FUH SS15
Kartei Details
Karten | 66 |
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Sprache | Deutsch |
Kategorie | Psychologie |
Stufe | Universität |
Erstellt / Aktualisiert | 29.07.2015 / 13.06.2020 |
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Der „Emotional man“
Der „Emotional man“ ist ein Akteurmodell, das soziales
Handeln als auf emotionalen Antrieben beruhende Handlungswahlen erfasst.
Dieser Akteur verarbeitet seine Handlungssituationen in der Weise, dass sein
Handeln von solchen strukturellen Determinanten der Situation bestimmt wird,
die Emotionen auslösen; und sein Bestreben besteht insofern im Ausleben
dieser Emotionen, wodurch die Strukturen in der sozialen Situation ertragen
und damit erhalten oder auch verändert werden sollen. So erwächst zum Bei-
spiel Neid aus sozialen Verteilungsstrukturen, die von Schlechtergestellten als
ungerechtfertigt erlebt werden; und durch diesen Neid angetriebenes Handeln
von Akteuren kann sich dann in vielerlei Weisen auf die Veränderung dieser
Verteilungsstrukturen richten.
Emotionen zwischen Handeln und Verhalten
In einem urplötzlichen Wutausbruch oder sponta-
ner sexueller Lust brechen sich körperliche Reaktionen vor aller sinnhaften
Deutung ihre Bahn und überwältigen die Person oftmals im wahrsten Sinne
des Wortes. Aber selbst diese emotionalen Reaktionsmuster sind sozial ge-
prägt, also in intersubjektiv geteilte Sinnmuster eingebettet.
Modi der Weltaneignung: Instinkte, Kognitionen, Emotionen
Instinkte, Kognitionen und Emotionen sind die drei grundlegenden menschlichen
„Modi der Weltaneignung“ (Gerhards 1988: 72). Alle drei dienen dem Men-
schen dazu, in der Welt, in die er durch seine Geburt hineingeworfen wird,
zurechtzukommen.
Instinkte konstituieren eine gleichsam automatische, biologisch festgelegte
und entsprechend eindeutig vorgeprägte Reaktion auf einen bestimmten
Schlüsselreiz. Es werden Punkt-für-Punkt-Entsprechungen zwischen Umwelt-
beschaffenheit und Verhalten eines Lebewesens hergestellt: Wenn ein Angrei-
fer erscheint, sträuben sich dem Hund die Nackenhaare. Diese Alternativlosig-
keit instinktgeleiteter Reaktionen wird aufgebrochen, sobald Kognitionen oder
Emotionen ins Spiel kommen.
Unterschied Emotion und Kognition
Was diese beiden „Modi der Weltaneignung“
von Instinkten unterscheidet, ist die Unterbrechung der starren Reiz-
Reaktions-Sequenzen. Denn sowohl bei Kognitionen als auch bei Emotionen
findet eine auf Wahrnehmung gegründete Informationsverarbeitung statt. Al-
lerdings unterscheidet sich die Art der Informationsverarbeitung bei beiden
wiederum grundlegend. Kognitionen beruhen auf sequentieller Informations-
verarbeitung. Sie nehmen Schritt für Schritt die verschiedenen Elemente auf,
aus denen sich die Handlungssituation zusammensetzt, sortieren und ver-
knüpfen die Elemente unter anderem mit Hilfe kausaler Schemata, und leiten
dann daraus durch logische Schlüsse ein situationsangemessenes Handeln
ab. Diese Vorgänge sind für rationale Nutzenverfolgung ganz offensichtlich,
finden aber auch bei Normkonformität statt. Normkonformes Handeln setzt ja
voraus, dass Bezugsgruppen identifiziert und deren spezifische Erwartungen
ausfindig gemacht, nicht selten auch konfligierende Erwartungen gegeneinan-
der abgewogen werden müssen, bis der Handelnde weiß, was er zu tun hat.
Emotionen beruhen demgegenüber auf simultaner Informationsverarbei-
tung. In dem Maße, wie ein Handelnder gefühlsbestimmt agiert, schnurren die
Abfolgen von Wahrnehmungs- und Denkschritten gleichsam in einem einzigen
Bild zusammen, ohne dass aber der Kurzschluss rein instinktiven Verhaltens
auftritt. Emotionen versorgen den Akteur mit einem gestalthaften Bild der Situ-
ation, aus dem sich dann die Handlungswahl ergibt. Kognitionen stellen dem-
gegenüber eine Serie von Bildern dar, die sich auseinander herleiten, bis sie
ins Handeln münden. Als „Modus der Weltaneignung“ sind Emotionen somit
eine ganzheitliche Informationsverarbeitung.
beziehungsorientierte Emotionen
Als Antriebe sozialen Handelns kommen vor allem solche Emotionen in Be-
tracht, die in und durch soziale Beziehungen zustande kommen und die sich
auf Inhalte und Formen sozialer Beziehungen richten. 75 Zu solchen bezie-
hungsorientierten Emotionen gehören beispielsweise Liebe oder Mitgefühl
oder Bewunderung. Sie sind Beispiele dafür, wie die Beziehung zu einem an-
deren Akteur emotional positiv getönt sein kann. Daneben stehen natürlich
zum Beispiel Neid, Hass, Verachtung oder Schadenfreude als negativ getönte
emotionale Bestimmungen sozialer Beziehungen. Quer zu diesem Kontinuum
verschiedener Ausprägungen von Sympathie und Antipathie steht das Konti-
nuum von Verlust und Gewinn als emotional bewertetem Handlungsresultat.
Mittels dieser beiden Dimensionen ließen sich vier Gruppen von beziehungs-
orientierten Emotionen unterscheiden.
Erwartungsenttäuschungen
Ohne dass die soziologische Betrachtung der Emotionen bislang eine um-
fassende Antwort auf die Frage nach den sozialen Auslösefaktoren emotiona-
ler Handlungsantriebe gegeben hat, lassen sich zumindest drei Teilantworten:
Emotionale Handlungsantriebe werden durch massive, insbesondere plötzlich gewahr werdende Erwartungsenttäuschungen ausgelöst.
Der zweite Auslösefaktor emotionalen Handelns ergibt sich daraus, dass
auch Emotionen der Routinisierung unterliegen können.
Ein dritter Auslösefaktor emotionalen sozialen Handelns können inszenierte Emotionen sein.
Emotionale Handlungsantriebe werden durch massive, insbesondere plötzlich gewahr werdende Erwartungsenttäuschungen ausgelöst
Es kann sich dabei um normative Erwartungen handeln
- wenn zum Beispiel das Gegenüber seine Pflicht nicht erfüllt und man darüber
wütend wird, oder wenn man Scham darüber empfindet, dem anderen gegen-
über selbst bestimmten Normen nicht gerecht geworden zu sein. Aber auch
die Enttäuschung evaluativer Erwartungen, also etwa das Scheitern bestimm-
ter Hoffnungen und Wünsche an den anderen, können emotionale Reaktionen
wie beispielsweise Trauer und Verzweiflung hervorrufen. Oder kognitive Er-
wartungen bleiben unerfüllt, die Dinge entwickeln sich ganz anders als vorge-
sehen, und man reagiert mit Gefühlen der Nervosität oder Angst.
Dass Erwartungsenttäuschungen, je größer die Diskrepanz zwischen dem
erwarteten und dem tatsächlichen Geschehen ist, Emotionen auslösen und
das Handeln aus der Fixierung auf Normkonformität bzw. rationale Nutzenver-
folgung herausbrechen, erklärt sich aus der geschilderten Beschaffenheit die-
ses „Modus der Weltaneignung“. Der Homo Sociologicus und der Homo Oe-
conomicus operieren beide auf der Basis von Kognitionen, also sequentieller
Informationsverarbeitung. Genau dieser zeitaufwendige „Modus der Weltan-
eignung“ wird aber durch massive Erwartungsenttäuschungen, vor allem wenn
sie abrupt eintreten, tief greifend gestört.
Routinisierung von Emotionen
Routinisierung vermag nicht zu erklären, warum irgendwann einmal ein bestimmtes emotionales
Handeln begonnen hat. Aber falls sich dieses Handeln dann immer wieder
wiederholt, lässt sich das sehr wohl als Routinisierung verstehen. So können
etwa die ursprünglichen Auslöser dafür, dass zwei Menschen sich ineinander
verliebt haben, längst nicht mehr gegeben und vielleicht sogar gänzlich in Ver-
gessenheit geraten sein. Die Liebe kann anhalten, weil beide sich daran gewöhnt haben, den anderen zu lieben.
Inszenierte Emotionen
Wenn normative oder rationale Beweggründe den Akteur
dazu bringen, Emotionen nach außen darzustellen, die in seinem Inneren
überhaupt nicht vorhanden sind, kann das dazu führen, dass er sich sozusa-
gen mit diesen Emotionen anfreundet und sie zu echten werden. Das muss
keineswegs so sein. Aber es kann passieren - wobei nur psychologisch er-
gründet werden könnte, auf welchen innerpsychischen Dynamiken so etwas
beruht. Eine Soziologie emotionalen Handelns muss lediglich zur Kenntnis
nehmen, dass so etwas gelegentlich stattfindet. Vor allem mit Bezug auf Liebe
ist beobachtet worden, wie aus gespielter echte Leidenschaft werden kann.
zwei Modelle emotionsgetriebenen sozialen Handelns
Flam stilisiert zunächst einen „pure emotional man“ als einen in der sozialen
Wirklichkeit kaum einmal rein vorkommenden theoretisch konstruierbaren
Grenzfall. Der spontane Wutausbruch kommt diesem ausschließlich emoti-
onsgetriebenen Handelns wohl noch am nächsten. Darauf aufbauend model-
liert Flam anschließend den „constrained emotional man“. Dies ist ein Akteur,
dessen Handeln ebenfalls in starkem Maße emotional bestimmt ist; doch diese
Emotionalität ist erheblich durch normative oder rationale Handlungsantriebe
mitbestimmt. Mit diesem zweiten Modell leistet Flam bereits eine Verknüpfung
von „Emotional man“ und Homo Sociologicus bzw. Homo Oeconomicus.
„pure emotional man“
Flam (1990a: 43-45) charakterisiert den „pure emotional man“ als „unfree,
inconsistent, cost-indifferent“ sowie durch „inconstancy and indeterminancy“
• Der „pure emotional man“ ist „unfree“, weil ihn Gefühle überkommen. Seine
Emotionen sind nicht freiwillig und bewusst gewählt, sondern unwillkürlich.
• Der „pure emotional man“ ist „cost-indifferent“. Seine Gefühle sind maßlos
im wörtlichen Sinne.
• Der „pure emotional man“ ist „inconsistent“. Manche Gefühle gegenüber
einer bestimmten Person harmonieren miteinander, beispielsweise Liebe
und Bewunderung. Das eine trägt das andere und umgekehrt. Aber nicht
selten koexistieren durchaus widersprüchliche, spannungsreiche emotiona-
le Strömungen gegenüber einem anderen. Das bekannteste Beispiel ist die
sprichwörtliche Hassliebe.
• Der „pure emotional man“ ist durch „inconstancy“ gekennzeichnet. Emotio-
nen sind oftmals nichts Beständiges, sondern schwanken erratisch sowohl
in ihrer Intensität als auch in ihrer Tönung. Es gibt zwar den ewigen Hass,
vielleicht auch manchmal die ewige Liebe. Häufiger aber ist die Wechsel-
haftigkeit von Gefühlen.
• Der „pure emotional man“ ist durch „indeterminacy“ gekennzeichnet. Emoti-
onen sind oftmals schwer in ihrem Auftreten und ihrem Verlauf vorhersag-
bar. Das ergibt sich vor allem aus der Wechselhaftigkeit und der Inkon-
sistenz emotionaler Zustände. Auch für einen selbst sind die eigenen emotionalen Zustände oft nur schwer vor- ausschaubar oder erklärbar. Letzteres hängt damit zusammen, dass man
Emotionen nur schwer willentlich erzeugen und stabilisieren kann.
Liebe als Gesellschaftsprinzip
Es ist ja kein Zufall, dass es noch keine Gesellschaft gewagt
hat, Familienbeziehungen allein auf Liebe zu gründen. Selbst das Ideal der
leidenschaftlichen romantischen Liebe in modernen westlichen Gesellschaften
ist bekanntlich größtenteils Fiktion geblieben, die zwar in Romanen und Fil-
men, aber nicht im richtigen Leben funktioniert (Luhmann 1982). Normative
Verpflichtungen gegenüber dem Ehepartner und den eigenen Kindern halten
die Familie zusammen, nicht Gefühle. Die taugen allenfalls zur Initialzündung
dieser sozialen Ordnung und flackern vielleicht, wenn man Glück hat, ab und
zu, sozusagen als Versüßung der Pflichterfüllung, immer wieder einmal auf.
Ehe- und Familienbeziehungen sind somit ein Beispiel dafür, dass emotio-
nale Handlungsantriebe normativ eingebettet werden, um ihnen gewisserma-
ßen „Sozialverträglichkeit“ zu verleihen. Der „Emotional man“ wird gleichsam
vom Homo Sociologicus an die Kandare genommen.
„constrained emotional man“
Er ist dadurch gekennzeichnet, dass bestimmte Emotionen, die ihn an-
treiben, durch soziale Normen und/oder Erwägungen rationaler Nutzenverfol-
gung kanalisiert werden. Diese Kanalisierung kann sich auf die Tönung und
die Intensität von Emotionen beziehen oder sogar in eine Umformung be-
stimmter Emotionen münden. In jedem Fall sind Emotionen vorhanden, die
sodann durch Normen und Nutzenerwägungen weiter geformt werden.
Das Modell des „constrained emotional man“ macht zunächst darauf auf-
merksam, dass Emotionalität und Normbefolgung einander nicht ausschlie-
ßen.
das Ausleben von Emotionalität vs soziale Normen
So darf die Liebe der Mutter zu
ihrem Kind nicht soweit gehen, dass Sexualität ins Spiel kommt. Ebenso darf
die Mutter, wenn ihre Liebe durch das momentane Verhalten des Kindes plötz-
lich in Wut umschlägt, dieser Emotion nicht maßlos nachgeben. Und wenn
eine Mutter zwei Kinder hat, von denen sie eines viel mehr liebt als das ande-
re, wird von ihr erwartet, dass sie sich das nicht anmerken lässt, sondern ihre
Emotion gleichmäßig auf beide Kinder verteilt.
Das Beispiel zeigt, dass das Ausleben von Emotionalität durch soziale
Normen vorgeschrieben, zugelassen oder untersagt wird - und wenn es vor-
geschrieben oder zugelassen wird, spezifizieren Normen weiterhin, welche Art
und welches Ausmaß von Emotionen ausgelebt werden dürfen. Arlie Hoch-
schild (1979) spricht treffend von „feeling rules“.
Ausleben von Emotionen vs rationale Nutzenerwägungen
Neben Gefühlsnormen stellt ein Akteur beim Ausleben seiner Emo-
tionen aber oftmals auch rationale Nutzenerwägungen in Rechnung. Wenn ich
mich beispielsweise in einem Bewerbungsgespräch befinde und mir Fragen
gestellt werden, die ich als unangebracht und dumm empfinde, so dass in mir
spontaner Ärger aufwallt, bin ich gut beraten, wenn ich mir dieses Gefühl mög-
lichst nicht anmerken lasse, sondern höflich bleibe. Es gibt viele derartige
Klugheitsregeln für alle möglichen Alltagssituationen. So gibt man Verliebten
manchmal die Empfehlung, die eigenen Gefühle für den jeweils anderen nicht
in ihrem wahren Ausmaß zu zeigen, sondern sich spröde zu geben.
Was insgesamt den „constrained emotional man“ vom „pure emotional man“ unterscheidet
Was insgesamt den „constrained emotional man“ vom „pure emotional
man“ unterscheidet, sind Kompetenzen des „emotion management“ (Hoch-
schild 1979). Durch die Beachtung von Gefühlsnormen und die Erwägung von
Gefühlskalkülen wird der „Emotional man“ zum einen „sozialverträglich“. Die
normativen oder rationalen constraints der emotionalen Handlungsantriebe
machen sie weniger maßlos und erratisch und damit erwartbarer als beim „pu-
re emotional man“. Zum anderen kann der Akteur selbst hieraus Gewinn ziehen
Die Handlungserklärung beim „constrained emotional man“
Die Handlungserklärung läuft beim „constrained emotional man“ auf eine
Kombination von „pure emotional man“ und Homo Sociologicus beziehungs-
weise Homo Oeconomicus hinaus. Der Erklärungsanteil, den die beiden ande-
ren Handlungsmodelle dabei zu tragen haben, kann variieren - je nachdem,
wie stark normative beziehungsweise rationale Gesichtspunkte das emotional
angetriebene Handeln kanalisieren.
der Anteil des Homo Sociologicus beziehungsweise Homo Oeconomicus an der Handlungserklärung
Noch deutlich höher wird der Anteil des
Homo Sociologicus beziehungsweise Homo Oeconomicus an der Handlungs-
erklärung, wendet man sich nun solchen Situationen zu, in denen normative
Regeln oder rationale Erwägungen dem Handelnden vorschreiben bezie-
hungsweise nahe legen, bestimmte zunächst einmal nicht vorhandene Gefühle
zumindest in seiner Außendarstellung zu zeigen. Wenn beispielsweise ein
Verwandter gestorben ist und ich zur Beerdigung gehe, wird von mir erwartet,
dass ich während der Zeremonie und beim anschließenden Beisammensein
der Trauergäste eine gewisse Trauer an den Tag lege.
Und gäbe es diese normativen Vorschriften hinsichtlich des Ausdrucks
bestimmter Gefühle nicht, könnten mich Klugheitsgründe zum gleichen Han-
deln veranlassen. Ich könnte etwa als armer Verwandter darauf spekulieren,
dass die reiche Witwe, auch durch meine Trauer gerührt, sich zukünftig einmal
dazu erweichen lässt, mir finanziell unter die Arme zu greifen.
Pseudo-Emotionalität
Je stärker der Anteil solcher normativer bzw. rationaler Beweggründe für
das Zeigen bestimmter Emotionen ist, desto mehr verliert das Modell des
„Emotional man“ an Erklärungskraft. Im Extremfall kann es so sein, dass
überhaupt kein emotionaler Handlungsantrieb vorhanden ist, sondern die ent-
sprechenden Gefühle nur noch vorgespielt werden, um normativen oder ratio-
nalen Gesichtspunkten Rechnung zu tragen. Das sind Fälle der Pseudo-
Emotionalität, für die der Homo Sociologicus bzw. der Homo Oeconomicus
oder eine Kombination beider als Erklärungsmodelle völlig ausreichen.
überindividuelle Akteure als „Emotional man“
Flam (1990b) hat sich auch mit dieser Frage auseinandergesetzt und ge-
langt zu dem Schluss, dass überindividuelle Akteure gleichsam Brutstätten
bestimmter Emotionen darstellen können, die die involvierten Individuen je für
sich nicht unbedingt ausgebildet hätten. Damit ist mehr gemeint als der Sach-
verhalt, dass überindividuelle Akteure mitunter äußerst geschickt darin sind,
vorhandene Emotionen ihrer Mitglieder am Leben zu erhalten oder weiter an-
zufachen; und es geht auch nicht bloß darum, dass überindividuelle Akteure
natürlich oftmals Emotionen inszenieren, um sich normkonform beziehungs-
weise strategisch klug zu verhalten. Sondern eine Gewerkschaft vermag als
Organisation - um das obige Beispiel wieder aufzugreifen - ein Neidgefühl zu
entfachen, das auf Seiten der Mitglieder vorher nicht vorhanden gewesen ist,
deren Handeln als Organisationsmitglieder aber fortan bestimmt.
Identitätsbehauptung als Handlungsantrieb
Der Identitätsbehaupter ist das Modell eines Akteurs, dessen Handlungswahlen von dem Streben nach Bestäti-
gung seines Selbstbildes bestimmt werden. Ein fertig ausgearbeitetes soziolo-
gisches Akteurmodell des Identitätsbehaupters gibt es allerdings nicht.
Zum dominanten Handlungsantrieb von
Akteuren in sozialen Situationen wird Identitätsbehauptung durch bestimmte
Arten der Identitätsbedrohung, die weiter unten erläutert werden.
Identität
Die Identität einer Person ist deren Bild von sich selbst.
Modi der Selbstbeschreibung
Schaut man sich solche Identitätsbeschreibungen genauer an, stellt man
fest, dass dabei drei Modi von Äußerungen benutzt werden: evaluative und
normative Selbstansprüche sowie kognitive Selbsteinschätzungen.
evaluative Selbstansprüche
Im Zentrum stehen zumeist evaluative Selbstansprüche. Dies sind - um ei-
nen Begriff Ernst Blochs (1959) zu übertragen - die „konkreten Utopien“ der
Person über sich selbst: ihre Vorstellungen darüber, wer sie sein und wie sie
leben will. Solche evaluativen Selbstansprüche können als Aufforderungen an
sich selbst adressiert sein.
Jemand ist, wer er sein will - sofern dieses Wollen für ihn keine „ab-
strakte Utopie“ (Bloch 1959) ist, sondern ein subjektiv gangbar erscheinender
Lebensweg. 85 Für jedes Selbstbild ist also eine Selbstüberschreitung, ein
„Noch-nicht“ (Bloch 1959) konstitutiv.
normative Selbstansprüche
Flankiert werden diese evaluativen Selbstansprüche von normativen
Selbstansprüchen. Im Alltagsverständnis bilden letztere das Gewissen einer
Person. 86 Normative Selbstansprüche sind solche Sollensvorgaben für das
eigene Handeln, deren Nichteinhaltung die betreffende Person als Scheitern
des eigenen Lebens begreifen würde. Diese Selbstansprüche können auf in-
ternalisierte soziale Normen zurückgehen.
So mag es sein, dass ein Sportler, der in einem Weltmeisterschafts-Endkampf nur durch unbemerkt gebliebene
eigene Unfairness gesiegt hat, im Nachhinein keinerlei Freude an der errungenen Goldmedaille hat.
kognitive Selbsteinschätzungen
Relativiert werden die evaluativen und auch die normativen Selbstansprü-
che durch kognitive Selbsteinschätzungen. Diese betreffen die Fähigkeiten
und Möglichkeiten einer Person, ihren evaluativen und normativen Selbstan-
sprüchen gerecht zu werden, sowie ihr faktisches So-Sein im Vergleich zum
Sein-Wollen und Sein-Sollen. Wenn jemand zum Beispiel erkennt, dass er nur
ein mittelmäßiger Student ist, gibt das seinem Streben danach, ein guter Wis-
senschaftler zu werden, einen gehörigen Dämpfer;
Identität als Selbstsimplifikation
Damit ist insgesamt klar, dass die Identität einer Person keine bloße Beschrei-
bung ihres momentanen Ist-Zustandes darstellt und sich auch nicht in einer
vergangenheitsorientierten lebensgeschichtlichen Rekonstruktion erschöpft,
sondern diese vergangenheits- und gegenwartsbezogene Sinngestalt des ei-
genen Lebens in die Zukunft ausrichtet. Weiterhin ist festzuhalten, dass die
Identität einer Person niemals auch nur annähernd die Gesamtheit ihres Sein-
Wollens und -Sollens in Relation zum So-Sein abbildet, sondern eine höchst
selektive Selbstsimplifikation ist. Die Identität ist nicht
so umfassend, vollständig und vielschichtig wie die Persönlichkeit, sondern
verhält sich zu dieser wie eine mit wenigen, aber markanten Strichen gezeich-
nete Skizze zu einem Foto. Die Identität ist also eine sehr einseitige Hervorhe-
bung einiger weniger Züge der eigenen Person - was im Umkehrschluss heißt,
dass der Person das allermeiste, was sie selbst ausmacht, als nicht wesentlich
erscheint. All das könnte auch anders sein, und man wäre dennoch derselbe.
Daran zeigt sich auch bereits, dass die Selbstsimplifikation nicht bloß begrenz-
ten Informationsverarbeitungskapazitäten geschuldet ist.
Identität als Steuerungsmechanismus des Akteurs
Talcott Parsons (1968) begreift in diesem Sinne die Person als ein kyberne-
tisches System, in dem die Identität den obersten Steuerungsmechanismus
ausmacht. Biologische Antriebe und Bedürfnisse, Motive, Einstellungen und
Wissen, also all die anderen handlungsbestimmenden Komponenten der Per-
sönlichkeit, werden durch diese interne Steuerung so kanalisiert, dass zeitliche
Kontinuität - was geordneten Wandel, vor allem Weiterentwicklung, durchaus
einschließt - und sachliche Konsistenz der Person gewahrt bleiben.
Genau diese zeitliche und sachliche Einheit „... steht gegen den bloßen Ablauf eines
Menschenlebens...“ (Koch 1975: 134), gibt der Biographie eines Menschen
eine Sinngestalt, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenhält.
Modi der Identitätsbestätigung
Wie kommen Akteure zu einer Identität und in welchen Hinsichten gewinnt dieses Merkmal der Binnensphäre eines Akteurs Außenrelevanz?
Hierauf gibt es zwei Antworten, die zusammen eine zirkuläre
Kausalität beschreiben. Die eine Antwort lautet: Die Identität eines Akteurs
bedarf sozialer Bestätigungen. Das bedeutet zum zweiten: Die Identität eines
Akteurs muss in dessen Selbstdarstellung sozial präsentiert werden. Soziale
Bestätigungen und Selbstdarstellung bilden zusammen die Modi des Aufbaus
und der Wahrung einer Identität bzw. der Identitätsbestätigung. Schon in die-
ser thesenhaften Formulierung wird der kausale Zirkel erkennbar: Soziale Be-
stätigungen produzieren und reproduzieren die Identität; und die sozialen Be-
stätigungen sind ihrerseits Reaktionen auf die identitätsgesteuerte Selbstdar-
stellung des Akteurs
soziale Bestätigungen
Es geht im Folgenden zunächst um den Zusammenhang von sozialen Bestätigungen und der Identität eines Akteurs
Identitätsbehauptung ist eine Daueraufgabe des Akteurs, ein Prozess selbst dann, wenn die Identität
über längere Zeit identisch reproduziert wird. Dieser Prozess ist kein monolo-
gischer. Er vollzieht sich nicht im Inneren der Person, sondern in deren Ausei-
nandersetzung mit ihrer sozialen Umgebung. Darin liegt die fundamentale Be-
deutung von Sozialität als identitätssichernder oder -verunsichernder Umwelt
eines Akteurs. Ebenso wie jemand zur umfassenden Wahrnehmung seiner
äußeren Erscheinung einer außerhalb seiner selbst befindlichen, ihn spiegeln-
den Fläche bedarf, so vermag auch niemand allein durch Introspektion zu er-
gründen, wer er ist, sein will und soll, sondern benötigt eine seine Identität
widerspiegelnde äußere Umwelt.
Nichtbestätigungen und Identitätsveränderungen
Wichtig ist allerdings, dass nicht jede einzelne
Nichtbestätigung gewissermaßen in einer Zug-um-Zug-Sequenz entsprechen-
de Identitätsveränderungen nach sich zieht. Denn Nichtbestätigungen fallen
laufend an. Ein Akteur aber, der auf jede kleinste Dissonanz von Selbstbild
und Fremdbildern reagierte, müsste sich so intensiv mit sich selbst beschäfti-
gen, dass er vor lauter Selbstreflektionen nicht mehr zu irgend etwas anderem
käme. Und selbst wenn diese Art von Dauerreflektion bewältigbar wäre, erfüll-
te eine sich ständig solchen Umwelteinwirkungen anpassende Identität gerade
nicht ihre Funktion, Kontinuität und Konsistenz ins Handeln des Akteurs zu
bringen und diesen mit einer Sinngestalt seiner Existenz zu versehen. Ein ge-
wisses Maß an Starrsinn und Beharrungsvermögen, an Selbstgewissheit ge-
genüber Nichtbestätigung, ist also durchaus funktional.
Selbstgewissheit gegenüber aktuellen Nichtbestätigungen
Eine solche Selbstgewissheit gegenüber aktuellen Nichtbestätigungen be-
ruht auf akkumulierten vergangenen Bestätigungen des betreffenden Identi-
tätsbestandteils. Mit deren Rückendeckung vermag man einzelne Nichtbestä-
tigungen zwar als solche anzuerkennen, in ihrer stets mitschwingenden, erst
eigentlich einen Veränderungsdruck erzeugenden generalisierten Berechti-
gung jedoch zurückzuweisen. Man verweist sich selbst und andere dann dar-
auf, dass der betreffende Identitätsbestandteil in vergleichbaren Situationen
bei anderen Gelegenheiten vielfach bestätigt worden ist.
Soziale Bestätigungen
Soziale Bestätigungen sehen im Übrigen nicht notwendigerweise so aus,dass gutgeheißen wird, wie jemand ist und sein will, sondern bedeuten ledig-lich kognitive Übereinstimmungen. Ein anderer braucht beispielsweise keinChrist zu sein, um jemanden, wie kritisch, spöttisch oder verächtlich auch im-mer, als solchen hinzunehmen. Die soziale Bestätigung eines Identitätsan-spruchs erfordert nicht einmal unbedingt eine Übereinstimmung der beider-seits verwendeten Typisierungen, solange sie nur für den Betreffenden inein-ander übersetzbar sind. Jemand kann sich selbst als Sozialrevolutionär auf-fassen und von der Staatsgewalt und den Massenmedien als Verbrecher ein-gestuft werden: Berücksichtigt er den Interpretationsrahmen der anderen, be-stätigt ihn dies in seiner Selbstdefinition.
subjektive Priorität
Je höhere subjektive Priorität ein bestimmter Identi-
tätsbestandteil aufweist, desto mehr unterliegt die betreffende Person der Ge-
fahr, bei der Umdefinition von Nichtbestätigungen den Realitätskontakt zu ver-
lieren. Das ist auch alltagsweltlich geläufig. Am unkritischsten sich selbst ge-
genüber ist man bei den Dingen, die einem am meisten am Herzen liegen.
Identitätsbehauptung vs Lernbereitschaft
In der Regel läuft Identitätsbehauptung aber eben nicht auf einen völlig ver-
blendeten Starrsinn - umgekehrt betrachtet: eine grenzenlose Flexibilität von
Umdefinitionsmanövern - hinaus, sondern auf verzögerte Lernbereitschaft.
Wie sehr soziale Bestätigungen und Nichtbestätigungen letzten Endes die
Identität einer Person formen und gegebenenfalls immer wieder verändern,
zeigt sich im Extremfall daran, wie effektiv - was hier natürlich in einem rein
technischen Sinne gemeint ist - Gehirnwäsche funktioniert.
Gehirnwäsche beweist, dass jemand sich sozialen Einflüssen auf Dauer
nicht zu entziehen vermag. Wenn einem nur lange genug mit hinreichender
Penetranz gesagt wird, man sei jemand, der so und so ist und zu sein hat und
sogar sein will, und man besitzt keine Chance, die andere Art von Person, die
man von seiner bisherigen Biographie her geworden ist und auch weiterhin
sein will, noch sozial bestätigt zu bekommen, wird man so, wie es einem ein-
getrichtert wird.
„Programmierung“ der Identität einer Person
Das Beispiel der Gehirnwäsche weist darauf hin, dass eine derartige „Pro-
grammierung“ der Identität einer Person von außen dann, aber nur dann ge-
lingt, wenn die normalerweise gegebene Pluralität und Optionalität der sozia-
len Einflüsse rigoros ausgeschaltet wird. Bezüglich der meisten Bestandteile
seiner Identität unterliegt ein Akteur mehr oder weniger vielfältigen Einflüssen,
die einander relativieren und die er selbst auch in seiner inneren Verarbeitung
teilweise gegeneinander auszuspielen vermag. Der Akteur kann, bewusst oder
unbewusst, seine Umwelt partiell so wählen und gestalten, dass er eher mit
sozialen Bestätigungen als Nichtbestätigungen konfrontiert wird. Er ist, anders
als bei der Gehirnwäsche, kein bloß passives Opfer der auf ihn niederpras-
selnden sozialen Bestätigungen bzw. Nichtbestätigungen, sondern vermag
diese über Umdefinitionen hinaus aktiv zu verarbeiten und zu steuern.
Selbstdarstellung
Damit die Identität eines Akteurs allerdings überhaupt soziale Bestätigun-
gen oder auch Nichtbestätigungen erhalten kann, muss sie von ihm sozial zum
Ausdruck gebracht werden. Dazu muss der Akteur in seinem Handeln eine
Selbstdarstellung betreiben, die mehr von ihm zum Ausdruck bringt als ein nur
auf den Homo Sociologicus oder den Homo Oeconomicus oder auch den
„Emotional man“ reduziertes Auftreten. Wenn jemandes Handeln vollkommen
in der Rolle aufgeht, die er einzunehmen hat, wird er als Person mit einer ei-
genen Identität unkenntlich. Ebenso kommt bei jemandem, der immer nur sei-
nen jeweiligen Nutzen rational verfolgt, dessen Identität allenfalls rudimentär in
manchen Nutzenausprägungen zum Ausdruck - und auch das nur implizit.
Diskrepanz
Jeder kennt beispielsweise Alltagssituationen, in denen er - vor allem
in seiner Berufsrolle - gegenüber anderen Akteuren Rollenerwartungen einzu-
halten hat, die nicht damit übereinstimmen, wie er „als Mensch“ mit der Situa-
tion umgehen würde. Eine gleiche Diskrepanz kann sich aber auch zwischen
der eigenen Identität und rationaler Nutzenverfolgung ergeben (Monroe 1991:
15-18) - wenn jemand beispielsweise schweren Herzens darauf verzichtet, die
ersehnte, aber brotlose Künstlerkarriere einzuschlagen, und stattdessen einen
ungeliebten, aber den Lebensunterhalt sichernden Beruf ergreift. Und dass es
immer wieder vorkommt, dass Menschen sich nachträglich darüber schämen,
wie sie emotional „ausgerastet“ sind, zeigt, dass gerade auch der „pure emoti-
onal man“ entgegen manchem modischen Gerede über die Authentizität von
Gefühlen nicht immer die Identität der Person zum Ausdruck bringt. Damit ist
klar, dass Identitätsbehauptung einen Handlungsantrieb darstellt, der nicht
schon beiläufig durch Normkonformität, rationale Nutzenverfolgung oder das
Ausleben von Emotionen mitbedient wird, sondern dem Handeln eine eigen-
ständige Signatur aufprägen muss.
Auslöser von Identitätsbehauptung
Der wichtigste Auslöser identitätsbehauptenden Handelns sind aktuelle oder antizipierte Identitäts-
bedrohungen. Identitätsbedrohungen sind massive und dauerhafte, also nicht bloß vorübergehende Infragestellungen der evaluativen und normativen Selbstansprüche eines Akteurs. Die Realisierung dieser Ansprüche wird problematisch oder definitiv unmöglich. Dabei lassen sich vor allem drei Typen von Identitätsbedrohungen unterscheiden: spezifische substantielle Identitätsbedrohungen, indirekte Identitätsbedrohungen durch Existenzgefährdungen und schließlich Identitätsbedrohungen durch Entindividualisierungserfahrungen.