FUH SS15


Kartei Details

Karten 66
Sprache Deutsch
Kategorie Psychologie
Stufe Universität
Erstellt / Aktualisiert 29.07.2015 / 13.06.2020
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Spezifische  substantielle  Identitätsbedrohungen

Spezifische  substantielle  Identitätsbedrohungen  sind  nachhaltige  Nichtbe-
stätigungen  einzelner  Bestandteile  des  Selbstbildes  einer  Person.  Ich  fühle
mich beispielsweise zur Mathematik berufen und scheitere doch in der Schule
fortwährend daran. Aber im Unterschied zu den  beiden  anderen  Arten  von                                        Identitätsbedrohungen  handelt  es  sich  hier stets um begrenzte Probleme.

Die Identität wird nicht flächendeckend fraglich,sondern nur in bestimmten Hinsichten.  

„management of spoiled identity“

Besonders gut lassen sich spezifische substantielle Identitätsbedrohungen
und das entsprechende persönliche „management of spoiled identity“ an Per-
sonen studieren, die ein Stigma aufweisen, also eine Unnormalität, die gesell-
schaftlich  verbreitet  negativ  bewertet  wird  (Goffman  1963;  Abels  2006:  347-
364). Menschen, die irgendeine Art von Behinderung aufweisen, Alkoholiker,
Personen  mit  einer  kriminellen  Vergangenheit,  aber  auch  -  immer  noch!  -
Schwule  oder  Angehörige  „peinlicher“  Berufe  wie  Leichenbestatter  oder  Ge-
richtsvollzieher  sind  Beispiele  für  Stigmatisierung.  Dabei  kommt  es  nicht  so
sehr  darauf  an,  ob  der  Betroffene  selbst  die  negative Bewertung seines An-
dersseins durch die soziale Umwelt teilt oder nicht.

 Umgang mit der  Identitätsbedrohung

 Erst im zweiten Schritt, dem Umgang mit 
der  Identitätsbedrohung,  unterscheiden  sich  diejenigen,  die  die  Nichtbestäti-

gung durch die soziale Umwelt übernehmen, von denjenigen, die sich dage-
gen wehren. Erstere liefern sich der Identitätsbedrohung weitgehend aus und 
versuchen allenfalls, Gelegenheiten zu nutzen, in denen sie durch eine geeig-
nete  Selbstdarstellung  eine  Pseudo-Normalität  erzeugen  können.  Der  reuige 
Mörder beispielsweise, der seine Strafe verbüßt hat und wieder auf freiem Fuß 
ist, wird seine Vergangenheit zu verheimlichen suchen, also etwa in einen an-
deren Ort ziehen, um nicht durch hochkommende Erinnerungen immer wieder 
damit konfrontiert zu werden, dass er einmal etwas getan hat, was seine Iden-
tität unwiderruflich beschädigt hat. Der Schwule hingegen kann zum einen die 
Nichtbestätigungen  dieses  Identitätsbestandteils  durch  seine  Umgebung  in 
Bestätigungen umdefinieren, sich also sagen, dass diese „verklemmten Spie-
ßer“ gar nicht wissen, worüber sie urteilen. Zum anderen kann er die Gemein-
schaft Gleichgesinnter aufsuchen und dort im Kreise anderer, ebenso stigma-
tisierter Personen wechselseitig soziale Bestätigungen austauschen. 

 das  Normale 

Jeder muss damit zurechtkommen, dass bestimmte Bestandteile seiner Identi-
tät  soziale  Nichtbestätigungen  hervorrufen,  weil  er  diesbezüglich  nicht  den 
verbreiteten Normalitätsvorstellungen entspricht. Denn in jeder Gesellschaft ist 
das, was als normal gilt, nicht einfach bloß die am häufigsten vorkommende 
Ausprägung  des  betreffenden  Identitätsbestandteils.  Sondern  das  Normale 
wird als das Bessere angesehen - und zwar sowohl dann, wenn es die mehr-
heitliche  Ausprägung  des  betreffenden  Identitätsbestandteils  ist,  als  auch 
dann,  wenn  eine  herrschende  Elite,  die  selbst  nur  eine  Minderheit  darstellt, 
ihre Ausprägung des betreffenden Identitätsbestandteils als normal definiert.

 Identitätsbedrohung  als Handlungsantrieb

Gleichgültig, ob spezifische substantielle Identitätsbedrohungen aus der ei-
genen  Unnormalität  erwachsen  oder  daraus,  dass  Identitätsbestandteile,  die 
keinen  Normalitätsstandards  unterworfen  sind,  keine  soziale  Bestätigung  fin-
den:  In  beiden  Fällen  stellt  diese  Art  von  Identitätsbedrohung  einen  Hand-
lungsantrieb  dar.  Der  betreffende  Akteur  kann  sie  nicht  einfach  hinnehmen 
und gleichsam „schlucken“, sondern verspürt einen Drang, die jeweiligen eva-
luativen  oder  normativen  Selbstansprüche  gegen  deren  soziale  Nichtbestäti-
gung zu behaupten.

 Sofern die Möglichkeiten, dies durch subjektive Umdefinitionen der Nichtbestätigungen und durch einen Wechsel in eine unterstützendere  soziale  Umgebung  zu  schaffen,  ausgeschöpft  sind,  muss  der Akteur in seinem Handeln eine Art der Selbstdarstellung unterbringen, die demonstrativ auf dem jeweiligen Selbstanspruch beharrt. Er gibt seiner Umgebung sozusagen zu verstehen, dass er trotz deren Nichtbestätigung des Selbstanspruchs an diesem festhält.

 indirekte Identitätsbedrohungen durch Existenzgefährdungen

Als zweite Art von Identitätsbedrohungen sind indirekte Identitätsbedrohun-
gen durch Existenzgefährdungen des Akteurs zu nennen. Bei Personen geht 
es  hierbei  um  körperliche  Voraussetzungen  der  Identitätswahrung.  Dass  der 
Mensch über seine eigene Sterblichkeit weiß, bedeutet, dass zum einen sein 
Altern eine chronisch zunehmende Identitätsbedrohung darstellt und zum an-
deren lebensbedrohliche Krankheiten und Gefahren Erfahrungen akuter Identi-
tätsbedrohung  sind.  Allmählicher  körperlicher  Verfall  ebenso  wie  plötzliche 
körperliche  Zusammenbrüche  erinnern  die  Person  unüberhörbar  an  die  fun-
damentalste,  weil  totale  und  unabwendbare  Identitätsbedrohung  durch  den 
eigenen Tod. Hiergegen hilft letzten Endes keinerlei Praktik der Identitätsbe-
hauptung. 

Entindividualisierungserfahrungen

Die  dritte  Art  von  Identitätsbedrohungen  sind  Entindividualisierungserfah-
rungen.  Solche  Identitätsbedrohungen  können  Personen  als  individuelle  Ak-
teure erst in der modernen Gesellschaft erleben. Denn erst hier wird die Per-
son zum Individuum, nimmt ihre Identität die Form der Individualität an. 94  Indi-
vidualität  als  Identitätsform  bedeutet  zum  einen,  dass  eine  Person  in  ihrem 
Auftreten  unverwechselbar  und  dadurch  einzigartig  wirkt.  Zum  anderen  zeigt 
sich  die  Individualität  einer  Person  darin,  dass  diese  in  ihrem  Handeln  trotz 
aller  sozialen  Einflüsse  selbstbestimmt  erscheint.  Individualität  ist  also,  auf 
eine Kurzformel gebracht, selbstbestimmte Einzigartigkeit. Dies kann graduell 
erheblich  zwischen  Personen  variieren  und  beruht  zudem  in  starkem  Maße 
auch auf Fiktionen. Aber dennoch fühlt jeder moderne Mensch sich zutiefst in 
seiner  Identität  bedroht,  wenn  ihm  diese  Individualität  nicht  sozial  bestätigt 
wird, sondern er - so das geläufige Gegenbild - als „Massenmensch“ behan-
delt wird. 

„totalen Institutionen“

Psychiatrische  Anstalten,  das  Militär  oder  Klöster,  aber 
auch - abgeschwächt - zum Beispiel Internate oder Krankenhäuser sind Bei-
spiele für „totale Institutionen“. Es handelt sich dabei in der Regel um formale 
Organisationen, die die Lebensführung ihrer meist unfreiwilligen „Insassen“ in 
extremem  Maß  reglementieren  und  dadurch  uniformieren  und  fremdbestim-
men. Das äußert sich dann u. a. in minutiösen Hausordnungen, die zum Bei-
spiel auch das persönliche Erscheinungsbild vorschreiben und durch entspre-
chende Überwachungsorgane durchsetzten. Nicht zuletzt beschränken „totale 
Institutionen“  sehr  stark  das  Ausmaß  und  die  Art  der  sozialen  Beziehungen, 
die ihre „Insassen“ nach außen unterhalten können, zum Beispiel durch strikte 
Besuchszeiten  oder  das  Mithören  von  Gesprächen. Das  Bestreben  „totaler 
Institutionen“,  jedem  „Insassen“  gewissermaßen die „corporate identity“ auch 
als persönliche Identität aufzuprägen, muss zwangsläufig rigoros entindividua-
lisieren. Aber auch außerhalb „totaler Institutionen“ findet Entindividualisierung 
statt - ganz alltäglich etwa immer dann, wenn man sich irgendwo in eine War-
teschlange einreihen muss, oder zum Beispiel, wenn man in einer überfüllten 
Lehrveranstaltung nur eine unter vielen ist.

Sozialstrukturelle Auslöser von Identitätsbedrohungen 

Fragt  man  bezüglich  der  dargestellten  Arten  von  Identitätsbedrohungen,  auf 
welche  sozialstrukturellen  Faktoren  von  Handlungssituationen  des  betreffen-
den Akteurs sie zurückgehen, lässt sich dies stichwortartig wie folgt umreißen:  
•   Für Entindividualisierungserfahrungen kann man zumeist Rollenzwänge als 
Ursprung  ausmachen.  Der  Homo  Sociologicus  darf  kein  Individuum  sein, 
weil er Bezugsgruppenerwartungen zu folgen hat, die für jeden in derselben 
Rolle die gleichen sind. Er ist also weder einzigartig noch selbstbestimmt.  
•   Spezifische  substantielle  Identitätsbedrohungen  gehen  oftmals  ebenfalls 
auf Rollenzwänge zurück. Das ist dann der Fall, wenn die Rolle es einem 
verbietet,  gemäß  den  eigenen  evaluativen  oder  normativen  Selbstansprü-
chen zu handeln. Aber auch die rationale Nutzenverfolgung oder das Aus-
agieren von Emotionen können mit bestimmten Identitätsbestandteilen kol-
lidieren.  Schließlich  kann  die  Identitätsbedrohung  auch  aus  der  persönli-
chen Identitätskonstruktion selbst heraus erwachsen, wenn die Person sich 
unrealistisch hohe, nicht zu den begrenzten eigenen Fähigkeiten oder Res-
sourcen passende evaluative oder normative Selbstansprüche setzt.  
•   Indirekte  Identitätsbedrohungen  durch  Existenzgefährdungen  haben  ihren 
Ursprung bei Personen letztlich in der Hinfälligkeit des Körpers, also einer 
außersozialen Ursache. Der Körper kann allerdings durch den Homo Socio-
logicus,  den  Homo  Oeconomicus  oder  den  „Emotional  man“  überfordert 
werden.

Sozialstrukturelle Auslöser von Identitätsbedrohungen 

Fazit

 Insgesamt  zeigt sich also, dass Identitätsbedrohungen, die Identitätsbehaup-
tung als Handlungsantrieb auslösen, außer auf körperlichen Verfall und unrea-
listische Selbstansprüche vor allem auf Auswirkungen der drei anderen Hand-
lungsantriebe  zurückgehen.  So  gesehen  ist  der Identitätsbehaupter nicht zu-
letzt ein Akteurmodell, das Phänomene zu erklären hilft, die der Homo Socio-
logicus, der Homo Oeconomicus und der „Emotional man“ hervorbringen. 

Praktiken der Identitätsbehauptung 

Bereits mehrfach erwähnt wurden Praktiken der Umdefinition von sozialen 
Nichtbestätigungen der eigenen Identität sowie des Wechsels und der Plurali-
sierung  der  sozialen  Umgebung,  um  mehr  soziale  Bestätigung  zu  erhalten. 
Beide Praktiken sind bei jeder Art von Identitätsbedrohung einsetzbar. Selbst 
diejenige Identitätsbedrohung, die aus der Diagnose einer lebensbedrohlichen 
Erkrankung resultiert, kann man unter Umständen dadurch mildern, dass man 
zu  einem  Arzt  wechselt,  der  einem  noch  größere  Überlebenshoffnungen macht.

 Die  Umdefinitionen  von  sozialen  Nichtbestätigungen

 Die  Umdefinitionen  von  sozialen  Nichtbestätigungen  erfordern  aller-
dings  kein  identitätsbehauptendes  Handeln,  zeichnen  sich  gegenüber  den 
anderen  Praktiken  der  Identitätsbehauptung  also  gerade  dadurch  aus,  dass 
das  Handeln  weiterhin  anderen  Antrieben  folgt.

 Identitätsbehauptung  durch Umgebungswechsel

 Identitätsbehauptung  durch 
Umgebungswechsel  ist  hingegen  ein  Handlungsantrieb,  der  manchmal  an-
sonsten unerklärliche, weil zum Beispiel rationaler Nutzenverfolgung zuwider-
laufende  Handlungsweisen  einer  Person  begreiflich  macht.  Kann  man  die 
nicht-bestätigende soziale Umgebung nicht oder nur unter hohen Kosten ver-
lassen, bietet sich oft die Möglichkeit, deren Einfluss auf die eigenen Identität 
zumindest dadurch zu relativieren, dass man sich gezielt zusätzlich in andere 
Umgebungen begibt, wo man die betreffenden Identitätsbestandteile bestätigt 
bekommt.  Der  Akteur  setzt  gewissermaßen  Kontrapunkte.  So mag sich zum 
Beispiel  ein  Professor,  der  unter  seinen  Kollegen  kein  hohes  wissenschaftli-
ches Ansehen genießt, durch besondere Anstrengungen in der Lehre darum 
bemühen, von Seiten seiner Studenten eine entsprechende Anerkennung zu 
erhalten. 

Je mehr ihm das im Übrigen gelingt, desto mehr kann er sich mögli-
cherweise auch eine Umdefinition der Haltung seiner Kollegen als Neid sub-
jektiv  plausibel  machen.  Hier  zeigt  sich,  dass  die  verschiedenen  Arten  von 
Praktiken der Identitätsbehauptung einander wechselseitig stützen können.  

 Identitätsbedrohung  aus  manifesten  Existenzgefährdungen

Behauptung

Rührt  die  Identitätsbedrohung  aus  manifesten  Existenzgefährdungen  des 
Akteurs her, werden ebenfalls oftmals Praktiken verstärkter Anstrengung ein-
gesetzt, um mit der eigenen Existenz auch die eigene Identität zu behaupten - 
siehe  den  Kranken,  der  sich  plötzlich  gesundheitsbewusst  zu  ernähren  ver-
sucht. Natürlich ist Existenzsicherung immer auch eine Leitlinie rationaler Inte-
ressenverfolgung. Aber zugleich wird damit die Identität des betreffenden Ak-
teurs  gegenüber  ihrer  radikalsten  Bedrohung  behauptet. 

substantielle  Identitätsbedrohungen  als  „Emotional man“

Wenn  spezifische  substantielle  Identitätsbedrohungen  daraus  erwachsen, 
dass der Akteur als „Emotional man“ von momentanen oder dauerhaften Ge-
fühlen übermannt wird, die bestimmten evaluativen oder normativen Selbstan-
sprüchen zuwider laufen, sind Maßnahmen zur Affektkontrolle geeignete Prak-
tiken der Identitätsbehauptung. Dies ist auch als eine weitere Form des „con-
strained  emotional man“ zu fassen. Zum Beispiel muss jemand, der sich als 
Polizist  mit  seinem  Beruf  identifiziert  und  darin  einen  wichtigen  Bestandteil 
seiner  Identität  sieht,  es  als  Identitätsbedrohung  empfinden,  wenn  er  sich  in 
beruflichen Gefahrensituationen immer wieder als „Angsthase“ erweist - selbst 
wenn  dies  niemand  anders  als  er  selbst  bemerkt. 

Behauptung gegen spezifische  substantielle  Identitätsbedrohungen  oder  Entindividualisierungserfahrungen  die auf  Rollenzwänge zurückgehen

Wenn  spezifische  substantielle  Identitätsbedrohungen  oder  Entindividuali-
sierungserfahrungen  auf  Rollenzwänge  zurückgehen,  gibt  es  ein  reiches  Ar-
senal  an  Praktiken  der  Identitätsbehauptung  durch  Rolleninszenierung,  Rol-
lendistanz und Rollendevianz. Diese Arten von Praktiken sind insbesondere 
in  der  interaktionistischen  Auseinandersetzung  mit  der  strukturfunktionalisti-
schen Rollentheorie immer wieder angesprochen worden, so dass hierzu viel 
empirisches Material vorliegt. 

Rolleninszenierung

Die Rolleninszenierung ist die Selbstdarstellung einer Person in der Rolle. 
Dabei werden Freiräume genutzt, die viele Rollen für solche Selbstdarstellun-
gen des Rollenträgers lassen, die mit den Rollenerwartungen kompatibel sind, 
aber  von  ihnen  differieren.  Wenn  sich  zum  Beispiel  ein  Verwaltungsbeamter 
im Kontakt mit Klientinnen als Frauenheld aufzuspielen versucht, bringt er ei-
nen  evaluativen  Selbstanspruch  -  der  ihm  vielleicht  von  seiner  Ehefrau nicht 
bestätigt wird - ins Spiel, den die Rolle nicht vorsieht, aber innerhalb gewisser Grenzen auch nicht explizit verbietet. 

 In vielen Arbeitsrollen, in denen die be-
treffenden  Personen  durch  wenig  anspruchsvolle  und  monotone  Tätigkeiten 
die Erfahrung machen, nur ein völlig austauschbares „Rädchen im Getriebe“ 
zu sein, bestehen dennoch Möglichkeiten, eine individualistische Identität da-
durch zu behaupten, dass man eine „persönliche Note“ hineinbringt - wie etwa 
eine  besonders  freundliche  Kellnerin,  der  man  anmerkt,  dass  dies  nicht  ge-
schäftsmäßig aufgesetzt ist, sondern „von Herzen“ kommt. 

Rollendistanz  als Selbstdarstellung neben der Rolle

Andere  Praktiken  der  Identitätsbehauptung  laufen  auf  Rollendistanz  als 
Selbstdarstellung neben der Rolle hinaus. Rollendistanz ist eine relativieren-
de  Kommentierung  der  eigenen  Rollendarstellung,  was  mehr  oder  weniger 
eindeutig und offen, aber auch verdeckt und implizit geschehen kann. Die Ab-
sicht ist jedenfalls stets, seiner Umgebung zu signalisieren, dass man „persön-
lich“ nicht in vollem Maße oder überhaupt nicht hinter der eigenen Rollendar-
stellung  steht.  Ironie  ist  eine  der  Ausdrucksformen  von  Rollendistanz;  eine 
andere  besteht  darin,  dass  ein  Rolleninhaber  übermäßig  und  demonstrativ 

Nebenbeschäftigungen  nachgeht,  wodurch  er  ausdrückt,  dass  für  ihn  die  ei-
gentliche Rollendarstellung nur noch eine lästige Pflichtübung ist. In Arbeitsrol-
len muss man beispielsweise aufgrund der eigenen Machtunterworfenheit viele 
Dinge  tun,  die  mit  dem  eigenen  Selbstbild  nicht  übereinstimmen  und  zudem 
auch als Fremdbestimmtheit erlebt werden. Oft drückt man dann Rollendistanz 
mit der expliziten Differenzierung „persönlich/dienstlich“ aus. 

Rollendevianz

Wenn  weder  die  Rolleninszenierung  noch  die  Rollendistanz  dem  Akteur 
genügend Möglichkeiten zur Identitätsbehauptung bietet, muss er noch einen 
Schritt weiter zur Rollendevianz als Selbstdarstellung gegen die Rolle überge-
hen. 99  Der Akteur fällt aus der Rolle - ohne dass er sich jedoch einem weiteren 
Verbleib  in  der  entsprechenden  Position  zwangsläufig  verweigern  muss.  So-
lange  die  Rollendevianz  nur  gelegentlich,  nur  hinsichtlich  mancher  und  viel-
leicht weniger wichtiger Rollenerwartungen und nur gegenüber manchen, vor-
zugsweise  wenig  sanktionsfähigen  Bezugsgruppen  ausgeübt  wird,  kann  die 
Identitätsbehauptung  durchaus  mit  einem  weiteren  Festhalten  an  der  Rolle 
einhergehen. Identität und Rolle stehen einander dann zwar sozusagen feind-
lich gegenüber; aber die partielle Devianz wird als Preis der ansonsten geleis-
teten  Rollenkonformität  hingenommen.

Ausstieg aus der Rolle

Manchmal hilft es dem Akteur aber erst, wenn er die identitätsbedrohende 
Rolle ganz hinter sich lässt, also demonstrativ „aussteigt“, wie es zum Beispiel 
immer wieder Wissenschaftler getan haben, die ihre Forschungsarbeiten nicht 
mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten. Der Ausstieg aus der Rolle ist - au-
ßer bei zwangsweise auferlegten Rollen - stets als letzte Möglichkeit vorhan-
den, mit Identitätsbedrohungen fertig zu werden, die aus den Rollenpflichten 
herrühren. Wiederum gilt: In dem Maße, in dem ein Akteur als Rolleninhaber 
unersetzbar  ist,  kann  er  mit  dem  Ausstieg  drohen  und  dadurch  bestimmte 
Identitätsbedrohungen  von  vornherein  abwehren.  So  vermag  ein  gesuchter 
wissenschaftlicher Experte für bestimmte Forschungsthemen vielleicht durch-
zusetzen, dass seine Ergebnisse nicht militärisch genutzt werden.  

überindividuelle Akteure als Identitätsbehaupter 

Die  bisher  für  Personen  als  individuelle  Akteure  beschriebene  Sachverhalte 
lassen  sich  größtenteils  auch  auf  überindividuelle  Akteure  übertragen.  Auch 
Organisationen  wie  Unternehmen,  Verbände  und  Parteien,  oder  soziale  Be-
wegungen können nicht identitätslos existieren. 

Für formale Organisationen spricht man von deren „corporate identity“  oder  auch  „Organisationskultur“ 

Identitätskrise bei überindividuellen Akteuren

Kein  Interessenverband  beschränkt  sich  darauf,  lapidar 
die  von  ihm  aktuell  verfolgten  spezifischen  Interessen  aufzulisten.  Dies  wird 
vielmehr  in  einen  überwölbenden  Begründungszusammenhang  gefügt,  der 
den Kern der Identität dieses überindividuellen Akteurs ausmacht. Und wenn 
ein solcher substantieller Begründungszusammenhang ausdünnt, der Interes-
senverband  nicht  länger  zu sagen vermag, wofür und wogegen er eigentlich 
steht,  gerät  er  in  eine  ebensolche  Identitätskrise,  wie  sie  auch  Personen 
durchmachen  können.  Ein  Beispiel,  an  dem  das  in  den  letzten  Jahrzehnten 
vielfach diskutiert worden ist, ist der Wandel der alten „Weltanschauungs-“ zu 
den heutigen „Allerweltsparteien“.

formal organisierte soziale Bewegungen oder ethnische Gruppierungen

Gleiches ließe sich auch für nicht formal organisierte soziale Bewegungen 
oder ethnische Gruppierungen aufzeigen. Sie benötigen, damit die involvierten 
individuellen  Akteure  ein  abgestimmtes  gemeinsames  Handeln  realisieren 
können,  eine  kollektive  Identität.  Deren  Stellenwert  ist  sogar  noch  höher  als 
der der „corporate identity“ für formale Organisationen, da letztere zur Hand-
lungsabstimmung  ihrer  Mitglieder  primär  ihre  institutionalisierten  normativen 
Erwartungsstrukturen  einsetzen. 

 

die kollektiven Identitäten ethnischer oder regional umschriebener Gruppen

Noch diffuser fallen oftmals die kollektiven Identitäten ethnischer oder regi-
onal umschriebener Gruppen aus. Was zum Beispiel die Identität der Schotten 
gegenüber  den  Engländern  ausmacht,  läuft  auf  eine  heterogene  und  wenig 
kohärente  Liste  von  Merkmalen  des  Lebensstils  hinaus  und  ist  wohl  letztlich 
nicht  mehr  als  ein  kultureller  „Überbau“,  hinter  dem  handfeste  Interessenge-
gensätze stehen. Unter dem Vorwand der Identitätsbehauptung agiert also in 
solchen Auseinandersetzungen oftmals niemand anders als der Homo Oeco-
nomicus - was es natürlich auch bei individuellen Akteuren geben kann. 

 Identitätsbedrohung für überindividuelle Akteure

Die maßgebliche Art der Identitätsbedrohung, die auch für überindividuelle 
Akteure  in  Betracht  kommt  und  bei  ihnen  verstärkt  identitätsbehauptendes 
Handeln  auslöst,  ist  die  indirekte  Identitätsbedrohung  durch  Existenzgefähr-
dung. Was für Personen der Tod ist, gibt es in analoger Form auch bei überin-
dividuellen Akteuren: als Zerfall, Zerschlagung, Auflösung, Konkurs und Ähnli-
ches. Die Identitätsbedrohung beruht dabei zum einen auf ungünstigen Kon-
stellationen, wie im Falle von Unternehmen vor allem auf einer zu harten Kon-
kurrenz am Markt und entsprechend bis aufs Messer ausgetragenen Konflik-
ten  zwischen  den  Konkurrenten.  Gleiches  gilt  für  die  politische  Partei,  die 
durch eine dramatische öffentliche Kampagne um ihren Verbleib im Parlament 
bei  anstehenden  Wahlen  kämpft,  woran  ihr  Fortbestehen  insgesamt  hängt. 
Zum anderen altern und durchlaufen auch überindividuelle Akteure vom Zeit-
punkt ihrer Entstehung an durchaus ähnliche Entwicklungsphasen wie Perso-
nen. des  Und-so-weiter  der  Existenz  des  betreffenden  Akteurs.Auf  solche  Nie-
dergangstendenzen müssen soziale Bewegungen und formale Organisationen 
ebenso  reagieren  wie Personen auf lebensbedrohliche Ereignisse, weil eben 
die  Wahrung  der  jeweiligen  eigenen  Identität  an  die  Fortexistenz  als  Akteur 
gebunden ist. 

Zusammenfassung und Vorschau 

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