Rationalität
Vertiefung
Vertiefung
Kartei Details
Karten | 210 |
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Sprache | Deutsch |
Kategorie | Psychologie |
Stufe | Universität |
Erstellt / Aktualisiert | 25.07.2025 / 27.07.2025 |
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ursprüngliche Betrachtungsweise
Aristoteles: Mensch als 'animal rationale'
= kategorial
aktuelle Betrachtungsweise Rationalität
Menschen können trotz ihres kognitiven Potenzials irrational sein
= kontinuierlich, statt kategorial
Menschen unterschieden sich in ihrer Ausprägung an Rationalität (+diese ist veränderbar)
Rationalitätsforschung
- lange Zeit im Fokus: ausschließlich Intelligenz
- ab 1970er Jahren: Untersuchung der Art und Existenz von kV
- daraus entstanden: tiefere Rationalitätsforschung
kognitive Verzerrungen (kV)
Sammelbegriff für:
- unsystematische
- unbewusste und
- fehlerhafte
Prozesse der Informationsverarbeitung
+ oft die Rede von Selbsttäuschung, da durch kV das Urteilen, Denken und Erinnern beeinflusst wird
aktueller kognitionspsychologisches Verständnis von Rationalität
Es bestehen Unterschiede in der Ausprägung von Verzerrungen:
- Menschen unterschieden sich in ihrer Tendenz/Neigung zu kV
- diese allgemeine Neigung kann dann als "(Ir)Rationalität" einer Person verstanden werden
Defi Rationalität (Psychologie)
Rationalität beschreibt die Dispositionen und Fähigkeiten, analytisch zu denken und Entscheidungen zu treffen, die entweder den erwarteten Nutzen maximieren oder den Gesetzen der W'keit entsprechen und somit mit den normativen Prinzipien der Entscheidungsfindung übereinstimmen
2 Arten von Rationalität
1. epistemische Rationalität = Entscheidungen treffen auf Basis der Überzeugungen, die der Welt angemessen sind (objektive W'keiten)
2. instrumentelle Rationalität = Entscheidungen basierend auf dem Ziel der eigenen Zielerfüllung und Nutzenmaximierung
Rationalitätstheorien
Grundlage bildet immer: 2-Prozess-Theorien der Kognitionspsychologie
- heuristic vs. analytic
- type (System) 1 vs. type (System) 2
- intution vs. reasoning
- automatic vs. controlled
- impulsive vs. reflective
Heuristiken
= mentale Abkürzungen, die der schnellen und effizienten Urteilsbildung dienen
> freundliche Bedingungen: angemessene Reaktion
> feindselige Bedingungen: unangemessene Reaktionen (= hier müssen Typ 1 dann von Typ 2 überschrieben werden: override)
Typ 1- und Typ 2 Prozesse (Stanovich)
Typ 1: basieren auf Heuristiken
- automatisch, schnell
- Kosten wenig kognitive Ressourcen
- assoziativ
- können parallel ablaufen
Typ 2:
- non-autonom, langsam
- systematisch
- kosten viele kognitive Ressourcen und Aufwand
- nur seriell
empirische Befunde: Typ 1 und Typ 2 Prozesse (Grimm und Richter, 2024)
Unterscheidung:
Kontrollitem = Aufgabe, die durch Typ 1 Prozess zu lösen ist (Orangen im Frachtschiff)
und Testitem = Lösung nur durch Typ 2 möglich (Schläger, Ball, 1,10 Euro)
Annahme, dass richtige Antworten von herausfordernden Testitems mehr Zeit benötigen (> Indikator für Typ 2)
- Kontrollitem: schnelle Antworten (Typ 1) genügt = oft richtig
- Testitem: richtige Antworten bedürfen längerer RT (Typ 2), schnellere Antworten, oft falsch (Typ 1)
> Aber: inkonsistente Befunde
nicht immer brauchen Typ 2 längere RT (mögliche Erklärung: Routine, Automatisierung von Aufgaben: rationales Denken kann geübt werden und dadurch schneller ablaufen)
Tripartite Model of Mind (Stanovich)
Annahme dreier Kontrollsysteme beim Entscheiden:
1. reflective mind: rationale Denkpositionen
2. algorithmic mind: kognitive Leistungsfähigkeit (=Infoverarbeitungsprozesse)
3. autonomous mind: Typ 1 Prozesse
reflective mind
=individuelle Unterschiede in rationalen Denkpositionen (kognitive Stile)
- Überwachung und Kontrolle
- reflektiert und bewertet Denkprozesse und korrigiert diese, wenn nötig
> steuert algorithmic mind und erkennt, wann Nachdenken nötig ist (= Need for cognition)
> nur wenn reflective mind erkennt, dass Typ 1 nicht ausreichend, dann algorithmic mind aktiviert
algorithmic mind
= individuelle Unterschiede in fluider Intelligenz
- logisches und regelbasiertes Denken
- wird aktiviert durch reflective mind und gehört zu Typ 2 Prozessen
autonomous mind
= nur wenige individuelle Unterschiede
- schnell und automatisch, assoziativ
- spiegelt Typ 1 Prozesse wider
mindware
= kognitives Denkwerkzeug (z.B. propabilistisches, wissenschaftliches, kausales Wissen)
> durch Aktivierung des algorithmic mind wird mindware zugänglich (= fluide Intelligenz)
> ausschließlich während Simulation
+ wenn mindware bis zur Automatizität praktiziert: über viel Übung auch in Typ 1 Prozess zugänglich
(= somit können angemessene, rationale Entscheidungen auch durch schnelle Verarbeitungsprozesse getroffen werden)
Rationalität vs. Intelligenz
Frage, ob Rationalität auch als alternatives Konstrukt für I möglich?
Tripartite Model: Rationalität umfasst auch fluide I (=kognitive Leistungsfähigkeit)
+ sogar: mindware und rationale Denkpositionen
=> wäre somit ein umfassenderes Konstrukt als reine I
+ klassische I-Tests decken Rationalität nicht ab
Intelligenztests vs. Rationalitätstests
I-Tests:
- Maß "optimaler, maximaler" Leistung
- Aufgabenstellung von außen fest vorgegeben
- Messung von Effizienz v. Verarbeitungsprozessen
- spiegelt algorithmic mind wider
Rationalitätstest:
- Maß "typischer" Leistung
- Ziele und Auswahlmöglichkeiten nicht klar von Außen vorgegeben
- Messung kognitiver Stile und rationaler Denkpositionen
- umfasst Kapazität aller drei Systeme (Tripartite Model)
Empirie: Intelligenz vs. Rationalität
- nur kleine bis moderate Korrel zw. I-Werten und rationalen Denkpositionen (=IQ sagt nur begrenzt voraus, wie rational eine Person denkt)
- rationale Denkpositionen als alleiniger Prädiktor für Aufgaben zu kV
- Faktorenanalyse: latenter Rationalitätsfaktor, der auf mehrere Subtests zu kV lädt
> rationales Denken als generelle kognitive Fähigkeit?
> Ergebnisse sprechen für ein einheitliches kognitives Rationalitätskonstrukt, dass von I unterschieden werden kann
! aber auch gemischte/widersprüchliche Befunde gegen eindimensionalen Rationalitätsfaktor
rationale Denkpositionen
(auch: kognitive Stile)
= interindividuell unterschiedliche Verhaltensmuster, die zur Bewältigung v. kognitiven Aufgaben der Informationsaufnahme und -verarbeitung sowie des Denkens und Bewertens eingesetzt werden
> umfassen tendenzielle Überzeugungen, Einstellungen und Ziele einer Person zum Denken und Urteilen
- Erfassung über Selbsteinschätzungsfragebögen mit Likert-Antwortskala
Actively open-minded thinking (Baron)
= reflektiertes, statt impulsives, Denken, bei dem Infos aktiv und offen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden
> gemessen über AOT-Scale (Stanovich und Toplak)
AOT-Scale (Stanovich und Toplak)
beinhaltet Items, die u.a. Bereitschaft...
- alternative Meinungen in Betracht zu ziehen
- Hinweise zu berücksichtigen, die im Gegensatz zur eigenen Meinung stehen
- die eigene Meinungsbildung hinauszuzögern
... erfasst
Bsp.: "People should take into consideration evidence that goes against their opinion" oder "changing your mind is a sign of weakness (R)"
Need for Cognition (Cohen)
= die Tendenz, tiefgehendes Denken zu betreiben und daran Spaß oder Freude zu haben/empfinden
> erfasst über NFC-Scale (Bless)
NFC-Scale (Bless)
deutschsprachige Adaption der Originalskala v. Cacioppo
Items umfassen u.a.:
- Freude beim Bearbeiten von Denkaufgaben
- Bereitschaft, sich bei Denkaufgaben anzustrengen
Bsp.: " Ich habe es gern, wenn mein Leben voller kniffliger Aufgaben ist" oder "Es genügt, dass ich weiß, dass etwas funktioniert, nicht warum (R)"
Selbsteinschätzungsfragebögen (Vor- und Nachteile)
+
- Erfassung nicht direkt beobachtbaren Verhaltens
- ökonomisch
- mittels Normen vergleichbar mit anderen
-
- subj. Interpretation der Fragen/Aussagen
- Selbsteinsicht erforderlich
- verfälschbar (SDR)
- anfällig für Selbsttäuschung
Testbatterien zur Erfassung von Rationalität
Frage, ob Erfassung der rationalen Denkfähigkeit im Gesamten auch möglich?
1. Comprehensive Assessment of rationale thinking (CART; Stanovich)
2. Decision-making competence scale for adults (A-DMC; Bruine de Bruin)
> gibts auch für Kinder und Jugendliche: Y-DMC (Parker Fischhoff)
3. Halpern critical thinking Assessment (HCTA; Halpern)
Comprehensive Assessment of rationale thinking (CART)
von Stanovich
- umfangreichste Testbatterie, die es gibt (jedoch vorerst als Prototyp, noch in Entwicklung)
> Ziel ist standardisierte Testbatterie zur Ermittlung eines "Rationalitätsquotienten"
- Aufgabenzusammenstellung basiert auf Tripartite Model und erfasst: rationale Denkpositionen, rationale mindware und rationale Denkprozesse
- Subtests der CART: Erfassung von kV über Heuristic und Biases-Aufgaben
(unter feindseligen Bedingungen: Aufgabenstellung spricht für intuitive, heuristische Antwort (Typ 1), ist aber falsch > systematisch reflektiertes Denken (Typ 2) notwendig
cognitive reflection
erfasst über cognitive reflection test (CRT; Frederick)
> Bsp.: Schläger, Ball, 1,10 Euro
- Verzerrung durch irreführende Cues
- Notwendigkeit Intuition zu überwinden
belief bias
erfasst über Belief Bias Syllologism (Markovitz, Nantel)
Bsp.: Annahme 1: alles, was geraucht wird ist, ist gesund + Annahme 2: Zigaretten werden geraucht = Schlussfolgerung: Zigaretten sind gesund
> ja = rational richtig
> nein = heuristisch falsch
- Verzerrung durch eigene Überzeugung
- Ziel: logisches Denken trotz widersprechender Überzeugungen
disjunctive reasoning
Test von Toplak und Stanovich
Bsp.: verheiratet > ? > unverheiratet mit der Frage: "Schaut eine verheiratete Person auf eine unverheiratete?"
> ja: rational richtig
> zu wenig Info für Antwort: heuristisch falsch
- Verzerrung durch vermeintlich fehlende Infos
- Notwendigkeit, komplexe Bedingungen zu berücksichtigen
ratio bias
auch denominator neglect genannt
(Test von Toplak, West und Stanovich)
Bsp.: zwei Tabletts mit schwarzen und weißen Murmeln (groß: 8:92 vs. klein 1:9) und bei Ziehen von schwarzer Murmel 5 Euro Gewinn
> großes Tablett: heuristisch falsch
> kleines: rational richtig
- Verzerrung durch absolute Zahlen
- Ziel: richtige W'keiten zu erkennen
Decision making competence scale for adults (A-DMC)
(von Bruine de Bruin)
> 6 Subtests
Fokus auf Messung von kV und keine Messung von rationalen Denkpositionen oder rationaler Mindware (anders als bei CART)
1. Subtest: Anwendung von Entscheidungsregeln
korrekte Anwendung von vorab definierten/festgelegten (predefined) Strategien, um zwischen verfügbaren Optionen zu wählen
2. Subtest: Überwindung von sunk cost fallacy
Abwenden von bereits gewählter option mit unwiederkehrlichem Verlust (sunk cost), wenn andere Option bessere zukünftige Outcome liefert
3. Subtest: Überwindung von framing fallacy
Den Wert einer Option erkennen, unabhängig von der Beschreibung/Auslegung dieser
(z.B.: 75% Erfolgsrate oder 25% Verlustrate)
4. Subtest: Konsistenz von Risikowahrnehmung
Ermitteln der relativen W'keit der Outcomes im Sinne von W'keitstheorien
(= 2 Optionen bzw. deren W'keiten sollten zusammen 100% ergeben)
5. Subtest: Erkennen sozialer Normen
Wissen darüber, wie Peers die Akzeptanz von potenziell negativem Verhalten einstufen würden
6. Subtest: Überwinden von Eigenüberschätzung (overconfidence bias)
Erkennen der Stärken, aber v.a. auch der Schwächen/Grenzen des eigenen Wissens
Halpern critical thinking assessment (HCTA)
von Halpern
- indirektes Messen rationaler mindware (zb. Wissen über objektive W'keiten oder Unterschied Krrel und Kausalität), aber rationale Denkpositionen kaum erfasst
- enthält 25 Alltagssituationen, die von VP analysiert und bewertet werden sollen (zb: Wahl eines Abnehmprogramms)
> Skalen, die gemessen werden:
- Hypothesentesten
- W'keiten und Unsicherheit
- verbales Schlussfolgern
- Argumentbewertung
- Problemlösefähigkeit von Alltagssituationen
Fazit zum Stand der Erfassung rationalen Denkens aktuell
- derzeit noch keine etablierte Testbatterie oder Erhebungsform
- verschiedene Operationalisierungen (Aufgabenkombis zu kV (CART), rationale Denkpositionen (NFC, AOT), Testbatterien zu verwandten Konstrukten (A-DMC: Messung kV, HCTA: mindware))
+ Möglichkeit algorithmic mind über Intelligenztests zu messen
- auch abhängig von Schwerpunkt und Rationalitätsdefinition