FUH SS15


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Cartes-fiches 91
Langue Deutsch
Catégorie Psychologie
Niveau Université
Crée / Actualisé 23.07.2015 / 26.11.2018
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Normkonformität  als  Modus  der  Handlungsselektion

Auch  Normkonformität  als  Modus  der  Handlungsselektion  ist  keineswegs
durchgängig  auf  Kosten/Nutzen-Kalkulationen  des  Akteurs  zurückzuführen.
Zumeist vollzieht sich die Ausrichtung des eigenen Handelns an den von Be-
zugsgruppen  vermittelten  Normen  gleichsam  automatisch,  ohne  näheres

Nachdenken oder gar Abwägen im Vergleich zu nicht normkonformen Hand-
lungsalternativen.  Der  Akteur  folgt,  in  der  griffigen  Formulierung  von  James
March und Johan Olsen, einer „logic of appropriateness“, tut also schlicht das,
was sich für ihn in der betreffenden Situation gehört, und hat keinerlei „logic of
consequentiality“  im  Sinn,  die  ihn  kosten-  und  nutzenbewusst  machte
(March/Olsen 1989). Die Herausforderung der Rational-Choice-Perspektive an
den Homo Sociologicus ist allerdings in diesem Punkt nicht gänzlich von der
Hand zu weisen. Es gibt unzweifelhaft auch jene Art von Normkonformität, die
allein oder vorrangig auf der kalkulierenden Vermeidung von negativen Sank-
tionen beruht. Hier kommt, genau besehen, im Gewande des Homo Sociologi-
cus der Homo Oeconomicus daher.

Versuch der Assimilierung des HO durch den HS

In der Auseinandersetzung zwischen Homo Sociologicus und Homo Oeco-
nomicus gibt es aber nicht nur den gerade behandelten „ökonomischen Impe-
rialismus“, sondern auch - zumeist defensiv dagegen gerichtete - umgekehrte
Versuche, den Homo Oeconomicus zum Spezialfall des Homo Sociologicus zu
erklären.  Diese  analytische  Vereinnahmung  argumentiert  so,  dass  rationale
Nutzenorientierung auch nur eine Norm sei, so dass Rational Choice ebenfalls
eine  Form  von  Normkonformität  darstelle.  In  immer  mehr  Handlungsfeldern
haben  Akteure  dem  Imperativ  zu  genügen,  dass  eine  zweckrationale  Kos-
ten/Nutzen-Abwägung  ihre  Handlungswahl  bestimmt  -  von  wirtschaftlichen
Investitionsentscheidungen bis zur Familienplanung. Den Akteuren wird abver-
langt, dass sie ihre Handlungen dementsprechend sachlich begründen - und
können sie das im Einzelfall nicht, wird ihnen das als „Unvernunft“, „Disziplin-
losigkeit“,  „Gedankenlosigkeit“  oder  „Fahrlässigkeit“  vorgehalten  und  zumin-
dest teilweise auch negativ sanktioniert.

Aber  ist  rationale  Nutzenorientierung  deshalb  wirklich  eine  Norm?

 Wenn,
dann wäre es jedenfalls eine so diffuse Norm, dass man ihr nur geringe Hand-
lungsinstruktivität  zusprechen  könnte.  „Sei  rational!“  und  „Maximiere  deinen
Nutzen!“ sind für sich genommen ziemlich nichtssagende Aufforderungen, die
sich in ihrer Orientierungsleistung für einen Akteur nicht mit spezifischen Rol-
lenerwartungen,  wie  sie  ihm  von  seinen  Bezugsgruppen  vermittelt  werden,
vergleichen lassen. Genau besehen handelt es sich bei diesen beiden Auffor-
derungen zudem gar nicht um Sollensvorgaben. Dem Handelnden wird nicht
gesagt, dass er etwas Bestimmtes tun bzw. lassen soll, sondern er wird für die
Handlungswahl  auf  seine  eigenen  Ziele  und  bei  deren  Verfolgung  auf  seine
eigene Klugheit und Findigkeit verwiesen.

Stattdessen kann es aber vorkommen, dass der Akteur von anderen unter
Druck  gesetzt  wird,  sich  bei  seiner  rationalen  Nutzenorientierung  gefälligst
anzustrengen - zum Beispiel ein Manager von den Aktionären des Unterneh-
mens. Diese anderen sind dann aber keine Bezugsgruppe, die normative Er-
wartungen an den Betreffenden richtet, sondern es handelt sich um Erfolgser-
wartungen mächtiger Gegenüber, die meist deshalb darauf bestehen, weil ihr
eigener Nutzen von der rationalen Handlungswahl des Akteurs abhängt.

Weder lässt sich also der Homo Sociologicus als Spezialfall des Homo Oe-
conomicus angemessen verstehen, noch umgekehrt. Es handelt sich um zwei
distinkte analytische Akteurmodelle - was wohlgemerkt nicht ausschließt, dass
reales  Handeln  manchmal  eine  so  ausgeglichene  Mischung  von  Norm-  und
Nutzenorientierung sein kann, dass beide Modelle miteinander verknüpft wer-
den müssen - siehe Kapitel 6.

Relativierungen und Rahmungen rationaler Nutzenverfolgung

Der  Homo  Oeconomicus  ist  ebensowenig  wie  der  Homo  Sociologicus  ohne
Kritik geblieben. Zum einen hat sich die Kritik in mehreren Hinsichten an der
Rationalitätsunterstellung entzündet. Handeln Akteure hinsichtlich der Auswahl
ihrer  Handlungsziele  und  der  Abwägung  ihrer  Handlungsalternativen  sowie
hinsichtlich der Mittelwahl tatsächlich so rational, wie es das Modell behauptet?

 Woher  bezieht  der  Homo  Oeconomicus  eigentlich
die sein Handeln leitenden Nutzenvorstellungen?

 

 

perfekte  Rationalität

Ein erster Einwand ist bereits in der Wirtschaftswissenschaft selbst gegen den
Homo  Oeconomicus  vorgebracht  worden.  Der  Einwand  besagt,  dass  reale
Handelnde  dann,  wenn  sie  zwischen  ihren  Handlungsalternativen  wählen,
nicht annähernd so rational vorgehen, wie das Modell behauptet.  Diese Kritik
geht  von  Überlegungen  dazu  aus,  welche Anforderungen eine subjektiv per-
fekt  rationale  -  also  optimale  -  Handlungswahl  des  Homo  Oeconomicus  zu
erfüllen hätte. Sechs Komponenten dieses Vorgangs können hierbei analytisch
unterschieden  werden:  Problemdiagnose,  Kriterienformulierung,  Alternativen-
suche, Alternativenbewertung und -auswahl, Implementation und Evaluation.

Aus der Perspektive des Akteurs hieße perfekte Rationalität

Aus der Perspektive des Akteurs hieße perfekte Rationalität dann, wenn man
seine  Handlungswahl  in  diese  einzelnen  Schritte  zerlegt:  Ein  Akteur  müsste
seine Situation ständig auf Entscheidungsanlässe, etwa Probleme, hin sondie-

ren, und dabei auch vorausschauend noch gar nicht aktuelle Anlässe reflektie-
ren, so dass Probleme sich gar nicht erst zuspitzen können; er müsste über
eine vollständige und transitiv geordnete Liste von Entscheidungskriterien für
den jeweiligen Anlass verfügen, er müsste sich bei jedem Anlass umfassend
auf  die  Suche  nach  möglichen  Handlungsalternativen  begeben;  er  müsste
sodann anhand der Kriterienliste alle Alternativen bewerten, um die beste zu
finden, die er dann in die Tat umsetzte; und dies wiederum müsste er zielstre-
big tun, d.h. ohne sich bei der Umsetzung seiner Handlungswahl durch auftre-
tende  Hindernisse  oder  andere  Handlungsalternativen  beirren  zu  lassen,
selbst  wenn  Letztere  bei  seiner  Alternativenbewertung  nur  knapp  hinter  der
gewählten Alternative lagen. Schließlich wird der Akteur noch mit den Wirkun-
gen seiner Handlung konfrontiert. Eine perfekt rationale Handlungswahl zeich-
nete sich im Hinblick auf ihre Wirkungen dadurch aus, dass der Homo Oeco-
nomicus bei negativen Ergebnissen seine Handlungswahl unverzüglich zu ei-
nem neuen Entscheidungsproblem machen müsste.

Komplexität von Entscheidungssituationen

Die wesentliche Ursache für die fast immer nicht perfekte Rationalität des nut-
zenverfolgenden Handelnden liegt in der Komplexität der Entscheidungssitua-
tionen, denen sich der Homo Oeconomicus ausgesetzt sieht. Handlungswah-
len sind für diesen Akteur niemals simpel, weil es immer ein mehr oder weni-
ger weites Spektrum an zu beachtenden Situationsbedingungen und zu antizi-
pierenden  Wechselwirkungen  zwischen  diesen  Situationsbedingungen  sowie
immer mehrere mögliche Handlungsalternativen gibt. Das Handeln des Homo
Oeconomicus muss entsprechend situationssensibel sein.

Die  Komplexität  von  Entscheidungssituationen  und  die  entsprechende  Auf-
wendigkeit von rationalen Handlungswahlen lässt sich generell in drei Dimen-
sionen  auffächern,  zwischen  denen  starke  Wechselwirkungen  bestehen:

Sach-, die Sozial- und die Zeitdimension

Sachdimension

Die Sachdimension komplexer Entscheidungssituationen ist deren Informa-
tionsgehalt. Hier geht es um die Menge und die Verknüpfung derjenigen In-
formationen, die ein Akteur benötigt, um sich ein umfassendes und hinrei-
chend  vertieftes  Bild  der  Situationsbedingungen  zu  machen.  Die  rationale
Handlungswahl des Akteurs hängt in dieser Dimension von einer möglichst
vollständigen  Erfassung  und  Verarbeitung  der  relevanten  Informationen
über die Situation ab. Denn nur bei totaler Informiertheit ist garantiert, dass
die  gewählte  Handlung  das  Entscheidungsproblem  nicht  nur  oberflächlich
und partiell bearbeitet oder sogar völlig falsch angeht. In der Sachdimensi-
on  ist  eine  rationale  Handlungswahl  daher  immer  informationsaufwendig.

Häufig  führt  dies  nicht  zur  Informationssuche,  sondern
geradezu zur Informationsvermeidung (Enste 1998). Zudem ist die Informa-
tionsverarbeitungskapazität  von  menschlichen  Handelnden  schon  aus  ge-
hirnphysiologischen Gründen begrenzt.

Die  Sachdimension  des  Handelns  ist  daher  in
dem  Maße  komplex,  wie  die  Menge  an  bedeutsamen  Informationen  über
die  Beschaffenheit  einer  Situation,  die  Wirkungszusammenhänge  und  die
möglichen  Handlungsalternativen  die  Informationsverarbeitungskapazität
des Akteurs überschreitet.

Sozialdimension

 Die Sozialdimension besteht darin, dass das Handeln eines Akteurs auf das
Handeln anderer Akteure trifft und mit diesem zusammenwirkt. Die Hand-
lungswahl hängt in dieser Dimension von der Einwirkung und den Reaktio-
nen anderer auf das eigene Handeln ab.  

Die  Komplexität  zeigt  sich  in  der Sozialdimension
entsprechend in zwei Ausprägungen: Zum einen in Gestalt von mangelnder
Erwartungssicherheit.  Eine  rationale  Handlungswahl  ist  umso  schwieriger,
je unsicherer sich der Akteur darüber ist, wie andere agieren bzw. reagieen.

Bei mangelnder Erwartungssicherheit erfährt der Homo Oeconomicus
soziale Komplexität so, dass er hinsichtlich seiner Handlungsentscheidung
gleichsam im Nebel stochert.

In der Sozialdimension ist eine Entscheidung deshalb oft konsens-
aufwendig. Der Akteur muss zum Beispiel gegenüber anderen einen höhe-
ren Rechtfertigungsaufwand für seine Handlungswahl betreiben; und diesen
Bemühungen sind wiederum zeitliche Grenzen gesetzt. Und manche Kon-
flikte lassen sich auf keine Weise schlichten - etwa antagonistische Interes-
sengegensätze, solange die Akteure stur bleiben.

 

Zeitdimension

 In der Zeitdimension sind rationale Handlungswahlen immer zeitaufwendig,
da sie für die Verarbeitung einer Situation einen erheblich größeren Zeitbe-
darf haben als Handlungsformen, die kein längeres Überlegen und Begrün-
den  erfordern.  Wer  viele  Lesarten  einer  Situation  durchdenkt  und  seine
schließlich gewählte Handlungsalternative im Horizont anderer Möglichkei-
ten überdenkt, benötigt für all das mehr Zeit. In der Zeitdimension manifes-
tiert  sich  die  Komplexität  von  Entscheidungssituationen  daher  als  Zeit-
knappheit.  Diese  ergibt  sich  zum  einen  daraus,  dass  ein  Akteur  zu  viele
Probleme mehr oder weniger gleichzeitig entscheiden muss. Zum anderen
steht hinter Zeitknappheit nicht selten eine hohe Dringlichkeit der Probleme.

begrenzte  Rationalität

Der Homo Oeconomicus will  nicht  nicht-rational  handeln.  Sondern  für  ihn  kommt  es  darauf  an,  durch
rationale  Strategien  des  nicht-perfekt-rationalen  Vorgehens  zu  versuchen,
komplexen Situationen dennoch ein gewisses Maß an Rationalität abzutrotzen.

 Erscheinungsformen begrenzter Rationalität

  • Akteure  lassen  meist  Entscheidungsanlässe,  insbesondere  wenn  es  sich um  Probleme  handelt,  solange  auf  sich  zukommen,  bis  sie  so  drängend sind, dass sie sich nicht länger ignorieren lassen. Ganz offensichtlich drücken sich Akteure solange wie möglich um Entscheidungen herum.
  • Akteure verfügen nur über eine mehr oder weniger unvollständige Kriterienliste, die auch selten vollständig transitiv geordnet ist. Insbesondere können die Gewichte einzelner Kriterien manchmal erratisch variieren. Akteure bemühen sich nicht darum, für sich herauszufinden, was ihnen bezüglich des jeweiligen Entscheidungsanlasses auf Dauer in welchem Maße wichtig ist.
  • Akteure strengen sich nicht an, die ihnen verfügbaren Entscheidungsalternativen auch nur einigermaßen vollständig zu erfassen. Stattdessen betreiben sie meist eine „simple-minded search“ . Sie begrenzen ihre Suche nach Alternativen der Problembearbeitung auf den engeren Umkreis des Entscheidungsanlasses und ihrer bisherigen Reaktionsmuster auf ähnliche Anlässe, lassen sich also nicht so schnell Neues einfallen.
  • Akteure können dann natürlich auch höchstens zufällig die beste Alternative finden  und  auswählen.  Statt  eines  umfassend vergleichenden „optimizing“ betreiben sie „satisficing“. Sie bewerten jede Alternative aus dem Stand, und sobald sie auf eine stoßen, die ihnen einigermaßen  zufriedenstellend  erscheint,  brechen  sie  die  weitere  Suche  ab und entscheiden sich für diese Alternative.

Inkrementalismus

Dabei handelt es sich um ein Bündel zusammengehöriger Stra-
tegien, die darauf hinauslaufen, dass Akteure sich bei ihren Handlungswahlen
„durchwursteln“.  Sie  hangeln  sich  an  Entscheidungsproblemen  entlang  und
betreiben  eine  „Politik  der  kleinen  Schritte“.

Die  Akteure  fixieren Probleme  reaktiv,  d.h.  sie  zeichnen  sich  durch  eine  abwartende  Vorgehens-
weise aus, wodurch ihnen der Aufwand der Problemsuche und -definition erspart bleibt.

 Akteure verhalten sich situativ opportunistisch, d.h. sie lassen längerfristige  Erwägungen  und  die  Interessen  Dritter  außer  Acht,  was  zu  einer selektiven  Prioritätensetzung  bei  den  Entscheidungskriterien  führt.

 Zudem simplifizieren  Akteure  Entscheidungssituationen,  indem  sie  die  jeweiligen Problemzusammenhänge nicht in ihrer Totalität durchdringen, sondern einzelne  leicht  zugängliche  Faktoren  und  nur  jene  mögliche  Problemursachen  herausgreifen, die sie bereits aus Erfahrung kennen. Akteure zerlegen Probleme in weniger komplexe Teilprobleme, arbeiten diese schrittweise ab und reduzieren  damit  ursprünglich  gegebene  Handlungsalternativen.

 Sie  schränken  die Suche nach Problembearbeitungsalternativen auch dadurch ein, dass sie nur solche in den Blick nehmen, die ihnen eine möglichst geringe Situationsveränderung abverlangen.

Und bezüglich der Alternativenbewertung und -auswahl betreiben sie eben „satisficing“, d.h. sie nehmen nicht die beste, sondern die erstbeste Alternative.

 Vor allem aber  bedeutet  Inkrementalismus  auch

Mit all dem erhöhen Akteure ihre Chance, rechtzeitig eine Entscheidung zu
treffen und die Komplexität in der Sozialdimension niedrig zu halten. Vor allem
aber  bedeutet  Inkrementalismus  auch,  dass  die  Akteure  im  Hinblick  auf  die
Wirkungen  ihrer  Handlungswahlen  eine  ambivalente  Strategie  verfolgen:  Sie
denken nicht länger darüber nach, ob sie die beste Antwort auf ein Problem

haben, sondern rechnen von vornherein damit, bei Entscheidungen Fehler zu
machen, die Kriterien für ihre Handlungswahlen immer wieder neu überdenken
zu müssen und Probleme nicht endgültig gelöst zu bekommen. Sie gehen also
davon aus, dass ihre Handlungswahlen provisorisch sind und später neu ent-
schieden werden muss. Eine derartig Probleme ver- und aufschiebende Stra-
tegie kann in Anbetracht komplexer Entscheidungssituationen höchst rational
sein.  Dem  „Sich-durchwursteln“  liegt  durchaus  Reflexion  und  systematisches
Bemühen zugrunde. Es bedeutet kein aufgrund von Unfähigkeit oder Faulheit
des Akteurs hinter dem Idealbild von Rationalität zurückbleibendes Vorgehen.
Der Inkrementalismus stellt damit gerade nicht die Rationalität des Homo Oe-
conomicus in Frage, sondern stellt eine Erweiterung bzw. Modifikation der dem
Akteurmodell unterlegten Rationalitätsvorstellung dar.

Einsetzbarkeit des Akteurmodells Homo  Oeconomicus

Trotzdem kann man, wenn man sich nicht nur die Fülle von Phänomenen
begrenzter Rationalität vergegenwärtigt, sondern auch die Ursachen dessen,
sehr  wohl  skeptisch  hinsichtlich  der  Einsetzbarkeit  des  Homo  Oeconomicus
bei der Erklärung von Handlungswahlen werden. Denn reale Handelnde blei-
ben dann fast immer weit hinter dem Rationalitätsideal des Modells zurück -
was darauf hinausläuft, dass ganz andere Handlungen gewählt werden als die,
die  der  soziologische  Beobachter  als  rationale  Nutzenverfolgung  identifiziert.

einer Anreicherung des Homo Oeconomicus durch solche theoretischen Ele-
mente freilich stets erklärungsökonomisch mitbedenken, dass die Handlungs-
analysen dadurch aufwendiger werden. Denn man muss entsprechend mehr
empirische  Daten  einbeziehen  und  komplexere  theoretische  Verknüpfungen
bilden. Ob sich das soziologisch lohnt, hängt vor allem von zweierlei ab:

genau  man  eine  bestimmte  Handlung  erklären  will  und  wie  umfassend  man
theoretisch  auf  das  Universum  konkreter  Handlungsweisen  vorbereitet  sein
will.  Je  treffsicherer  eine  Handlungserklärung  sein  soll  und  je  weniger  man
bereit  ist,  theoretisch  nicht  vorgesehene  Ausnahmen  hinzunehmen,  desto
mehr  Aufwand  muss  man  bei  der  Berücksichtigung  begrenzter  Rationalität
treiben. Begnügt man sich umgekehrt bei einem bestimmten Erklärungsprob-
lem damit, lediglich die Mehrzahl, aber nicht alle der empirisch vorkommenden
Fälle, und auch nur in der groben Richtung der Handlungswahl theoretisch zu
erfassen, kann man sich vielleicht sogar mit dem unmodifizierten Homo Oeco-
nomicus  perfekter  Rationalität  begnügen  -  etwa  dann,  wenn  es  allein  darum
geht, zu erklären, warum steigende Mietpreise bei denjenigen Bevölkerungs-
gruppen, die es sich leisten können, die Attraktivität des Hausbaus erhöhen.

rationale Routinen der Nutzenverfolgung

Der zweite jetzt anzusprechende Einwand gegen den Homo Oeconomicus ist
in gewisser Weise eine Radikalisierung der Überlegungen zu Rationalitätsbe-
grenzungen - aber eine Radikalisierung, die besonders deutlich die Einsicht in
die höhere Rationalität des Verzichts auf ein Streben nach perfekter Rationali-
tät vermittelt. Ausgangspunkt hierbei ist die Beobachtung, dass vielerlei Hand-
lungen  auf  der  einen  Seite  durchaus  nutzenbezogen,  also  nicht  norm-  oder
identitätsorientiert oder auch emotional bestimmt sind, auf der anderen Seite
jedoch eine rationale Wahl der Art und Weise der Nutzenverfolgung im jeweili-
gen Handeln nicht einmal ansatzweise - wie noch in Fällen begrenzter Ratio-
nalität - vorliegt (Monroe 1991: 20/21; Enste 1998). Ein Beispiel ist etwa die Art
und Weise, wie jemand einen eingeübten Ablauf der samstäglichen Erledigun-
gen Woche für Woche und Jahr um Jahr, manchmal jahrzehntelang durchhält:
zu einer bestimmten Zeit aufsteht, zunächst frühstückt und dabei die Zeitung liest.

„standard operating procedures“

 Ein  anderes  Beispiel
sind die „standard operating procedures“ (Nelson/Winter 1982) in Organisatio-
nen - also etwa die einzelnen Schritte, die die Sachbearbeiter in einer Behörde
einhalten,  wenn  sie  bestimmte immer wieder anfallende Aufgaben erledigen.
Ein Teil dieser Schritte ist zwar durch Normen vorgegeben, u.a. durch gesetz-
liche Vorschriften. Aber andere Aspekte des Ablaufmusters haben sich ohne
normative  Bindung  einfach  im  Laufe  der  Zeit  eingespielt  und  werden  auch
beim  Wechsel  von  Mitarbeitern  immer  weiter  tradiert.  In  beiden  Beispielen
exekutieren Akteure mehr oder weniger komplexe, relativ starre Handlungsfol-
gen, die sich als je individuelle oder kollektive Routinen habitualisiert haben.

Habitualisierung bedeutet eine extreme Reduktion von Beobachtungs- und
Reflexionsaufwand, weil man von je situativen Besonderheiten, die immer wie-
der ein andersartiges Handeln nahelegen würden, absieht

Verzicht auf situative Nutzenmaximierung

Verzicht auf situative Nutzenmaximie-
rung geht aber eben damit einher, dass die Informationskosten, also im Bei-
spiel  die  ständige  Beobachtung  der  anderen  Kunden, minimiert werden. Ge-
nau daraus ergibt sich dann ein insgesamt durchaus effizientes Handeln - und
solange es auch bezüglich seiner Effektivität zumindest das Niveau von „satis-
ficing“ erreicht, ist es dann entsprechend rational. Genau das begründet ja ein
„Lob der Routine“ (Luhmann 1964b): dass sie nur selten zum besten Ergebnis,
aber in der Regel ohne großen Entscheidungsaufwand zu ganz brauchbaren
Ergebnissen  führt.  Nicht  zuletzt  sind  zumindest  kollektive  Routinen  auch  in
dem  Sinne  brauchbar,  dass  sie  als  sozial  geteilte  nicht  sonderlich  begrün-
dungsbedürftig  sind,  sondern  ähnlich  wie  normkonformes  Handeln  spontane
Zustimmung  anstatt  Widerspruch  ernten.

 „habits“

Esser  zieht  aus  diesen  Überlegungen  den  Schluss,  dass  solche  „habits“,
obwohl im Handeln selbst das genaue Gegenteil einer rationalen, nämlich gut
informierten  und  kalkulierenden  Wahl,  im  Ergebnis  sehr  wohl  zumindest  be-
grenzt rational sind. Sie stellen für ihn damit nicht etwa ein Phänomen dar, das
der  Rational-Choice-Perspektive  entgegengehalten  werden  kann,  sondern
bestätigen diese gerade. Denn die Routinen sind - wie auch Esser (1990: 238)
herausstellt  -  „...  (meist)  relativ  unaufwendig,  sie  sind  (meist)  relativ  effizient

und sie finden (häufig) eine zusätzliche normative Stütze.“ Von daher gilt für
einen  Akteur,  dass  da,  wo  er  über  Routinen  verfügt,  „...  das  ‘Maximieren’  in
Bezug auf alle denkbaren Alternativen gegen die Regeln der Rationalität (im
Sinne des ökonomischen Umgangs mit knappen Mitteln) verstößt.“ 60 

Solch rational nutzenorientiertes Handeln sind Routinen allerdings nur unter bestimmten  Bedingungen

Zum  einen  kann  dies  der  Fall  sein,  wenn  es  eine
immer  wieder  eingeschaltete  Begleitrationalität  gibt  -  wenn  sich  jemand  zum
Beispiel  im  Supermarkt  sagt,  dass  er  auch  dieses  Mal  wieder  dieselbe Bier-
marke  kauft,  weil  er  damit  ganz  zufrieden  und  eine  mögliche  noch  bessere
Wahl zu aufwendig ist. Die individuelle oder soziale Vergewisserung und Be-
stätigung einer Routine als hinreichend effektiv und effizient macht diese zur
bewussten  Wahl.  Zum  anderen  kann  es  auch  eine  Anfangsrationalität  der
Wahl einer Routine geben. Jemand reflektiert und kalkuliert einen bestimmten
Handlungsanlass beim ersten Mal gründlich, sucht sich zum Beispiel von der
neuen  Wohnung  den  besten  Weg  zur  Arbeit,  um  fortan  nie  wieder  darüber
nachdenken zu müssen.

 „procedural  rationality“

 Nicht
alle Routinen weisen eine derartige initiierende oder intermittierende „procedu-
ral  rationality“  (Simon  1976)  auf.  Es  gibt  auch  Routinen,  die  von  Anfang  an
nichts als dumpfe Gewohnheiten gewesen und dies auch geblieben sind. Sol-
che Routinen liegen jenseits des Anwendungsbereichs des Homo Oeconomi-
cus - auch dann, wenn sie eine hohe Ergebnisrationalität für den Akteur auf-
weisen. Einiges von dem, was Weber als „traditionales Handeln“ bezeichnet,
stellt solche an der Grenze zum bloßen Verhalten angesiedelten Routinen dar.

Über  die  Begleitrationalität  von  Routinen  kann  auch  deren  Problematisierung einsetzen

Über  die  Begleitrationalität  von  Routinen  kann  auch  deren  Problematisie-
rung einsetzen, sobald die Handlungsergebnisse nicht länger dem Anspruchs-
niveau  des  „satisficing“  genügen.  Wer  sich  zum  Beispiel  angewöhnt  hat, mit
dem Auto zur Arbeit zu fahren, und lange keinen Gedanken an irgendwelche
Alternativen verschwenden musste, kann irgendwann gewahr werden, wie die
Parkmöglichkeiten  in  der  Nähe des Arbeitsortes immer knapper werden.

Zunächst  untergründig,  gleichsam  vorbewusst  verschiebt  sich  die  Kosten-
Nutzen-Bilanz der Routine zum Negativen - etwa indem man einen immer wei-
teren Fußweg vom Parkplatz zum Arbeitsort hinnehmen oder morgens immer
länger herumkurven muss, bis man einen Parkplatz gefunden hat. Eine ganze
Weile kann sich so eine schleichende Anspruchssenkung vollziehen, bis dem
Akteur - meist durch ein Schlüsselereignis - bewusst wird, wie suboptimal sei-
ne Routine längst geworden ist. Er kommt vielleicht zu einer wichtigen Bespre-
chung zu spät, weil er wieder mal vergeblich einen Parkplatz sucht. Das kann
dann  der  Anlass  für  eine  kalkulierende  Situationsbetrachtung  werden  und  in
eine rationale Handlungswahl münden - oft die Wahl einer neuen Routine, zum
Beispiel den Kauf einer Jahreskarte für den öffentlichen Nahverkehr, was als
Selbstbindung  weiteres  Nachdenken  wieder  überflüssig  macht.  So  kann  Be-
gleitrationalität  in  Anfangsrationalität  übergehen,  und  diese  dann  wieder  in
Begleitrationalität, usw.

Hoch- /Niedrigkostensituationen

Ein  dritter  Einwand  gegen  den  Homo  Oeconomicus  zielt  darauf  ab,  dessen
Einsatzbedingungen  einzugrenzen.  Dieses  Akteurmodell  -  so  Reinhard  Zintl
(1989) in Anlehnung an Spiro Latsis - kann Handeln nur in Hochkostensituati-
onen erklären, während es auf Niedrigkostensituationen nicht anwendbar ist.

Dieser  Einwand  ist  bei  einigen  der  vorausgegangenen  Beispiele  implizit  zur
Sprache gekommen. Eine Hochkostensituation ist eine solche, bei der für den
betreffenden  Akteur  subjektiv  viel  auf  dem Spiel steht. Er ist sich also dar-
über  bewusst,  dass  er  durch  sein  Handeln  einen  großen  Nutzen  realisieren
bzw. große Kosten vermeiden kann - wenn er das Richtige tut! In Niedrigkos-
tensituationen geht es demgegenüber für den Handelnden nicht um sehr viel.

Niedrigkostensituation vs Hochkostensituationen

Sich  als  Akteur  in  einer  Niedrigkostensituation  zu  befinden  bedeutet  zu-
nächst, dass man keinen Druck verspürt, sich im Sinne einer rationalen Hand-
lungswahl  besonders  anzustrengen,  also  etwa  den  Aufwand  einer  größeren
Informationsbeschaffung zu betreiben. So dürfte jemand, der in seinem Bier-
geschmack nicht sonderlich wählerisch ist, sondern dem fast alle Sorten ganz

gut schmecken, keinen Grund sehen, warum er sich großes Kopfzerbrechen
vor dem Regal im Supermarkt machen sollte. Hochkostensituationen hingegen
fixieren die Aufmerksamkeit des Akteurs. Ein ganz bestimmtes Interesse sticht
ins Auge, und alles andere verblasst. Genau diese Fokussierung der Nutzen-
komponente ermöglicht wiederum eine Rationalitätssteigerung. Wenn mir zum
Beispiel  ein  Dutzend  verschiedener  Dinge durch den Kopf schwirren, die ich
alle erreichen will und irgendwie wichtig finde, werde ich kaum eine dauerhafte
und  konsistente  Handlungsplanung  zustande  bringen.  Bin  ich  aber,  wie  zum
Beispiel ein Spitzensportler, in eine harte Konkurrenz mit anderen Athleten um
Siege, Publikumsgunst, Medienaufmerksamkeit, Förder- und Sponsorengelder
eingespannt, vermag ich eine geradlinigere Karriereplanung vorzunehmen als
jemand, der zum Beispiel unter allen möglichen Gesichtspunkten überlegt, ob
und was er studieren soll, und oft nur eine ziemlich erratische Wahl trifft.

Fazit H/T Kostensituation

Je  mehr eine Situation somit für den Akteur unter Nutzengesichtspunkten
eine Hochkostensituation darstellt, desto stärker ist er geneigt, sich als Homo
Oeconomicus zu verhalten, also die einer rationalen Nutzenverfolgung entge-

genstehenden  Handlungsantriebe  hintanzustellen  -  sofern  nicht  einer  von  ih-
nen  sich  ähnlich  stark  aufdrängt.  Der  Akteur  wird  dann  seinen  Nutzen  und
nicht Normbefolgung, Identitätsbehauptung oder das Ausleben von Emotionen
zum primären Kriterium der Handlungswahl erheben und sich zugleich um eine
möglichst rationale Auswahl dessen, was er tut, bemühen. Letzteres bedeutet,
dass er sich anstrengen wird, zeitliche, sachliche und soziale Rationalitätsbe-
grenzungen  dort,  wo  es  ihm  überhaupt  möglich  ist,  und  so  weit  wie  es  ihm
möglich ist, zu überschreiten. Er wird sich also mehr Zeit nehmen, um gründ-
lich zu überlegen, was er tut; er wird seine Informationsbasis zielstrebig erwei-
tern;  und  er  wird  auch  Konflikte  und  aufwendigere  Konsensbeschaffung  in
Kauf nehmen, um das durchzusetzen, was er für richtig hält.

Rationalitätsfiktionen

Einführung

Die bisher behandelten drei Einwände gegen den Homo Oeconomicus haben
sich jeweils so wenden lassen, dass sie die theoretischen Vorstellungen über
eine  rationale  Handlungswahl  relativieren.  Akteure  handeln  fast  immer  nur
begrenzt rational, und dies oft auch in Form von Routinen; und der Druck zum
rationalen Handeln ist umso geringer, je weniger Akteure sich in einer Hoch-
kostensituation befinden. Der jetzt anzusprechende vierte Einwand geht über

diese Relativierungen hinaus und fragt sich: Was tut der Homo Oeconomicus
in Situationen sehr hoher, ihn so überfordernder Komplexität, dass noch nicht
einmal  mehr  begrenzt  rationale  oder  inkrementalistische  Handlungswahlen
möglich sind? Muss der Anspruch auf Rationalität dann gänzlich aufgegeben
werden, oder gibt es ein rationales Entscheiden auf sub-inkrementalistischem
Niveau? Es zeigt sich, dass Akteure auch unter Bedingungen, die selbst be-
grenzte Rationalität erschweren, mit den ihnen zugemuteten Entscheidungen
rational umgehen können, indem sie auf Rationalitätsfiktionen rekurrieren.

Rationalitätsfiktion

Rationalitätsfiktion heißt: Vieles Handeln, das als rational deklariert wird, tut
nur so. Wir treten gegenüber anderen so auf, als ob wir eine rationale Hand-
lungswahl  vornähmen,  und  wir  glauben  uns  das  nicht  selten  sogar  selbst.
Nicht nur die Fremd-, sondern auch die Selbstbeobachtung des Handelns un-
terliegt  einer Rationalitätsfiktion; diese ist also oft als Selbsttäuschung ange-
legt. Aber sogar wenn alle Beteiligten darüber wissen, dass es mit der rationa-
len  Wahl  nicht  weit  her  ist,  wird  die  gemeinsame  Rationalitätsdarstellung
wechselseitig  taktvoll  aufrechterhalten  (Turner  1991:  99/100).  Man  fragt  sich
natürlich, warum Akteure so etwas wider besseres Wissen inszenieren sollten.
Hintergrund  dessen  ist  die  bereits  geschilderte  Rationalisierung  von  immer
mehr gesellschaftlichen Handlungsfeldern, also der kulturelle Druck zu rationa-
len  Entscheidungen.  Dementsprechend  kann  man  davon  ausgehen,  dass  in
der  modernen  Gesellschaft  im  Rahmen  des  diesbezüglich  überhaupt  Mögli-
chen  entscheidungsförmig  gehandelt  wird. Aber  genau  hier  liegt ja die Crux.
Was,  wenn  das  den  Akteuren  in  dieser  Hinsicht  kulturell  Abverlangte  auch
nicht  annäherungsweise  erfüllbar  ist?  Diese  Kluft  zwischen  dem  als  erstre-
benswert  hingestellten  Rationalitätsniveau des Handelns und dem Möglichen
wird dann durch Rationalitätsfiktionen überbrückt.

Rationalitätsfiktion

Ein  Beispiel  für  eine  Rationalitätsfiktion  ist  etwa  ein Akteur,  der  sich  dazu
entschließt,  regelmäßig  Sport  zu  treiben,  um  die  eigene  Gesundheit  zu  för-
dern. Dies gilt heutzutage als rationale Entscheidung. Dabei hat der Betreffen-
de überhaupt nicht länger darüber nachgedacht, welche verschiedenen Wege
es für ihn speziell geben könnte, gesünder zu leben, geschweige denn: ob es
sich in Konkurrenz mit anderen Lebenszielen überhaupt lohnt, stärker auf die
eigene Gesundheit zu achten. Vielleicht ist der Person ja die eigene berufliche
Karriere viel wichtiger als ein langes Leben; oder sie müsste bei genauerem
Hinsehen entdecken, dass ihr ausschweifendes Sexualleben oder ihre Freude
an üppigem Essen und Trinken gar nicht zu einer Prioritätensetzung für Ge-
sundheit  passt. Und natürlich wird darüber hinaus unterstellt, dass der Wir-
kungszusammenhang  zwischen  Sporttreiben  und  Gesundheitssteigerung  kri-
tisch geprüft und abgesichert ist. 64  Doch nichts davon ist tatsächlich der Fall.
Beim Rekurs auf Rationalitätsfiktionen glaubt aber auch und gerade der betref-
fende  Akteur  selbst,  sich  rational  entschieden  zu  haben  -  und  zwar  in  dem
Sinne, dass er davon überzeugt ist, dass diejenige Alternative, die er auf der
Grundlage  der  Rationalitätsfiktion  wählt,  dieselbe  ist,  auf  die  er  auch  nach
aufwendigen eigenen Überlegungen gekommen wäre.

Komplexitätsreduktion

Solche  Rationalitätsfiktionen  wirken für den betreffenden Akteur komplexi-
tätsreduzierend:  Sie  empfehlen  für  bestimmte  Entscheidungsprobleme  be-
stimmte Handlungswahlen, und diese Empfehlung tritt so suggestiv auf, dass
sich  der  Akteur  das,  was  eigentlich  eine  Entscheidung  ausmacht,  subjektiv
guten Gewissens sparen kann. In zeitlicher Hinsicht erspart der Rückgriff auf
eine Rationalitätsfiktion eigene Such- und Bewertungsprozesse und verschafft
dem Akteur so große Zeitgewinne. In sachlicher Hinsicht leistet eine Rationali-
tätsfiktion  Unsicherheitsabsorption:  Anstatt  benötigte  Informationen  mit  gro-
ßem Aufwand zu beschaffen und sich dabei erst richtig zu vergegenwärtigen,
wie wenig man über seine Entscheidungssituation weiß, hat man ohne größe-
res Kopfzerbrechen ein klares Bild davon, was zu tun ist. Und da die Wahl bei
eigener  Beschaffung  von  Informationen  -  so die Unterstellung - nicht anders
ausgefallen  wäre,  nur  viel  länger  gedauert  hätte,  kann  der  Verzicht  auf  eine
rationale Entscheidung als rationale Entscheidung angesehen werden.

 Rationalitätsfiktionen in der Sozialdimension

In sozialer Hinsicht trägt der Rückgriff auf eine Rationalitätsfiktion dazu bei,
eine  Handlungswahl  leichter  gegen  potenziellen  Widerstand  durchzusetzen.
Vor allem aber erfüllen Rationalitätsfiktionen in der Sozialdimension legitimato-
rische Funktionen und sind besonders dann gefragt, wenn irgendetwas schief
gegangen  ist.  Erfolgreiches  Handeln  legitimiert  sich  durch  seine  Ergebnisse
selbst. Wenn aber angestrebte Ziele nicht oder nur partiell erreicht oder zwar
erreicht,  aber  mit  erheblichen  negativen  Nebeneffekten  erkauft  worden  sind,
sieht  sich  der Akteur bohrenden Fragen ausgesetzt, und dann kann ihm der
Verweis darauf helfen, dass er sich doch darum bemüht habe, eine rationale
Handlungswahl zu treffen - und das heißt eben: dass er das getan habe, was
alle für seine Situation als rationales Handeln ansehen.

Generalisierungsniveaus von Rationalitätsfiktionen

Rationalitätsfiktionen  kommen  auf  unterschiedlichen  Generalisierungsni-
veaus vor. Es gibt sehr spezifische Rationalitätsfiktionen, die sich auf eng um-
rissene Entscheidungsprobleme beziehen. Ein Beispiel dafür wäre die „gängi-
ge Vorstellung..., daß Organisationen EDV nutzen...“ müssen: „Eine Organisa-
tion, die das nicht tut, erscheint uns unmodern, nicht mehr zeitgemäß, wenig
rational.“ Je höher das Gene-
ralisierungsniveau einer Rationalitätsfiktion, desto weiter ist ihr Einsatzbereich,
und desto mehr Akteure müssen sie subjektiv plausibel finden, damit sie - in
der Sprache der Juristen - als „herrschende Meinung“ inthronisiert ist, auf die
dann jeder einzelne bei seinen Handlungswahlen, ohne weiter nachdenken zu
müssen,  zurückgreifen  kann.  Ein  sehr  hohes  Generalisierungsniveau  weist
zum Beispiel die in der westlichen Moderne verbreitete Rationalitätsfiktion auf,
dass es angesichts eines Problems besser ist, irgendetwas zu tun, als untätig
zu  bleiben.  Solche  hochgradig  generalisierten  Rationalitätsfiktionen  beziehen
sich dann auf jede Art von Entscheidungen.

Dass  derartige  Rationalitätsfiktionen  oft  genug  augenzwinkernd  akzeptiert werden, liegt vor allem daran

Dass  derartige  Rationalitätsfiktionen  oft  genug  augenzwinkernd  akzeptiert
werden, liegt vor allem daran, dass sie es erlauben, den in der modernen Ge-
sellschaft tief verwurzelten Glauben an die rationale Beherrschbarkeit und Ge-
ordnetheit der Welt aufrechtzuerhalten, obwohl man immer wieder mit Enttäu-
schungen  konfrontiert  wird  und  vielleicht  sogar  der  Leidtragende  dessen  ist.
Wenn  man  jemandem  trotz  seines  Scheiterns  abnimmt,  dass  er  rational  ge-
handelt hat, ist das beruhigender, als die Möglichkeit ins Auge zu fassen, dass
die  meisten  oder  alle  Menschen  um  einen  herum  sich  um  Rationalität  über-
haupt nicht scheren. Denn solange man als moderner Mensch davon ausgeht,
dass  rationales  Handeln  die  meisten  Probleme  besser  bewältigt  als  nicht-
rationales,  liefe  die  Annahme  eines  weit  verbreiteten  Rationalitätsverzichts

darauf  hinaus,  dass  die  Welt um einen herum höchst unvollkommen und in-
stabil beschaffen und womöglich sogar dem unrettbaren Verfall preisgegeben
sein könnte - was einen so grundlegenden Zweifel am modernen Fortschritts-
vertrauen  bedeutete,  dass  man  sich  diesen  Gedanken  schwerlich  leisten
möchte. Statt dessen nutzt man die Tatsache, dass die Rationalitätsfiktionen,
wie alle Fiktionen, niemals pure Täuschungen sind, sondern stets eine gewis-
se Plausibilität für sich reklamieren können, und verzichtet in einer auf Selbst-
täuschung hinauswollenden Gutgläubigkeit auf allzu kritisches Hinterfragen.

Genese von Rationalitätsfiktionen

Einführung

Gerade auch die moderne Gesellschaft stellt deshalb ein immenses Reper-
toire  an  Rationalitätsfiktionen  bereit,  so  dass Akteure  zwar  vielleicht  nicht  in
jeder,  aber  doch  in  vielen  und  immer  mehr  Situationen  darauf  zurückgreifen
können, ohne dass sie groß danach suchen müssten. Neben einem partiellen
Überangebot findet sich in immer mehr Bereichen inzwischen auch eine zeitli-
che Dynamik rasch wechselnder Moden von unterschiedlichen Rationalitätsfik-
tionen. Man denke etwa an Entscheidungsprobleme wie eine gesunde Ernäh-
rung, für die die Rationalitätsfiktionen buchstäblich jedes Jahr wechseln - nicht
zuletzt, damit immer neue Ratgeberliteratur sich verkaufen lässt.

Genese von Rationalitätsfiktionen

Da stellt sich die Frage nach Genese und Reproduktion von Rationalitätsfik-
tionen. Sie entstehen erstens daraus, dass Akteure, die bestimmte Entschei-
dungen  zu  treffen  haben,  in  Konstellationen  wechselseitiger  Beobachtung 66  
diejenigen  anderen Akteure  in  den  Blick  nehmen,  die  bereits  vor  demselben
oder  zumindest  einem  ähnlichen  Entscheidungsproblem  gestanden  haben,
und sich anschauen, was jene getan haben und was dabei herausgekommen
ist;  und  dann  treffen  sie  ihre  eigenen  Entscheidungen  so, wie diejenigen sie
getroffen haben, die nach ihrer Einschätzung am besten mit dem betreffenden
Problem zu Rande gekommen sind. 67  Wenn viele oder sogar alle Akteure so
vorgehen,  entstehen  Rationalitätsfiktionen  aus  dem  kollektiven  Kopieren  von
Erfolgsrezepten - genauer gesagt, von Entscheidungen, die von einer Vielzahl
von Akteuren  als  erfolgreich  angesehen  werden.  So  kopieren  beispielsweise
Unternehmen  über  Branchen  oder  nationale  Wirtschafträume  hinweg  „Lean
Management“  oder  irgendein  anderes  Beraterkonzept,  das  gerade  en  vogue ist

Zweitens  werden  Rationalitätsfiktionen  durch  die  schon  angesprochenen
Berater und durch Experten bzw. durch die Beeinflussung der Akteure durch
Expertenwissen hervorgebracht und aufrechterhalten. Solange eine Rationa-

litätsfiktion  nur  durch  wechselseitige  Beobachtung  unter  Entscheidungshan-
delnden gewonnen wird, haftet ihr unweigerlich eine gewisse Unsicherheit des
Amateurs an und fehlt ihr die Legitimation - selbst wenn noch so viel Erfahrung
dahinter steckt und sie vielfach bestätigt wird.

Expertenwissen

 Legitimation bekommt eine Rationalitätsfiktion  erst  dadurch,  dass  sie  von  anerkannten  und  Vertrauensvor-
schuss  genießenden  Beratern  als  Expertenwissen  repräsentiert  und  so  ver-
bürgt  wird,  oder  dadurch,  dass  Experten  auf  eine  solide,  wenn  möglich  wis-
senschaftlich abgesicherte Empirie verweisen und theoretische Begründungen
dafür darzulegen vermögen, warum das von der Rationalitätsfiktion empfohle-
ne Entscheidungshandeln Erfolg versprechend und anderen Alternativen über-
legen  ist.  Es  ist  also  alles  andere  als  Zufall,  dass  die  moderne  Gesellschaft
auch die Sozialfigur des beratenden Experten in prinzipiell allen Lebensberei-
chen hervorgebracht hat, das Beratungsgeschäft floriert, und eine Ratgeberli-
teratur für alle Lebenslagen aus dem Boden geschossen ist, wie jeder Besuch
einer Bahnhofsbuchhandlung beweist.

 ideologische  Verbrämung

Überall dort, wo tatsächlich nicht rational gehandelt wird, sondern lediglich
Rationalitätsfiktionen  bestehen,  trägt  eine  soziologische  Handlungserklärung
mit Hilfe des Homo Oeconomicus zur Bestärkung dieser Fiktionen bei, ist also
nicht  analytische  Durchdringung,  sondern  ideologische  Verbrämung  sozialer
Wirklichkeit.

mangelnde Theoretisierung der Nutzenkomponente

Der fünfte und letzte hier behandelte Einwand gegen den Homo Oeconomicus
richtet sich nicht, wie die bisherigen, auf die eine oder andere Weise gegen die
Rationalitätsunterstellung  dieses  Akteurmodells.  Wenn  man  davon  ausgeht,
dass Akteure rational nutzenorientiert handeln, stellt sich vielmehr auch die im
Modell des Homo Oeconomicus zunächst nicht vorgesehene Frage: Wie ge-
langen die Akteure zu ihren Nutzenvorstellungen?

mangelnde  Theoretisierung der Nutzenkomponente

Der HO im konkreten Fall

So lange über Akteure „im allge-
meinen“  gesprochen  wird,  kann  man  ihnen  höchstens  -  mehr  oder  weniger
beliebig - eine inhaltsleere Handlungsstrategie wie Maximierung des absoluten
oder des relativen eigenen Nutzens, Minimierung der absoluten oder relativen
eigenen  Verluste  oder  auch  Maximierung  gemeinsamen  Nutzens  bzw.  Mini-
mierung  gemeinsamer  Verluste  einer  Kollektivität  zuschreiben  (Mac  Crim-
mon/Messick 1976; Scharpf 1997: 84-89). Diese abstrakten Formeln können
zur Erklärung konkreten sozialen Handelns so noch gar nichts beitragen, weil
immer erst substantiell spezifiziert werden muss, worin denn in einer bestimm-
ten gesellschaftlichen Situation Nutzen und Verluste eines Akteurs bestehen.