FUH SS15
Kartei Details
Karten | 66 |
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Sprache | Deutsch |
Kategorie | Psychologie |
Stufe | Universität |
Erstellt / Aktualisiert | 29.07.2015 / 13.06.2020 |
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Spezifische substantielle Identitätsbedrohungen
Spezifische substantielle Identitätsbedrohungen sind nachhaltige Nichtbe-
stätigungen einzelner Bestandteile des Selbstbildes einer Person. Ich fühle
mich beispielsweise zur Mathematik berufen und scheitere doch in der Schule
fortwährend daran. Aber im Unterschied zu den beiden anderen Arten von Identitätsbedrohungen handelt es sich hier stets um begrenzte Probleme.
Die Identität wird nicht flächendeckend fraglich,sondern nur in bestimmten Hinsichten.
„management of spoiled identity“
Besonders gut lassen sich spezifische substantielle Identitätsbedrohungen
und das entsprechende persönliche „management of spoiled identity“ an Per-
sonen studieren, die ein Stigma aufweisen, also eine Unnormalität, die gesell-
schaftlich verbreitet negativ bewertet wird (Goffman 1963; Abels 2006: 347-
364). Menschen, die irgendeine Art von Behinderung aufweisen, Alkoholiker,
Personen mit einer kriminellen Vergangenheit, aber auch - immer noch! -
Schwule oder Angehörige „peinlicher“ Berufe wie Leichenbestatter oder Ge-
richtsvollzieher sind Beispiele für Stigmatisierung. Dabei kommt es nicht so
sehr darauf an, ob der Betroffene selbst die negative Bewertung seines An-
dersseins durch die soziale Umwelt teilt oder nicht.
Umgang mit der Identitätsbedrohung
Erst im zweiten Schritt, dem Umgang mit
der Identitätsbedrohung, unterscheiden sich diejenigen, die die Nichtbestäti-
gung durch die soziale Umwelt übernehmen, von denjenigen, die sich dage-
gen wehren. Erstere liefern sich der Identitätsbedrohung weitgehend aus und
versuchen allenfalls, Gelegenheiten zu nutzen, in denen sie durch eine geeig-
nete Selbstdarstellung eine Pseudo-Normalität erzeugen können. Der reuige
Mörder beispielsweise, der seine Strafe verbüßt hat und wieder auf freiem Fuß
ist, wird seine Vergangenheit zu verheimlichen suchen, also etwa in einen an-
deren Ort ziehen, um nicht durch hochkommende Erinnerungen immer wieder
damit konfrontiert zu werden, dass er einmal etwas getan hat, was seine Iden-
tität unwiderruflich beschädigt hat. Der Schwule hingegen kann zum einen die
Nichtbestätigungen dieses Identitätsbestandteils durch seine Umgebung in
Bestätigungen umdefinieren, sich also sagen, dass diese „verklemmten Spie-
ßer“ gar nicht wissen, worüber sie urteilen. Zum anderen kann er die Gemein-
schaft Gleichgesinnter aufsuchen und dort im Kreise anderer, ebenso stigma-
tisierter Personen wechselseitig soziale Bestätigungen austauschen.
das Normale
Jeder muss damit zurechtkommen, dass bestimmte Bestandteile seiner Identi-
tät soziale Nichtbestätigungen hervorrufen, weil er diesbezüglich nicht den
verbreiteten Normalitätsvorstellungen entspricht. Denn in jeder Gesellschaft ist
das, was als normal gilt, nicht einfach bloß die am häufigsten vorkommende
Ausprägung des betreffenden Identitätsbestandteils. Sondern das Normale
wird als das Bessere angesehen - und zwar sowohl dann, wenn es die mehr-
heitliche Ausprägung des betreffenden Identitätsbestandteils ist, als auch
dann, wenn eine herrschende Elite, die selbst nur eine Minderheit darstellt,
ihre Ausprägung des betreffenden Identitätsbestandteils als normal definiert.
Identitätsbedrohung als Handlungsantrieb
Gleichgültig, ob spezifische substantielle Identitätsbedrohungen aus der ei-
genen Unnormalität erwachsen oder daraus, dass Identitätsbestandteile, die
keinen Normalitätsstandards unterworfen sind, keine soziale Bestätigung fin-
den: In beiden Fällen stellt diese Art von Identitätsbedrohung einen Hand-
lungsantrieb dar. Der betreffende Akteur kann sie nicht einfach hinnehmen
und gleichsam „schlucken“, sondern verspürt einen Drang, die jeweiligen eva-
luativen oder normativen Selbstansprüche gegen deren soziale Nichtbestäti-
gung zu behaupten.
Sofern die Möglichkeiten, dies durch subjektive Umdefinitionen der Nichtbestätigungen und durch einen Wechsel in eine unterstützendere soziale Umgebung zu schaffen, ausgeschöpft sind, muss der Akteur in seinem Handeln eine Art der Selbstdarstellung unterbringen, die demonstrativ auf dem jeweiligen Selbstanspruch beharrt. Er gibt seiner Umgebung sozusagen zu verstehen, dass er trotz deren Nichtbestätigung des Selbstanspruchs an diesem festhält.
indirekte Identitätsbedrohungen durch Existenzgefährdungen
Als zweite Art von Identitätsbedrohungen sind indirekte Identitätsbedrohun-
gen durch Existenzgefährdungen des Akteurs zu nennen. Bei Personen geht
es hierbei um körperliche Voraussetzungen der Identitätswahrung. Dass der
Mensch über seine eigene Sterblichkeit weiß, bedeutet, dass zum einen sein
Altern eine chronisch zunehmende Identitätsbedrohung darstellt und zum an-
deren lebensbedrohliche Krankheiten und Gefahren Erfahrungen akuter Identi-
tätsbedrohung sind. Allmählicher körperlicher Verfall ebenso wie plötzliche
körperliche Zusammenbrüche erinnern die Person unüberhörbar an die fun-
damentalste, weil totale und unabwendbare Identitätsbedrohung durch den
eigenen Tod. Hiergegen hilft letzten Endes keinerlei Praktik der Identitätsbe-
hauptung.
Entindividualisierungserfahrungen
Die dritte Art von Identitätsbedrohungen sind Entindividualisierungserfah-
rungen. Solche Identitätsbedrohungen können Personen als individuelle Ak-
teure erst in der modernen Gesellschaft erleben. Denn erst hier wird die Per-
son zum Individuum, nimmt ihre Identität die Form der Individualität an. 94 Indi-
vidualität als Identitätsform bedeutet zum einen, dass eine Person in ihrem
Auftreten unverwechselbar und dadurch einzigartig wirkt. Zum anderen zeigt
sich die Individualität einer Person darin, dass diese in ihrem Handeln trotz
aller sozialen Einflüsse selbstbestimmt erscheint. Individualität ist also, auf
eine Kurzformel gebracht, selbstbestimmte Einzigartigkeit. Dies kann graduell
erheblich zwischen Personen variieren und beruht zudem in starkem Maße
auch auf Fiktionen. Aber dennoch fühlt jeder moderne Mensch sich zutiefst in
seiner Identität bedroht, wenn ihm diese Individualität nicht sozial bestätigt
wird, sondern er - so das geläufige Gegenbild - als „Massenmensch“ behan-
delt wird.
„totalen Institutionen“
Psychiatrische Anstalten, das Militär oder Klöster, aber
auch - abgeschwächt - zum Beispiel Internate oder Krankenhäuser sind Bei-
spiele für „totale Institutionen“. Es handelt sich dabei in der Regel um formale
Organisationen, die die Lebensführung ihrer meist unfreiwilligen „Insassen“ in
extremem Maß reglementieren und dadurch uniformieren und fremdbestim-
men. Das äußert sich dann u. a. in minutiösen Hausordnungen, die zum Bei-
spiel auch das persönliche Erscheinungsbild vorschreiben und durch entspre-
chende Überwachungsorgane durchsetzten. Nicht zuletzt beschränken „totale
Institutionen“ sehr stark das Ausmaß und die Art der sozialen Beziehungen,
die ihre „Insassen“ nach außen unterhalten können, zum Beispiel durch strikte
Besuchszeiten oder das Mithören von Gesprächen. Das Bestreben „totaler
Institutionen“, jedem „Insassen“ gewissermaßen die „corporate identity“ auch
als persönliche Identität aufzuprägen, muss zwangsläufig rigoros entindividua-
lisieren. Aber auch außerhalb „totaler Institutionen“ findet Entindividualisierung
statt - ganz alltäglich etwa immer dann, wenn man sich irgendwo in eine War-
teschlange einreihen muss, oder zum Beispiel, wenn man in einer überfüllten
Lehrveranstaltung nur eine unter vielen ist.
Sozialstrukturelle Auslöser von Identitätsbedrohungen
Fragt man bezüglich der dargestellten Arten von Identitätsbedrohungen, auf
welche sozialstrukturellen Faktoren von Handlungssituationen des betreffen-
den Akteurs sie zurückgehen, lässt sich dies stichwortartig wie folgt umreißen:
• Für Entindividualisierungserfahrungen kann man zumeist Rollenzwänge als
Ursprung ausmachen. Der Homo Sociologicus darf kein Individuum sein,
weil er Bezugsgruppenerwartungen zu folgen hat, die für jeden in derselben
Rolle die gleichen sind. Er ist also weder einzigartig noch selbstbestimmt.
• Spezifische substantielle Identitätsbedrohungen gehen oftmals ebenfalls
auf Rollenzwänge zurück. Das ist dann der Fall, wenn die Rolle es einem
verbietet, gemäß den eigenen evaluativen oder normativen Selbstansprü-
chen zu handeln. Aber auch die rationale Nutzenverfolgung oder das Aus-
agieren von Emotionen können mit bestimmten Identitätsbestandteilen kol-
lidieren. Schließlich kann die Identitätsbedrohung auch aus der persönli-
chen Identitätskonstruktion selbst heraus erwachsen, wenn die Person sich
unrealistisch hohe, nicht zu den begrenzten eigenen Fähigkeiten oder Res-
sourcen passende evaluative oder normative Selbstansprüche setzt.
• Indirekte Identitätsbedrohungen durch Existenzgefährdungen haben ihren
Ursprung bei Personen letztlich in der Hinfälligkeit des Körpers, also einer
außersozialen Ursache. Der Körper kann allerdings durch den Homo Socio-
logicus, den Homo Oeconomicus oder den „Emotional man“ überfordert
werden.
Sozialstrukturelle Auslöser von Identitätsbedrohungen
Fazit
Insgesamt zeigt sich also, dass Identitätsbedrohungen, die Identitätsbehaup-
tung als Handlungsantrieb auslösen, außer auf körperlichen Verfall und unrea-
listische Selbstansprüche vor allem auf Auswirkungen der drei anderen Hand-
lungsantriebe zurückgehen. So gesehen ist der Identitätsbehaupter nicht zu-
letzt ein Akteurmodell, das Phänomene zu erklären hilft, die der Homo Socio-
logicus, der Homo Oeconomicus und der „Emotional man“ hervorbringen.
Praktiken der Identitätsbehauptung
Bereits mehrfach erwähnt wurden Praktiken der Umdefinition von sozialen
Nichtbestätigungen der eigenen Identität sowie des Wechsels und der Plurali-
sierung der sozialen Umgebung, um mehr soziale Bestätigung zu erhalten.
Beide Praktiken sind bei jeder Art von Identitätsbedrohung einsetzbar. Selbst
diejenige Identitätsbedrohung, die aus der Diagnose einer lebensbedrohlichen
Erkrankung resultiert, kann man unter Umständen dadurch mildern, dass man
zu einem Arzt wechselt, der einem noch größere Überlebenshoffnungen macht.
Die Umdefinitionen von sozialen Nichtbestätigungen
Die Umdefinitionen von sozialen Nichtbestätigungen erfordern aller-
dings kein identitätsbehauptendes Handeln, zeichnen sich gegenüber den
anderen Praktiken der Identitätsbehauptung also gerade dadurch aus, dass
das Handeln weiterhin anderen Antrieben folgt.
Identitätsbehauptung durch Umgebungswechsel
Identitätsbehauptung durch
Umgebungswechsel ist hingegen ein Handlungsantrieb, der manchmal an-
sonsten unerklärliche, weil zum Beispiel rationaler Nutzenverfolgung zuwider-
laufende Handlungsweisen einer Person begreiflich macht. Kann man die
nicht-bestätigende soziale Umgebung nicht oder nur unter hohen Kosten ver-
lassen, bietet sich oft die Möglichkeit, deren Einfluss auf die eigenen Identität
zumindest dadurch zu relativieren, dass man sich gezielt zusätzlich in andere
Umgebungen begibt, wo man die betreffenden Identitätsbestandteile bestätigt
bekommt. Der Akteur setzt gewissermaßen Kontrapunkte. So mag sich zum
Beispiel ein Professor, der unter seinen Kollegen kein hohes wissenschaftli-
ches Ansehen genießt, durch besondere Anstrengungen in der Lehre darum
bemühen, von Seiten seiner Studenten eine entsprechende Anerkennung zu
erhalten.
Je mehr ihm das im Übrigen gelingt, desto mehr kann er sich mögli-
cherweise auch eine Umdefinition der Haltung seiner Kollegen als Neid sub-
jektiv plausibel machen. Hier zeigt sich, dass die verschiedenen Arten von
Praktiken der Identitätsbehauptung einander wechselseitig stützen können.
Identitätsbedrohung aus manifesten Existenzgefährdungen
Behauptung
Rührt die Identitätsbedrohung aus manifesten Existenzgefährdungen des
Akteurs her, werden ebenfalls oftmals Praktiken verstärkter Anstrengung ein-
gesetzt, um mit der eigenen Existenz auch die eigene Identität zu behaupten -
siehe den Kranken, der sich plötzlich gesundheitsbewusst zu ernähren ver-
sucht. Natürlich ist Existenzsicherung immer auch eine Leitlinie rationaler Inte-
ressenverfolgung. Aber zugleich wird damit die Identität des betreffenden Ak-
teurs gegenüber ihrer radikalsten Bedrohung behauptet.
substantielle Identitätsbedrohungen als „Emotional man“
Wenn spezifische substantielle Identitätsbedrohungen daraus erwachsen,
dass der Akteur als „Emotional man“ von momentanen oder dauerhaften Ge-
fühlen übermannt wird, die bestimmten evaluativen oder normativen Selbstan-
sprüchen zuwider laufen, sind Maßnahmen zur Affektkontrolle geeignete Prak-
tiken der Identitätsbehauptung. Dies ist auch als eine weitere Form des „con-
strained emotional man“ zu fassen. Zum Beispiel muss jemand, der sich als
Polizist mit seinem Beruf identifiziert und darin einen wichtigen Bestandteil
seiner Identität sieht, es als Identitätsbedrohung empfinden, wenn er sich in
beruflichen Gefahrensituationen immer wieder als „Angsthase“ erweist - selbst
wenn dies niemand anders als er selbst bemerkt.
Behauptung gegen spezifische substantielle Identitätsbedrohungen oder Entindividualisierungserfahrungen die auf Rollenzwänge zurückgehen
Wenn spezifische substantielle Identitätsbedrohungen oder Entindividuali-
sierungserfahrungen auf Rollenzwänge zurückgehen, gibt es ein reiches Ar-
senal an Praktiken der Identitätsbehauptung durch Rolleninszenierung, Rol-
lendistanz und Rollendevianz. Diese Arten von Praktiken sind insbesondere
in der interaktionistischen Auseinandersetzung mit der strukturfunktionalisti-
schen Rollentheorie immer wieder angesprochen worden, so dass hierzu viel
empirisches Material vorliegt.
Rolleninszenierung
Die Rolleninszenierung ist die Selbstdarstellung einer Person in der Rolle.
Dabei werden Freiräume genutzt, die viele Rollen für solche Selbstdarstellun-
gen des Rollenträgers lassen, die mit den Rollenerwartungen kompatibel sind,
aber von ihnen differieren. Wenn sich zum Beispiel ein Verwaltungsbeamter
im Kontakt mit Klientinnen als Frauenheld aufzuspielen versucht, bringt er ei-
nen evaluativen Selbstanspruch - der ihm vielleicht von seiner Ehefrau nicht
bestätigt wird - ins Spiel, den die Rolle nicht vorsieht, aber innerhalb gewisser Grenzen auch nicht explizit verbietet.
In vielen Arbeitsrollen, in denen die be-
treffenden Personen durch wenig anspruchsvolle und monotone Tätigkeiten
die Erfahrung machen, nur ein völlig austauschbares „Rädchen im Getriebe“
zu sein, bestehen dennoch Möglichkeiten, eine individualistische Identität da-
durch zu behaupten, dass man eine „persönliche Note“ hineinbringt - wie etwa
eine besonders freundliche Kellnerin, der man anmerkt, dass dies nicht ge-
schäftsmäßig aufgesetzt ist, sondern „von Herzen“ kommt.
Rollendistanz als Selbstdarstellung neben der Rolle
Andere Praktiken der Identitätsbehauptung laufen auf Rollendistanz als
Selbstdarstellung neben der Rolle hinaus. Rollendistanz ist eine relativieren-
de Kommentierung der eigenen Rollendarstellung, was mehr oder weniger
eindeutig und offen, aber auch verdeckt und implizit geschehen kann. Die Ab-
sicht ist jedenfalls stets, seiner Umgebung zu signalisieren, dass man „persön-
lich“ nicht in vollem Maße oder überhaupt nicht hinter der eigenen Rollendar-
stellung steht. Ironie ist eine der Ausdrucksformen von Rollendistanz; eine
andere besteht darin, dass ein Rolleninhaber übermäßig und demonstrativ
Nebenbeschäftigungen nachgeht, wodurch er ausdrückt, dass für ihn die ei-
gentliche Rollendarstellung nur noch eine lästige Pflichtübung ist. In Arbeitsrol-
len muss man beispielsweise aufgrund der eigenen Machtunterworfenheit viele
Dinge tun, die mit dem eigenen Selbstbild nicht übereinstimmen und zudem
auch als Fremdbestimmtheit erlebt werden. Oft drückt man dann Rollendistanz
mit der expliziten Differenzierung „persönlich/dienstlich“ aus.
Rollendevianz
Wenn weder die Rolleninszenierung noch die Rollendistanz dem Akteur
genügend Möglichkeiten zur Identitätsbehauptung bietet, muss er noch einen
Schritt weiter zur Rollendevianz als Selbstdarstellung gegen die Rolle überge-
hen. 99 Der Akteur fällt aus der Rolle - ohne dass er sich jedoch einem weiteren
Verbleib in der entsprechenden Position zwangsläufig verweigern muss. So-
lange die Rollendevianz nur gelegentlich, nur hinsichtlich mancher und viel-
leicht weniger wichtiger Rollenerwartungen und nur gegenüber manchen, vor-
zugsweise wenig sanktionsfähigen Bezugsgruppen ausgeübt wird, kann die
Identitätsbehauptung durchaus mit einem weiteren Festhalten an der Rolle
einhergehen. Identität und Rolle stehen einander dann zwar sozusagen feind-
lich gegenüber; aber die partielle Devianz wird als Preis der ansonsten geleis-
teten Rollenkonformität hingenommen.
Ausstieg aus der Rolle
Manchmal hilft es dem Akteur aber erst, wenn er die identitätsbedrohende
Rolle ganz hinter sich lässt, also demonstrativ „aussteigt“, wie es zum Beispiel
immer wieder Wissenschaftler getan haben, die ihre Forschungsarbeiten nicht
mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten. Der Ausstieg aus der Rolle ist - au-
ßer bei zwangsweise auferlegten Rollen - stets als letzte Möglichkeit vorhan-
den, mit Identitätsbedrohungen fertig zu werden, die aus den Rollenpflichten
herrühren. Wiederum gilt: In dem Maße, in dem ein Akteur als Rolleninhaber
unersetzbar ist, kann er mit dem Ausstieg drohen und dadurch bestimmte
Identitätsbedrohungen von vornherein abwehren. So vermag ein gesuchter
wissenschaftlicher Experte für bestimmte Forschungsthemen vielleicht durch-
zusetzen, dass seine Ergebnisse nicht militärisch genutzt werden.
überindividuelle Akteure als Identitätsbehaupter
Die bisher für Personen als individuelle Akteure beschriebene Sachverhalte
lassen sich größtenteils auch auf überindividuelle Akteure übertragen. Auch
Organisationen wie Unternehmen, Verbände und Parteien, oder soziale Be-
wegungen können nicht identitätslos existieren.
Für formale Organisationen spricht man von deren „corporate identity“ oder auch „Organisationskultur“
Identitätskrise bei überindividuellen Akteuren
Kein Interessenverband beschränkt sich darauf, lapidar
die von ihm aktuell verfolgten spezifischen Interessen aufzulisten. Dies wird
vielmehr in einen überwölbenden Begründungszusammenhang gefügt, der
den Kern der Identität dieses überindividuellen Akteurs ausmacht. Und wenn
ein solcher substantieller Begründungszusammenhang ausdünnt, der Interes-
senverband nicht länger zu sagen vermag, wofür und wogegen er eigentlich
steht, gerät er in eine ebensolche Identitätskrise, wie sie auch Personen
durchmachen können. Ein Beispiel, an dem das in den letzten Jahrzehnten
vielfach diskutiert worden ist, ist der Wandel der alten „Weltanschauungs-“ zu
den heutigen „Allerweltsparteien“.
formal organisierte soziale Bewegungen oder ethnische Gruppierungen
Gleiches ließe sich auch für nicht formal organisierte soziale Bewegungen
oder ethnische Gruppierungen aufzeigen. Sie benötigen, damit die involvierten
individuellen Akteure ein abgestimmtes gemeinsames Handeln realisieren
können, eine kollektive Identität. Deren Stellenwert ist sogar noch höher als
der der „corporate identity“ für formale Organisationen, da letztere zur Hand-
lungsabstimmung ihrer Mitglieder primär ihre institutionalisierten normativen
Erwartungsstrukturen einsetzen.
die kollektiven Identitäten ethnischer oder regional umschriebener Gruppen
Noch diffuser fallen oftmals die kollektiven Identitäten ethnischer oder regi-
onal umschriebener Gruppen aus. Was zum Beispiel die Identität der Schotten
gegenüber den Engländern ausmacht, läuft auf eine heterogene und wenig
kohärente Liste von Merkmalen des Lebensstils hinaus und ist wohl letztlich
nicht mehr als ein kultureller „Überbau“, hinter dem handfeste Interessenge-
gensätze stehen. Unter dem Vorwand der Identitätsbehauptung agiert also in
solchen Auseinandersetzungen oftmals niemand anders als der Homo Oeco-
nomicus - was es natürlich auch bei individuellen Akteuren geben kann.
Identitätsbedrohung für überindividuelle Akteure
Die maßgebliche Art der Identitätsbedrohung, die auch für überindividuelle
Akteure in Betracht kommt und bei ihnen verstärkt identitätsbehauptendes
Handeln auslöst, ist die indirekte Identitätsbedrohung durch Existenzgefähr-
dung. Was für Personen der Tod ist, gibt es in analoger Form auch bei überin-
dividuellen Akteuren: als Zerfall, Zerschlagung, Auflösung, Konkurs und Ähnli-
ches. Die Identitätsbedrohung beruht dabei zum einen auf ungünstigen Kon-
stellationen, wie im Falle von Unternehmen vor allem auf einer zu harten Kon-
kurrenz am Markt und entsprechend bis aufs Messer ausgetragenen Konflik-
ten zwischen den Konkurrenten. Gleiches gilt für die politische Partei, die
durch eine dramatische öffentliche Kampagne um ihren Verbleib im Parlament
bei anstehenden Wahlen kämpft, woran ihr Fortbestehen insgesamt hängt.
Zum anderen altern und durchlaufen auch überindividuelle Akteure vom Zeit-
punkt ihrer Entstehung an durchaus ähnliche Entwicklungsphasen wie Perso-
nen. des Und-so-weiter der Existenz des betreffenden Akteurs.Auf solche Nie-
dergangstendenzen müssen soziale Bewegungen und formale Organisationen
ebenso reagieren wie Personen auf lebensbedrohliche Ereignisse, weil eben
die Wahrung der jeweiligen eigenen Identität an die Fortexistenz als Akteur
gebunden ist.