffen wurde. Diese kann man jedoch nicht mehr revidieren und muss mit den Folgen und Risiken leben.

 3. Unvorhersehbare Einkommensverluste: Die berufliche Mobilität ist in der heutigen Gesellschaft oft ein undurchschaubarer Vorgang. Meist orientiert man sich bei einem Stellenwechsel an der Bezahlung, jedoch stellt der Wechsel für die meisten (>2/3) letztlich keinen wirklichen Zugewinn dar, was das Einkommen betrifft (34% verlieren sogar beträchtlich). Die Orientierung am Einkommen, die im bisherigen Klassensystem gang und gäbe war, ist nicht mehr wegweisend.

Weshalb sind nach Sennett auch oder vor allem die Mittelschichten Opfer des ‚flexiblen Kapitalismus’?

Die Mittelschichten, die den Forderungen nach Flexibilität und Mobilität nachkommen möchte, setzen sich aufgrund ihrer gehobenen Bildung unter höheren Veränderungsdruck, strebt andererseits aber langfristige Ziele und eine Normalkarriere an. Unter Karriere verstehen diese Personen, Verhaltensmaßregeln im Berufs- und Privatleben zu befolgen und Verantwortung zu übernehmen (moralische Ziele). Die Kurzfristigkeit im flexiblen Kapitalismus lässt jedoch ein normales Erwerbsleben (steigende Entlohnung, Zurückbleiben anderer Schichten...) nicht mehr zu. Folge daraus ist ein moralischer Verlust, da gesteckte Ziele nicht erreichbar sind.

Mittelschichten sind Opfer des flexiblen Kapitalismus aufgrund der Dequalifizierung und der entsprechenden Unsicherheitserlebnisse. Hohe Qualifikation und Arbeitslosigkeit sind kein Widerspruch mehr. Zum Statusverlust durch Verlust des Arbeitsplatzes kommt das Versagen vor sich selbst hinzu.

Welche zentralen (sozialen) Probleme stehen modernen Gesellschaften nach Heitmeyer heute vor allem gegenüber?

1. Kluft zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander und verschärft soziale Ungleichheiten, Folge daraus ist eine Erosion der bis dahin integrierten Mittelschicht.

2. Menschen ziehen sich aus Institutionen zurück (Ehe, Kirche, Vereine, Gewerkschaften...)

3. Es werden höhere Anforderungen in der Arbeitswelt bezüglich Flexibilität und Mobilität gesetzt (Folge: Bastelbiographie).

4. Grundlegende Wert- und Normenkonsense lösen sich auf. Dieser Problemlagen resultiert das gesellschaftliche Phänomen der "Anomie" (E. Durkheim, 1893).

Massenarbeitslosigkeit und allgemeine Verunsicherung sind Folgen der Globalisierung von Kapital und Kommunikation.

Heitmeyer:

Was verstehen a.) Durkheim und b.) Merton unter dem Begriff der ‚Anomie’?

Durkheim – Anomie – Auseinanderfallen von materieller und moralischer Entwicklung in Zeiten erhöhter Modernisierungsdynamik

Merton – Anomie – Diskrepanz zwischen kulturellen Zielen und den individuellen Ressourcen zur Zielerreichung, führt bei sozialstrukturell Benachteiligten zu abweichendem Verhalten

Durkheim (Studie über die soziale Arbeitsteilung, 1893) zufolge bestehen Gesellschaften aus arbeitsteiligen Untereinheiten, welche durch Vertrag (Gestaltung der Arbeitsbeziehungen) und korporative Sittlichkeit ( Sozialverhalten untereinander) normativ aneinander gebunden sind.

Der Begriff Anomie (lat. für Gesetz- und Normlosigkeit) wurde 1893 als soziologische Kategorie eingeführt. Ausgelöst wird dieser durch das "Auseinanderfallen von materieller und moralischer Entwicklung" (SB S. 138). Die Modernisierung bringt mehr Produkte und damit erstrebenswerte Güter hervor. Moralische Werte halfen dem Einzelnen bisher (Religiosität, Sittlichkeit...) dieser Fülle kognitiv gewachsen zu sein und Autorität beim Übergang zu einem neuen Regelsystem zu finden. Ein Indikator von Anomie ist z.B. die Selbstmordrate. Im Übergang zum 20. Jh. sind Krise und Anomie laut Durkheim zum Dauerzustand geworden.

Nach Merton sind die höchsten kulturellen Werte finanziell messbare Erfolge (Wohlstand), was als Leitorientierungen für gelingendes gutes Leben gilt. Die Erreichung dessen liegt in der Disposition des Individuums (willig, fleißig, arbeitsam). Vom Tellerwäscher zum Millionär.

Merton konzentriert sich auf die kulturelle Dimension in amerikanischen Verhältnissen. In Amerika wird Erfolg finanziell gemessen und äußert sich in sichtbarem Wohlstand. Das Credo und Leitbild lautet: jede/r kann sich hocharbeiten. Seit den 20er und 30er Jahren wird es aufgrund der Sozialstruktur immer schwieriger, dieses Ziel zu erreichen (Ressourcen zur Zielerreichung schwinden bei immer größer werdenden benachteiligten Gruppen). Es kommt zu Diskrepanzen zwischen kulturellen Zielen und individuellen Ressourcen zur Zielerreichung sowie zu abweichendem Verhalten und zu Anomie. Merton spricht dabei vom Zusammenbruch der "kulturellen Struktur".

Heitmeyer:

Definieren Sie im Zusammenhang mit Anomie die Begriffe ‚Inkonsistenz’, ‚Ungleichzeitigkeit’ und ‚Asymmetrie’.

Die Gegenwartsgesellschaft ist gekennzeichnet durch die Ausbreitung der Anomie. Das Effizienzdenken, das die Märkte beherrscht, vereinnahmt auch die Politik und die Lebenswelt der Menschen und wirkt desillusionierend und auflösend. Neben Wohlstand und Erfolg ist heute die Individualität ein wichtiges Leitmotiv, das Freiheit gewährleisten soll. Individualität führt jedoch auch zu Phänomenen wie Inkonsistenz, Asymmetrie und Ungleichzeitigkeit.

Inkonsistenz: Durch die Subjektivierung von Werten und Normen werden zwar neue Entscheidungsfreiräume ermöglicht, diese werden aber direkt wieder durch den Zwang zu einem nutzenorientierten Verhalten am Markt verstellt. Durch die Subjektivierung von Normen und Werten werden zwar mehr Entscheidungsfreiräume ermöglicht, aber zugleich werden diese durch ein rein utilitaristisches und kalkulierendes Verhalten, das am kapitalistischen Markt notwendig ist um zu bestehen, wieder verstellt.

Ungleichzeitigkeit beschreibt die Kollision zwischen erlernten individualisierten Verhaltensweisen und der Bedrohung durch Armut und realer oder drohender Arbeitslosigkeit. Man kann nicht agieren, wie man gerne handeln würde. Damoklesschwertern gleich schweben die oben genannten Probleme über einem und verhindern so die Entfaltung der eigenen Individualität. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen wirken bedrohlich, sind aber andererseits Voraussetzung für das Lebensmuster Individualität.

Asymmetrie beschreibt die Diskrepanz zwischen der Leitorientierung „Individualität“ und den tatsächlich gegebenen Möglichkeiten, wie von Merton bereits erwähnt. Die sozialstrukturellen Realisierungschancen sinken immer weiter, wobei zugleich der Aufforderungscharakter besteht, dass jeder selbst für sein Glück verantwortlich ist.

 

Was versteht Heitmeyer unter den Begriffen ‚Strukturkrise’, ‚Regulationskrise’ und Kohäsionskrise?

Strukturkrise:

Abnehmende Steuerungsfähigkeit von Politik und Staat vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Globalisierung.

Regulationskrise:

Die heutige Gesellschaft nimmt ihre eigenen Regeln, Werte und Normen nicht mehr ernst.

Kohäsionskrise:

Auflösung von Vergemeinschaftungen und Verlust der Bindekraft von Idealen, sozialen Beziehungen, Milieus... durch eine übersteigerte Individualisierung

Die Desintegrationsphänomene (Inkonsistenz, Ungleichzeitigkeit und Asymmetrie) sind für drei Krisenlagen verantwortlich: die Struktur-, die Regulations- und Kohäsionskrise als gesellschaftliche Entwicklungen.

Die Strukturkrise ist damit gekennzeichnet, dass die Steuerungsfähigkeit von Politik und Staat durch die wirtschaftliche Globalisierung reduziert wird. Das gesellschaftliche System ist gekennzeichnet durch Differenzierung, womit sich bei der soziokulturellen Zuordnung und der Existenzsicherung Probleme ergeben. Folgen daraus sind eine Verschärfung von Ungleichheit, Ausgrenzung, Desintegration. Menschen reagieren mit Ohnmacht, Gleichgültigkeit oder auch mit Gewalt.

Die Regulationskrise bezieht sich auf die Entwicklung der Pluralisierung von Werten und Normen. Eigene Regeln, Werte und Normen gehen verloren, eine Verständigung über gemeinsame Werte ist nicht mehr möglich. Daraus folgt eine Delegitimierung von Normen und ein Kontingenz von Werten. Gewaltschwellen nehmen ab, Gewaltanfälligkeit nimmt zu.

Die Kohäsionskrise bezeichnet die Auflösung von Gemeinschaften und die Abnahme der Bindungen (Sozialbeziehungen, Milieus, Ideale) durch die Individualisierung. Dadurch verliert der Mensch die Zugehörigkeit und verliert Bindekraft von Idealen, soziale Beziehungen/Milieus. Dies führt zu Vereinzelung und äußert sich in (Selbst-)Ethnisierungsprozessen (dadurch werden Gewaltpotentiale gelenkt).

Heitmeyer:

Welches sind die Ursachen für die Zunahme der Anomie im Wirtschaftssystem und welche Konsequenzen ergeben sich daraus jeweils?

Im Wirtschaftsbereich:

- Standortkonkurrenz und damit einhergehender Druck zur Rationalisierung und Rentabilität in der Produktion.

- Die gesellschaftliche Anerkennung des Facharbeiterberufs nimmt ab.

- Es geht um Identitäten, Selbstbilder, deren Realisierung gesellschaftlich blockiert scheint.

Im politischen System:

- Regierung und Opposition verlieren an Vertrauen

- Auch andere politische Interessenvermittlungen wie Vereine, Kirchen und Verbände verlieren an Vertrauen und leiden unter Mitgliederschwund.

- Rebellische Unzufriedenheit der Bürger führt zu linken bzw. rechten Protestwahlen.

- Blanker Eigennutz und Tribalismus (Zugehörigkeitsmerkmale zu einer Gruppe) treten letztlich an die Stelle von Politik.

a) Die Zunahme der Anomie im Wirtschaftssystem kann mit den Folgen der globalisierten Märkte begründet werden, in dem die deutschen Produktionsprozesse nicht mehr konkurrenzfähig sind. Die Verlagerung zur Informationsgesellschaft geht mit einem „jobless growth“ (trotz Wirtschaftswachstum sinken die Beschäftigtenzahlen) einher, was erhöhte Arbeitslosigkeit zur Folge hat, da die Produktion ins Ausland verlegt wird. Am Beispiel der „Blaumann-Berufe“ wird die doppelte Entwertung erkennbar, deren Beschäftigungsbedingungen zunehmend prekär werden, zugleich verliert der Berufsethos des Facharbeiters seinen gesellschaftlichen Wert. Für die jüngere Generation wird der Automatismus des „Fahrstuhl-Effekts“ blockiert. Als Folge dieser Entwicklungen wird ein „Arbeiternationalismus“ festgestellt.

Beruflichkeit schafft nicht länger Selbstbewusstsein, Wohlstand und Sicherheit, sondern verliert an gesellschaftlicher Anerkennung und eröffnet nur mehr den Bereich minimal anspruchsvoller Tätigkeiten. Die Arbeiterschaft leidet unter sozialer Deprivation (Angst vor fremdländischen ArbeitsimmigrantInnen, der Fahrstuhleffekt wirkt nicht mehr). Zusätzlich scheint die soziale Identität eines Berufsstandes bedroht, da der Beruf das Selbstbild prägt, dieses kann jedoch gesellschaftlich nicht mehr realisiert werden.

 

Heitmeyer:

Welches sind die Ursachen für die Zunahme der Anomie im Politischen System und welche Konsequenzen ergeben sich daraus jeweils?

b) Die Ursachen für eine Zunahme der Anomie im politischen System liegen ebenfalls in den Folgen der Globalisierung. Volkswirtschaftliche Mehreinnahmen eines Staates fließen nicht länger in Form von Schutz-, Vorsorge- und Transferleistungen (Wohlfahrtsstaat) an die Bevölkerung zurück, sondern es erfolgt eine weltweite Verteilung. Dadurch sanken zwar in den letzten 10 Jahren die Steuereinnahmen aus Unternehmensgewinnen, während die Arbeitnehmerschaft steuerlich immer stärker belastet wurde. Erschwerend wirkt das Erreichen des Ziels Wirtschaftswachstum durch Rationalisierung in Betrieben (z.B. Abbau von Stellen), da damit neue Arbeitslose hervorgebracht wird, welche von staatlicher Unterstützung abhängig sind. Als Konsequenz nimmt das Vertrauen in die Politik ab und führt zu einer "reziproken Entfremdung" (gegenseitiges Unverständnis).

Ein Lösungsweg wären intermediäre Instanzen, wie Bürgergesellschaften oder kommunitaristische Bewegungen, die Volk und Politik einander näher bringen könnten, welche jedoch wenig ausgeprägt sind. Die Proteste des Volkes münden eher in Rebellion, rechter Protestwahl, Tribalismus (Abgrenzung, Ausbildung kleiner Gemeinschaften) und blanken Eigennutz.

Heitmeyer:

Was ist mit der Pluralisierung von Werten gemeint?

In der Nachkriegsgeneration waren materialistische Werte wie z.B. Fleiß, Disziplin, Bescheidenheit, Pflichterfüllung maßgeblich. Seit den 60er Jahren kann eine Pluralisierung der Werte beobachtet werden, es ändert sich die Haltung. Es dominieren entsprechend den gesellschaftlichen Entwicklungen post-materialistische und individualistische Werte wie z.B. Autonomie, Emanzipation, Genuss- und Selbstverwirklichung. Normative Orientierungen werden zunehmend abgelehnt, egozentrierte Wertorientierungen werden gemeinwohlorientierten vorgezogen. Sozial abweichend eingestuften Handlungen werden zur Selbstverständlichkeit (Aggression, Unhygiene in der Öffentlichkeit, usw...). Diese normative Anomie ("Wegschau-Gesellschaft", entsteht aus Angst vor körperlicher Verletzungen/Sanktionierungen) löste die Regulationskrise aus: Die Normabweichung im öffentlichen Raum steigt, während die informelle soziale Kontrolle in der Gesellschaft sinkt, die Gesellschaft bringt unzählige Lebensstile und Subkulturen hervor. Kontrolle und Sanktionen werden gleichzeitig für spezifische Normabweichungen in Subkulturen und Lebensstilgruppen verschärft.