FUH SS15
Set of flashcards Details
Flashcards | 91 |
---|---|
Language | Deutsch |
Category | Psychology |
Level | University |
Created / Updated | 23.07.2015 / 26.11.2018 |
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Normkonformität als Modus der Handlungsselektion
Auch Normkonformität als Modus der Handlungsselektion ist keineswegs
durchgängig auf Kosten/Nutzen-Kalkulationen des Akteurs zurückzuführen.
Zumeist vollzieht sich die Ausrichtung des eigenen Handelns an den von Be-
zugsgruppen vermittelten Normen gleichsam automatisch, ohne näheres
Nachdenken oder gar Abwägen im Vergleich zu nicht normkonformen Hand-
lungsalternativen. Der Akteur folgt, in der griffigen Formulierung von James
March und Johan Olsen, einer „logic of appropriateness“, tut also schlicht das,
was sich für ihn in der betreffenden Situation gehört, und hat keinerlei „logic of
consequentiality“ im Sinn, die ihn kosten- und nutzenbewusst machte
(March/Olsen 1989). Die Herausforderung der Rational-Choice-Perspektive an
den Homo Sociologicus ist allerdings in diesem Punkt nicht gänzlich von der
Hand zu weisen. Es gibt unzweifelhaft auch jene Art von Normkonformität, die
allein oder vorrangig auf der kalkulierenden Vermeidung von negativen Sank-
tionen beruht. Hier kommt, genau besehen, im Gewande des Homo Sociologi-
cus der Homo Oeconomicus daher.
Versuch der Assimilierung des HO durch den HS
In der Auseinandersetzung zwischen Homo Sociologicus und Homo Oeco-
nomicus gibt es aber nicht nur den gerade behandelten „ökonomischen Impe-
rialismus“, sondern auch - zumeist defensiv dagegen gerichtete - umgekehrte
Versuche, den Homo Oeconomicus zum Spezialfall des Homo Sociologicus zu
erklären. Diese analytische Vereinnahmung argumentiert so, dass rationale
Nutzenorientierung auch nur eine Norm sei, so dass Rational Choice ebenfalls
eine Form von Normkonformität darstelle. In immer mehr Handlungsfeldern
haben Akteure dem Imperativ zu genügen, dass eine zweckrationale Kos-
ten/Nutzen-Abwägung ihre Handlungswahl bestimmt - von wirtschaftlichen
Investitionsentscheidungen bis zur Familienplanung. Den Akteuren wird abver-
langt, dass sie ihre Handlungen dementsprechend sachlich begründen - und
können sie das im Einzelfall nicht, wird ihnen das als „Unvernunft“, „Disziplin-
losigkeit“, „Gedankenlosigkeit“ oder „Fahrlässigkeit“ vorgehalten und zumin-
dest teilweise auch negativ sanktioniert.
Aber ist rationale Nutzenorientierung deshalb wirklich eine Norm?
Wenn,
dann wäre es jedenfalls eine so diffuse Norm, dass man ihr nur geringe Hand-
lungsinstruktivität zusprechen könnte. „Sei rational!“ und „Maximiere deinen
Nutzen!“ sind für sich genommen ziemlich nichtssagende Aufforderungen, die
sich in ihrer Orientierungsleistung für einen Akteur nicht mit spezifischen Rol-
lenerwartungen, wie sie ihm von seinen Bezugsgruppen vermittelt werden,
vergleichen lassen. Genau besehen handelt es sich bei diesen beiden Auffor-
derungen zudem gar nicht um Sollensvorgaben. Dem Handelnden wird nicht
gesagt, dass er etwas Bestimmtes tun bzw. lassen soll, sondern er wird für die
Handlungswahl auf seine eigenen Ziele und bei deren Verfolgung auf seine
eigene Klugheit und Findigkeit verwiesen.
Stattdessen kann es aber vorkommen, dass der Akteur von anderen unter
Druck gesetzt wird, sich bei seiner rationalen Nutzenorientierung gefälligst
anzustrengen - zum Beispiel ein Manager von den Aktionären des Unterneh-
mens. Diese anderen sind dann aber keine Bezugsgruppe, die normative Er-
wartungen an den Betreffenden richtet, sondern es handelt sich um Erfolgser-
wartungen mächtiger Gegenüber, die meist deshalb darauf bestehen, weil ihr
eigener Nutzen von der rationalen Handlungswahl des Akteurs abhängt.
Weder lässt sich also der Homo Sociologicus als Spezialfall des Homo Oe-
conomicus angemessen verstehen, noch umgekehrt. Es handelt sich um zwei
distinkte analytische Akteurmodelle - was wohlgemerkt nicht ausschließt, dass
reales Handeln manchmal eine so ausgeglichene Mischung von Norm- und
Nutzenorientierung sein kann, dass beide Modelle miteinander verknüpft wer-
den müssen - siehe Kapitel 6.
Relativierungen und Rahmungen rationaler Nutzenverfolgung
Der Homo Oeconomicus ist ebensowenig wie der Homo Sociologicus ohne
Kritik geblieben. Zum einen hat sich die Kritik in mehreren Hinsichten an der
Rationalitätsunterstellung entzündet. Handeln Akteure hinsichtlich der Auswahl
ihrer Handlungsziele und der Abwägung ihrer Handlungsalternativen sowie
hinsichtlich der Mittelwahl tatsächlich so rational, wie es das Modell behauptet?
Woher bezieht der Homo Oeconomicus eigentlich
die sein Handeln leitenden Nutzenvorstellungen?
perfekte Rationalität
Ein erster Einwand ist bereits in der Wirtschaftswissenschaft selbst gegen den
Homo Oeconomicus vorgebracht worden. Der Einwand besagt, dass reale
Handelnde dann, wenn sie zwischen ihren Handlungsalternativen wählen,
nicht annähernd so rational vorgehen, wie das Modell behauptet. Diese Kritik
geht von Überlegungen dazu aus, welche Anforderungen eine subjektiv per-
fekt rationale - also optimale - Handlungswahl des Homo Oeconomicus zu
erfüllen hätte. Sechs Komponenten dieses Vorgangs können hierbei analytisch
unterschieden werden: Problemdiagnose, Kriterienformulierung, Alternativen-
suche, Alternativenbewertung und -auswahl, Implementation und Evaluation.
Aus der Perspektive des Akteurs hieße perfekte Rationalität
Aus der Perspektive des Akteurs hieße perfekte Rationalität dann, wenn man
seine Handlungswahl in diese einzelnen Schritte zerlegt: Ein Akteur müsste
seine Situation ständig auf Entscheidungsanlässe, etwa Probleme, hin sondie-
ren, und dabei auch vorausschauend noch gar nicht aktuelle Anlässe reflektie-
ren, so dass Probleme sich gar nicht erst zuspitzen können; er müsste über
eine vollständige und transitiv geordnete Liste von Entscheidungskriterien für
den jeweiligen Anlass verfügen, er müsste sich bei jedem Anlass umfassend
auf die Suche nach möglichen Handlungsalternativen begeben; er müsste
sodann anhand der Kriterienliste alle Alternativen bewerten, um die beste zu
finden, die er dann in die Tat umsetzte; und dies wiederum müsste er zielstre-
big tun, d.h. ohne sich bei der Umsetzung seiner Handlungswahl durch auftre-
tende Hindernisse oder andere Handlungsalternativen beirren zu lassen,
selbst wenn Letztere bei seiner Alternativenbewertung nur knapp hinter der
gewählten Alternative lagen. Schließlich wird der Akteur noch mit den Wirkun-
gen seiner Handlung konfrontiert. Eine perfekt rationale Handlungswahl zeich-
nete sich im Hinblick auf ihre Wirkungen dadurch aus, dass der Homo Oeco-
nomicus bei negativen Ergebnissen seine Handlungswahl unverzüglich zu ei-
nem neuen Entscheidungsproblem machen müsste.
Komplexität von Entscheidungssituationen
Die wesentliche Ursache für die fast immer nicht perfekte Rationalität des nut-
zenverfolgenden Handelnden liegt in der Komplexität der Entscheidungssitua-
tionen, denen sich der Homo Oeconomicus ausgesetzt sieht. Handlungswah-
len sind für diesen Akteur niemals simpel, weil es immer ein mehr oder weni-
ger weites Spektrum an zu beachtenden Situationsbedingungen und zu antizi-
pierenden Wechselwirkungen zwischen diesen Situationsbedingungen sowie
immer mehrere mögliche Handlungsalternativen gibt. Das Handeln des Homo
Oeconomicus muss entsprechend situationssensibel sein.
Die Komplexität von Entscheidungssituationen und die entsprechende Auf-
wendigkeit von rationalen Handlungswahlen lässt sich generell in drei Dimen-
sionen auffächern, zwischen denen starke Wechselwirkungen bestehen:
Sach-, die Sozial- und die Zeitdimension
Sachdimension
Die Sachdimension komplexer Entscheidungssituationen ist deren Informa-
tionsgehalt. Hier geht es um die Menge und die Verknüpfung derjenigen In-
formationen, die ein Akteur benötigt, um sich ein umfassendes und hinrei-
chend vertieftes Bild der Situationsbedingungen zu machen. Die rationale
Handlungswahl des Akteurs hängt in dieser Dimension von einer möglichst
vollständigen Erfassung und Verarbeitung der relevanten Informationen
über die Situation ab. Denn nur bei totaler Informiertheit ist garantiert, dass
die gewählte Handlung das Entscheidungsproblem nicht nur oberflächlich
und partiell bearbeitet oder sogar völlig falsch angeht. In der Sachdimensi-
on ist eine rationale Handlungswahl daher immer informationsaufwendig.
Häufig führt dies nicht zur Informationssuche, sondern
geradezu zur Informationsvermeidung (Enste 1998). Zudem ist die Informa-
tionsverarbeitungskapazität von menschlichen Handelnden schon aus ge-
hirnphysiologischen Gründen begrenzt.
Die Sachdimension des Handelns ist daher in
dem Maße komplex, wie die Menge an bedeutsamen Informationen über
die Beschaffenheit einer Situation, die Wirkungszusammenhänge und die
möglichen Handlungsalternativen die Informationsverarbeitungskapazität
des Akteurs überschreitet.
Sozialdimension
Die Sozialdimension besteht darin, dass das Handeln eines Akteurs auf das
Handeln anderer Akteure trifft und mit diesem zusammenwirkt. Die Hand-
lungswahl hängt in dieser Dimension von der Einwirkung und den Reaktio-
nen anderer auf das eigene Handeln ab.
Die Komplexität zeigt sich in der Sozialdimension
entsprechend in zwei Ausprägungen: Zum einen in Gestalt von mangelnder
Erwartungssicherheit. Eine rationale Handlungswahl ist umso schwieriger,
je unsicherer sich der Akteur darüber ist, wie andere agieren bzw. reagieen.
Bei mangelnder Erwartungssicherheit erfährt der Homo Oeconomicus
soziale Komplexität so, dass er hinsichtlich seiner Handlungsentscheidung
gleichsam im Nebel stochert.
In der Sozialdimension ist eine Entscheidung deshalb oft konsens-
aufwendig. Der Akteur muss zum Beispiel gegenüber anderen einen höhe-
ren Rechtfertigungsaufwand für seine Handlungswahl betreiben; und diesen
Bemühungen sind wiederum zeitliche Grenzen gesetzt. Und manche Kon-
flikte lassen sich auf keine Weise schlichten - etwa antagonistische Interes-
sengegensätze, solange die Akteure stur bleiben.
Zeitdimension
In der Zeitdimension sind rationale Handlungswahlen immer zeitaufwendig,
da sie für die Verarbeitung einer Situation einen erheblich größeren Zeitbe-
darf haben als Handlungsformen, die kein längeres Überlegen und Begrün-
den erfordern. Wer viele Lesarten einer Situation durchdenkt und seine
schließlich gewählte Handlungsalternative im Horizont anderer Möglichkei-
ten überdenkt, benötigt für all das mehr Zeit. In der Zeitdimension manifes-
tiert sich die Komplexität von Entscheidungssituationen daher als Zeit-
knappheit. Diese ergibt sich zum einen daraus, dass ein Akteur zu viele
Probleme mehr oder weniger gleichzeitig entscheiden muss. Zum anderen
steht hinter Zeitknappheit nicht selten eine hohe Dringlichkeit der Probleme.
begrenzte Rationalität
Der Homo Oeconomicus will nicht nicht-rational handeln. Sondern für ihn kommt es darauf an, durch
rationale Strategien des nicht-perfekt-rationalen Vorgehens zu versuchen,
komplexen Situationen dennoch ein gewisses Maß an Rationalität abzutrotzen.
Erscheinungsformen begrenzter Rationalität
- Akteure lassen meist Entscheidungsanlässe, insbesondere wenn es sich um Probleme handelt, solange auf sich zukommen, bis sie so drängend sind, dass sie sich nicht länger ignorieren lassen. Ganz offensichtlich drücken sich Akteure solange wie möglich um Entscheidungen herum.
- Akteure verfügen nur über eine mehr oder weniger unvollständige Kriterienliste, die auch selten vollständig transitiv geordnet ist. Insbesondere können die Gewichte einzelner Kriterien manchmal erratisch variieren. Akteure bemühen sich nicht darum, für sich herauszufinden, was ihnen bezüglich des jeweiligen Entscheidungsanlasses auf Dauer in welchem Maße wichtig ist.
- Akteure strengen sich nicht an, die ihnen verfügbaren Entscheidungsalternativen auch nur einigermaßen vollständig zu erfassen. Stattdessen betreiben sie meist eine „simple-minded search“ . Sie begrenzen ihre Suche nach Alternativen der Problembearbeitung auf den engeren Umkreis des Entscheidungsanlasses und ihrer bisherigen Reaktionsmuster auf ähnliche Anlässe, lassen sich also nicht so schnell Neues einfallen.
- Akteure können dann natürlich auch höchstens zufällig die beste Alternative finden und auswählen. Statt eines umfassend vergleichenden „optimizing“ betreiben sie „satisficing“. Sie bewerten jede Alternative aus dem Stand, und sobald sie auf eine stoßen, die ihnen einigermaßen zufriedenstellend erscheint, brechen sie die weitere Suche ab und entscheiden sich für diese Alternative.
Inkrementalismus
Dabei handelt es sich um ein Bündel zusammengehöriger Stra-
tegien, die darauf hinauslaufen, dass Akteure sich bei ihren Handlungswahlen
„durchwursteln“. Sie hangeln sich an Entscheidungsproblemen entlang und
betreiben eine „Politik der kleinen Schritte“.
Die Akteure fixieren Probleme reaktiv, d.h. sie zeichnen sich durch eine abwartende Vorgehens-
weise aus, wodurch ihnen der Aufwand der Problemsuche und -definition erspart bleibt.
Akteure verhalten sich situativ opportunistisch, d.h. sie lassen längerfristige Erwägungen und die Interessen Dritter außer Acht, was zu einer selektiven Prioritätensetzung bei den Entscheidungskriterien führt.
Zudem simplifizieren Akteure Entscheidungssituationen, indem sie die jeweiligen Problemzusammenhänge nicht in ihrer Totalität durchdringen, sondern einzelne leicht zugängliche Faktoren und nur jene mögliche Problemursachen herausgreifen, die sie bereits aus Erfahrung kennen. Akteure zerlegen Probleme in weniger komplexe Teilprobleme, arbeiten diese schrittweise ab und reduzieren damit ursprünglich gegebene Handlungsalternativen.
Sie schränken die Suche nach Problembearbeitungsalternativen auch dadurch ein, dass sie nur solche in den Blick nehmen, die ihnen eine möglichst geringe Situationsveränderung abverlangen.
Und bezüglich der Alternativenbewertung und -auswahl betreiben sie eben „satisficing“, d.h. sie nehmen nicht die beste, sondern die erstbeste Alternative.
Vor allem aber bedeutet Inkrementalismus auch
Mit all dem erhöhen Akteure ihre Chance, rechtzeitig eine Entscheidung zu
treffen und die Komplexität in der Sozialdimension niedrig zu halten. Vor allem
aber bedeutet Inkrementalismus auch, dass die Akteure im Hinblick auf die
Wirkungen ihrer Handlungswahlen eine ambivalente Strategie verfolgen: Sie
denken nicht länger darüber nach, ob sie die beste Antwort auf ein Problem
haben, sondern rechnen von vornherein damit, bei Entscheidungen Fehler zu
machen, die Kriterien für ihre Handlungswahlen immer wieder neu überdenken
zu müssen und Probleme nicht endgültig gelöst zu bekommen. Sie gehen also
davon aus, dass ihre Handlungswahlen provisorisch sind und später neu ent-
schieden werden muss. Eine derartig Probleme ver- und aufschiebende Stra-
tegie kann in Anbetracht komplexer Entscheidungssituationen höchst rational
sein. Dem „Sich-durchwursteln“ liegt durchaus Reflexion und systematisches
Bemühen zugrunde. Es bedeutet kein aufgrund von Unfähigkeit oder Faulheit
des Akteurs hinter dem Idealbild von Rationalität zurückbleibendes Vorgehen.
Der Inkrementalismus stellt damit gerade nicht die Rationalität des Homo Oe-
conomicus in Frage, sondern stellt eine Erweiterung bzw. Modifikation der dem
Akteurmodell unterlegten Rationalitätsvorstellung dar.
Einsetzbarkeit des Akteurmodells Homo Oeconomicus
Trotzdem kann man, wenn man sich nicht nur die Fülle von Phänomenen
begrenzter Rationalität vergegenwärtigt, sondern auch die Ursachen dessen,
sehr wohl skeptisch hinsichtlich der Einsetzbarkeit des Homo Oeconomicus
bei der Erklärung von Handlungswahlen werden. Denn reale Handelnde blei-
ben dann fast immer weit hinter dem Rationalitätsideal des Modells zurück -
was darauf hinausläuft, dass ganz andere Handlungen gewählt werden als die,
die der soziologische Beobachter als rationale Nutzenverfolgung identifiziert.
einer Anreicherung des Homo Oeconomicus durch solche theoretischen Ele-
mente freilich stets erklärungsökonomisch mitbedenken, dass die Handlungs-
analysen dadurch aufwendiger werden. Denn man muss entsprechend mehr
empirische Daten einbeziehen und komplexere theoretische Verknüpfungen
bilden. Ob sich das soziologisch lohnt, hängt vor allem von zweierlei ab:
genau man eine bestimmte Handlung erklären will und wie umfassend man
theoretisch auf das Universum konkreter Handlungsweisen vorbereitet sein
will. Je treffsicherer eine Handlungserklärung sein soll und je weniger man
bereit ist, theoretisch nicht vorgesehene Ausnahmen hinzunehmen, desto
mehr Aufwand muss man bei der Berücksichtigung begrenzter Rationalität
treiben. Begnügt man sich umgekehrt bei einem bestimmten Erklärungsprob-
lem damit, lediglich die Mehrzahl, aber nicht alle der empirisch vorkommenden
Fälle, und auch nur in der groben Richtung der Handlungswahl theoretisch zu
erfassen, kann man sich vielleicht sogar mit dem unmodifizierten Homo Oeco-
nomicus perfekter Rationalität begnügen - etwa dann, wenn es allein darum
geht, zu erklären, warum steigende Mietpreise bei denjenigen Bevölkerungs-
gruppen, die es sich leisten können, die Attraktivität des Hausbaus erhöhen.
rationale Routinen der Nutzenverfolgung
Der zweite jetzt anzusprechende Einwand gegen den Homo Oeconomicus ist
in gewisser Weise eine Radikalisierung der Überlegungen zu Rationalitätsbe-
grenzungen - aber eine Radikalisierung, die besonders deutlich die Einsicht in
die höhere Rationalität des Verzichts auf ein Streben nach perfekter Rationali-
tät vermittelt. Ausgangspunkt hierbei ist die Beobachtung, dass vielerlei Hand-
lungen auf der einen Seite durchaus nutzenbezogen, also nicht norm- oder
identitätsorientiert oder auch emotional bestimmt sind, auf der anderen Seite
jedoch eine rationale Wahl der Art und Weise der Nutzenverfolgung im jeweili-
gen Handeln nicht einmal ansatzweise - wie noch in Fällen begrenzter Ratio-
nalität - vorliegt (Monroe 1991: 20/21; Enste 1998). Ein Beispiel ist etwa die Art
und Weise, wie jemand einen eingeübten Ablauf der samstäglichen Erledigun-
gen Woche für Woche und Jahr um Jahr, manchmal jahrzehntelang durchhält:
zu einer bestimmten Zeit aufsteht, zunächst frühstückt und dabei die Zeitung liest.
„standard operating procedures“
Ein anderes Beispiel
sind die „standard operating procedures“ (Nelson/Winter 1982) in Organisatio-
nen - also etwa die einzelnen Schritte, die die Sachbearbeiter in einer Behörde
einhalten, wenn sie bestimmte immer wieder anfallende Aufgaben erledigen.
Ein Teil dieser Schritte ist zwar durch Normen vorgegeben, u.a. durch gesetz-
liche Vorschriften. Aber andere Aspekte des Ablaufmusters haben sich ohne
normative Bindung einfach im Laufe der Zeit eingespielt und werden auch
beim Wechsel von Mitarbeitern immer weiter tradiert. In beiden Beispielen
exekutieren Akteure mehr oder weniger komplexe, relativ starre Handlungsfol-
gen, die sich als je individuelle oder kollektive Routinen habitualisiert haben.
Habitualisierung bedeutet eine extreme Reduktion von Beobachtungs- und
Reflexionsaufwand, weil man von je situativen Besonderheiten, die immer wie-
der ein andersartiges Handeln nahelegen würden, absieht
Verzicht auf situative Nutzenmaximierung
Verzicht auf situative Nutzenmaximie-
rung geht aber eben damit einher, dass die Informationskosten, also im Bei-
spiel die ständige Beobachtung der anderen Kunden, minimiert werden. Ge-
nau daraus ergibt sich dann ein insgesamt durchaus effizientes Handeln - und
solange es auch bezüglich seiner Effektivität zumindest das Niveau von „satis-
ficing“ erreicht, ist es dann entsprechend rational. Genau das begründet ja ein
„Lob der Routine“ (Luhmann 1964b): dass sie nur selten zum besten Ergebnis,
aber in der Regel ohne großen Entscheidungsaufwand zu ganz brauchbaren
Ergebnissen führt. Nicht zuletzt sind zumindest kollektive Routinen auch in
dem Sinne brauchbar, dass sie als sozial geteilte nicht sonderlich begrün-
dungsbedürftig sind, sondern ähnlich wie normkonformes Handeln spontane
Zustimmung anstatt Widerspruch ernten.
„habits“
Esser zieht aus diesen Überlegungen den Schluss, dass solche „habits“,
obwohl im Handeln selbst das genaue Gegenteil einer rationalen, nämlich gut
informierten und kalkulierenden Wahl, im Ergebnis sehr wohl zumindest be-
grenzt rational sind. Sie stellen für ihn damit nicht etwa ein Phänomen dar, das
der Rational-Choice-Perspektive entgegengehalten werden kann, sondern
bestätigen diese gerade. Denn die Routinen sind - wie auch Esser (1990: 238)
herausstellt - „... (meist) relativ unaufwendig, sie sind (meist) relativ effizient
und sie finden (häufig) eine zusätzliche normative Stütze.“ Von daher gilt für
einen Akteur, dass da, wo er über Routinen verfügt, „... das ‘Maximieren’ in
Bezug auf alle denkbaren Alternativen gegen die Regeln der Rationalität (im
Sinne des ökonomischen Umgangs mit knappen Mitteln) verstößt.“ 60
Solch rational nutzenorientiertes Handeln sind Routinen allerdings nur unter bestimmten Bedingungen
Zum einen kann dies der Fall sein, wenn es eine
immer wieder eingeschaltete Begleitrationalität gibt - wenn sich jemand zum
Beispiel im Supermarkt sagt, dass er auch dieses Mal wieder dieselbe Bier-
marke kauft, weil er damit ganz zufrieden und eine mögliche noch bessere
Wahl zu aufwendig ist. Die individuelle oder soziale Vergewisserung und Be-
stätigung einer Routine als hinreichend effektiv und effizient macht diese zur
bewussten Wahl. Zum anderen kann es auch eine Anfangsrationalität der
Wahl einer Routine geben. Jemand reflektiert und kalkuliert einen bestimmten
Handlungsanlass beim ersten Mal gründlich, sucht sich zum Beispiel von der
neuen Wohnung den besten Weg zur Arbeit, um fortan nie wieder darüber
nachdenken zu müssen.
„procedural rationality“
Nicht
alle Routinen weisen eine derartige initiierende oder intermittierende „procedu-
ral rationality“ (Simon 1976) auf. Es gibt auch Routinen, die von Anfang an
nichts als dumpfe Gewohnheiten gewesen und dies auch geblieben sind. Sol-
che Routinen liegen jenseits des Anwendungsbereichs des Homo Oeconomi-
cus - auch dann, wenn sie eine hohe Ergebnisrationalität für den Akteur auf-
weisen. Einiges von dem, was Weber als „traditionales Handeln“ bezeichnet,
stellt solche an der Grenze zum bloßen Verhalten angesiedelten Routinen dar.
Über die Begleitrationalität von Routinen kann auch deren Problematisierung einsetzen
Über die Begleitrationalität von Routinen kann auch deren Problematisie-
rung einsetzen, sobald die Handlungsergebnisse nicht länger dem Anspruchs-
niveau des „satisficing“ genügen. Wer sich zum Beispiel angewöhnt hat, mit
dem Auto zur Arbeit zu fahren, und lange keinen Gedanken an irgendwelche
Alternativen verschwenden musste, kann irgendwann gewahr werden, wie die
Parkmöglichkeiten in der Nähe des Arbeitsortes immer knapper werden.
Zunächst untergründig, gleichsam vorbewusst verschiebt sich die Kosten-
Nutzen-Bilanz der Routine zum Negativen - etwa indem man einen immer wei-
teren Fußweg vom Parkplatz zum Arbeitsort hinnehmen oder morgens immer
länger herumkurven muss, bis man einen Parkplatz gefunden hat. Eine ganze
Weile kann sich so eine schleichende Anspruchssenkung vollziehen, bis dem
Akteur - meist durch ein Schlüsselereignis - bewusst wird, wie suboptimal sei-
ne Routine längst geworden ist. Er kommt vielleicht zu einer wichtigen Bespre-
chung zu spät, weil er wieder mal vergeblich einen Parkplatz sucht. Das kann
dann der Anlass für eine kalkulierende Situationsbetrachtung werden und in
eine rationale Handlungswahl münden - oft die Wahl einer neuen Routine, zum
Beispiel den Kauf einer Jahreskarte für den öffentlichen Nahverkehr, was als
Selbstbindung weiteres Nachdenken wieder überflüssig macht. So kann Be-
gleitrationalität in Anfangsrationalität übergehen, und diese dann wieder in
Begleitrationalität, usw.
Hoch- /Niedrigkostensituationen
Ein dritter Einwand gegen den Homo Oeconomicus zielt darauf ab, dessen
Einsatzbedingungen einzugrenzen. Dieses Akteurmodell - so Reinhard Zintl
(1989) in Anlehnung an Spiro Latsis - kann Handeln nur in Hochkostensituati-
onen erklären, während es auf Niedrigkostensituationen nicht anwendbar ist.
Dieser Einwand ist bei einigen der vorausgegangenen Beispiele implizit zur
Sprache gekommen. Eine Hochkostensituation ist eine solche, bei der für den
betreffenden Akteur subjektiv viel auf dem Spiel steht. Er ist sich also dar-
über bewusst, dass er durch sein Handeln einen großen Nutzen realisieren
bzw. große Kosten vermeiden kann - wenn er das Richtige tut! In Niedrigkos-
tensituationen geht es demgegenüber für den Handelnden nicht um sehr viel.
Niedrigkostensituation vs Hochkostensituationen
Sich als Akteur in einer Niedrigkostensituation zu befinden bedeutet zu-
nächst, dass man keinen Druck verspürt, sich im Sinne einer rationalen Hand-
lungswahl besonders anzustrengen, also etwa den Aufwand einer größeren
Informationsbeschaffung zu betreiben. So dürfte jemand, der in seinem Bier-
geschmack nicht sonderlich wählerisch ist, sondern dem fast alle Sorten ganz
gut schmecken, keinen Grund sehen, warum er sich großes Kopfzerbrechen
vor dem Regal im Supermarkt machen sollte. Hochkostensituationen hingegen
fixieren die Aufmerksamkeit des Akteurs. Ein ganz bestimmtes Interesse sticht
ins Auge, und alles andere verblasst. Genau diese Fokussierung der Nutzen-
komponente ermöglicht wiederum eine Rationalitätssteigerung. Wenn mir zum
Beispiel ein Dutzend verschiedener Dinge durch den Kopf schwirren, die ich
alle erreichen will und irgendwie wichtig finde, werde ich kaum eine dauerhafte
und konsistente Handlungsplanung zustande bringen. Bin ich aber, wie zum
Beispiel ein Spitzensportler, in eine harte Konkurrenz mit anderen Athleten um
Siege, Publikumsgunst, Medienaufmerksamkeit, Förder- und Sponsorengelder
eingespannt, vermag ich eine geradlinigere Karriereplanung vorzunehmen als
jemand, der zum Beispiel unter allen möglichen Gesichtspunkten überlegt, ob
und was er studieren soll, und oft nur eine ziemlich erratische Wahl trifft.
Fazit H/T Kostensituation
Je mehr eine Situation somit für den Akteur unter Nutzengesichtspunkten
eine Hochkostensituation darstellt, desto stärker ist er geneigt, sich als Homo
Oeconomicus zu verhalten, also die einer rationalen Nutzenverfolgung entge-
genstehenden Handlungsantriebe hintanzustellen - sofern nicht einer von ih-
nen sich ähnlich stark aufdrängt. Der Akteur wird dann seinen Nutzen und
nicht Normbefolgung, Identitätsbehauptung oder das Ausleben von Emotionen
zum primären Kriterium der Handlungswahl erheben und sich zugleich um eine
möglichst rationale Auswahl dessen, was er tut, bemühen. Letzteres bedeutet,
dass er sich anstrengen wird, zeitliche, sachliche und soziale Rationalitätsbe-
grenzungen dort, wo es ihm überhaupt möglich ist, und so weit wie es ihm
möglich ist, zu überschreiten. Er wird sich also mehr Zeit nehmen, um gründ-
lich zu überlegen, was er tut; er wird seine Informationsbasis zielstrebig erwei-
tern; und er wird auch Konflikte und aufwendigere Konsensbeschaffung in
Kauf nehmen, um das durchzusetzen, was er für richtig hält.
Rationalitätsfiktionen
Einführung
Die bisher behandelten drei Einwände gegen den Homo Oeconomicus haben
sich jeweils so wenden lassen, dass sie die theoretischen Vorstellungen über
eine rationale Handlungswahl relativieren. Akteure handeln fast immer nur
begrenzt rational, und dies oft auch in Form von Routinen; und der Druck zum
rationalen Handeln ist umso geringer, je weniger Akteure sich in einer Hoch-
kostensituation befinden. Der jetzt anzusprechende vierte Einwand geht über
diese Relativierungen hinaus und fragt sich: Was tut der Homo Oeconomicus
in Situationen sehr hoher, ihn so überfordernder Komplexität, dass noch nicht
einmal mehr begrenzt rationale oder inkrementalistische Handlungswahlen
möglich sind? Muss der Anspruch auf Rationalität dann gänzlich aufgegeben
werden, oder gibt es ein rationales Entscheiden auf sub-inkrementalistischem
Niveau? Es zeigt sich, dass Akteure auch unter Bedingungen, die selbst be-
grenzte Rationalität erschweren, mit den ihnen zugemuteten Entscheidungen
rational umgehen können, indem sie auf Rationalitätsfiktionen rekurrieren.
Rationalitätsfiktion
Rationalitätsfiktion heißt: Vieles Handeln, das als rational deklariert wird, tut
nur so. Wir treten gegenüber anderen so auf, als ob wir eine rationale Hand-
lungswahl vornähmen, und wir glauben uns das nicht selten sogar selbst.
Nicht nur die Fremd-, sondern auch die Selbstbeobachtung des Handelns un-
terliegt einer Rationalitätsfiktion; diese ist also oft als Selbsttäuschung ange-
legt. Aber sogar wenn alle Beteiligten darüber wissen, dass es mit der rationa-
len Wahl nicht weit her ist, wird die gemeinsame Rationalitätsdarstellung
wechselseitig taktvoll aufrechterhalten (Turner 1991: 99/100). Man fragt sich
natürlich, warum Akteure so etwas wider besseres Wissen inszenieren sollten.
Hintergrund dessen ist die bereits geschilderte Rationalisierung von immer
mehr gesellschaftlichen Handlungsfeldern, also der kulturelle Druck zu rationa-
len Entscheidungen. Dementsprechend kann man davon ausgehen, dass in
der modernen Gesellschaft im Rahmen des diesbezüglich überhaupt Mögli-
chen entscheidungsförmig gehandelt wird. Aber genau hier liegt ja die Crux.
Was, wenn das den Akteuren in dieser Hinsicht kulturell Abverlangte auch
nicht annäherungsweise erfüllbar ist? Diese Kluft zwischen dem als erstre-
benswert hingestellten Rationalitätsniveau des Handelns und dem Möglichen
wird dann durch Rationalitätsfiktionen überbrückt.
Rationalitätsfiktion
Ein Beispiel für eine Rationalitätsfiktion ist etwa ein Akteur, der sich dazu
entschließt, regelmäßig Sport zu treiben, um die eigene Gesundheit zu för-
dern. Dies gilt heutzutage als rationale Entscheidung. Dabei hat der Betreffen-
de überhaupt nicht länger darüber nachgedacht, welche verschiedenen Wege
es für ihn speziell geben könnte, gesünder zu leben, geschweige denn: ob es
sich in Konkurrenz mit anderen Lebenszielen überhaupt lohnt, stärker auf die
eigene Gesundheit zu achten. Vielleicht ist der Person ja die eigene berufliche
Karriere viel wichtiger als ein langes Leben; oder sie müsste bei genauerem
Hinsehen entdecken, dass ihr ausschweifendes Sexualleben oder ihre Freude
an üppigem Essen und Trinken gar nicht zu einer Prioritätensetzung für Ge-
sundheit passt. Und natürlich wird darüber hinaus unterstellt, dass der Wir-
kungszusammenhang zwischen Sporttreiben und Gesundheitssteigerung kri-
tisch geprüft und abgesichert ist. 64 Doch nichts davon ist tatsächlich der Fall.
Beim Rekurs auf Rationalitätsfiktionen glaubt aber auch und gerade der betref-
fende Akteur selbst, sich rational entschieden zu haben - und zwar in dem
Sinne, dass er davon überzeugt ist, dass diejenige Alternative, die er auf der
Grundlage der Rationalitätsfiktion wählt, dieselbe ist, auf die er auch nach
aufwendigen eigenen Überlegungen gekommen wäre.
Komplexitätsreduktion
Solche Rationalitätsfiktionen wirken für den betreffenden Akteur komplexi-
tätsreduzierend: Sie empfehlen für bestimmte Entscheidungsprobleme be-
stimmte Handlungswahlen, und diese Empfehlung tritt so suggestiv auf, dass
sich der Akteur das, was eigentlich eine Entscheidung ausmacht, subjektiv
guten Gewissens sparen kann. In zeitlicher Hinsicht erspart der Rückgriff auf
eine Rationalitätsfiktion eigene Such- und Bewertungsprozesse und verschafft
dem Akteur so große Zeitgewinne. In sachlicher Hinsicht leistet eine Rationali-
tätsfiktion Unsicherheitsabsorption: Anstatt benötigte Informationen mit gro-
ßem Aufwand zu beschaffen und sich dabei erst richtig zu vergegenwärtigen,
wie wenig man über seine Entscheidungssituation weiß, hat man ohne größe-
res Kopfzerbrechen ein klares Bild davon, was zu tun ist. Und da die Wahl bei
eigener Beschaffung von Informationen - so die Unterstellung - nicht anders
ausgefallen wäre, nur viel länger gedauert hätte, kann der Verzicht auf eine
rationale Entscheidung als rationale Entscheidung angesehen werden.
Rationalitätsfiktionen in der Sozialdimension
In sozialer Hinsicht trägt der Rückgriff auf eine Rationalitätsfiktion dazu bei,
eine Handlungswahl leichter gegen potenziellen Widerstand durchzusetzen.
Vor allem aber erfüllen Rationalitätsfiktionen in der Sozialdimension legitimato-
rische Funktionen und sind besonders dann gefragt, wenn irgendetwas schief
gegangen ist. Erfolgreiches Handeln legitimiert sich durch seine Ergebnisse
selbst. Wenn aber angestrebte Ziele nicht oder nur partiell erreicht oder zwar
erreicht, aber mit erheblichen negativen Nebeneffekten erkauft worden sind,
sieht sich der Akteur bohrenden Fragen ausgesetzt, und dann kann ihm der
Verweis darauf helfen, dass er sich doch darum bemüht habe, eine rationale
Handlungswahl zu treffen - und das heißt eben: dass er das getan habe, was
alle für seine Situation als rationales Handeln ansehen.
Generalisierungsniveaus von Rationalitätsfiktionen
Rationalitätsfiktionen kommen auf unterschiedlichen Generalisierungsni-
veaus vor. Es gibt sehr spezifische Rationalitätsfiktionen, die sich auf eng um-
rissene Entscheidungsprobleme beziehen. Ein Beispiel dafür wäre die „gängi-
ge Vorstellung..., daß Organisationen EDV nutzen...“ müssen: „Eine Organisa-
tion, die das nicht tut, erscheint uns unmodern, nicht mehr zeitgemäß, wenig
rational.“ Je höher das Gene-
ralisierungsniveau einer Rationalitätsfiktion, desto weiter ist ihr Einsatzbereich,
und desto mehr Akteure müssen sie subjektiv plausibel finden, damit sie - in
der Sprache der Juristen - als „herrschende Meinung“ inthronisiert ist, auf die
dann jeder einzelne bei seinen Handlungswahlen, ohne weiter nachdenken zu
müssen, zurückgreifen kann. Ein sehr hohes Generalisierungsniveau weist
zum Beispiel die in der westlichen Moderne verbreitete Rationalitätsfiktion auf,
dass es angesichts eines Problems besser ist, irgendetwas zu tun, als untätig
zu bleiben. Solche hochgradig generalisierten Rationalitätsfiktionen beziehen
sich dann auf jede Art von Entscheidungen.
Dass derartige Rationalitätsfiktionen oft genug augenzwinkernd akzeptiert werden, liegt vor allem daran
Dass derartige Rationalitätsfiktionen oft genug augenzwinkernd akzeptiert
werden, liegt vor allem daran, dass sie es erlauben, den in der modernen Ge-
sellschaft tief verwurzelten Glauben an die rationale Beherrschbarkeit und Ge-
ordnetheit der Welt aufrechtzuerhalten, obwohl man immer wieder mit Enttäu-
schungen konfrontiert wird und vielleicht sogar der Leidtragende dessen ist.
Wenn man jemandem trotz seines Scheiterns abnimmt, dass er rational ge-
handelt hat, ist das beruhigender, als die Möglichkeit ins Auge zu fassen, dass
die meisten oder alle Menschen um einen herum sich um Rationalität über-
haupt nicht scheren. Denn solange man als moderner Mensch davon ausgeht,
dass rationales Handeln die meisten Probleme besser bewältigt als nicht-
rationales, liefe die Annahme eines weit verbreiteten Rationalitätsverzichts
darauf hinaus, dass die Welt um einen herum höchst unvollkommen und in-
stabil beschaffen und womöglich sogar dem unrettbaren Verfall preisgegeben
sein könnte - was einen so grundlegenden Zweifel am modernen Fortschritts-
vertrauen bedeutete, dass man sich diesen Gedanken schwerlich leisten
möchte. Statt dessen nutzt man die Tatsache, dass die Rationalitätsfiktionen,
wie alle Fiktionen, niemals pure Täuschungen sind, sondern stets eine gewis-
se Plausibilität für sich reklamieren können, und verzichtet in einer auf Selbst-
täuschung hinauswollenden Gutgläubigkeit auf allzu kritisches Hinterfragen.
Genese von Rationalitätsfiktionen
Einführung
Gerade auch die moderne Gesellschaft stellt deshalb ein immenses Reper-
toire an Rationalitätsfiktionen bereit, so dass Akteure zwar vielleicht nicht in
jeder, aber doch in vielen und immer mehr Situationen darauf zurückgreifen
können, ohne dass sie groß danach suchen müssten. Neben einem partiellen
Überangebot findet sich in immer mehr Bereichen inzwischen auch eine zeitli-
che Dynamik rasch wechselnder Moden von unterschiedlichen Rationalitätsfik-
tionen. Man denke etwa an Entscheidungsprobleme wie eine gesunde Ernäh-
rung, für die die Rationalitätsfiktionen buchstäblich jedes Jahr wechseln - nicht
zuletzt, damit immer neue Ratgeberliteratur sich verkaufen lässt.
Genese von Rationalitätsfiktionen
Da stellt sich die Frage nach Genese und Reproduktion von Rationalitätsfik-
tionen. Sie entstehen erstens daraus, dass Akteure, die bestimmte Entschei-
dungen zu treffen haben, in Konstellationen wechselseitiger Beobachtung 66
diejenigen anderen Akteure in den Blick nehmen, die bereits vor demselben
oder zumindest einem ähnlichen Entscheidungsproblem gestanden haben,
und sich anschauen, was jene getan haben und was dabei herausgekommen
ist; und dann treffen sie ihre eigenen Entscheidungen so, wie diejenigen sie
getroffen haben, die nach ihrer Einschätzung am besten mit dem betreffenden
Problem zu Rande gekommen sind. 67 Wenn viele oder sogar alle Akteure so
vorgehen, entstehen Rationalitätsfiktionen aus dem kollektiven Kopieren von
Erfolgsrezepten - genauer gesagt, von Entscheidungen, die von einer Vielzahl
von Akteuren als erfolgreich angesehen werden. So kopieren beispielsweise
Unternehmen über Branchen oder nationale Wirtschafträume hinweg „Lean
Management“ oder irgendein anderes Beraterkonzept, das gerade en vogue ist
Zweitens werden Rationalitätsfiktionen durch die schon angesprochenen
Berater und durch Experten bzw. durch die Beeinflussung der Akteure durch
Expertenwissen hervorgebracht und aufrechterhalten. Solange eine Rationa-
litätsfiktion nur durch wechselseitige Beobachtung unter Entscheidungshan-
delnden gewonnen wird, haftet ihr unweigerlich eine gewisse Unsicherheit des
Amateurs an und fehlt ihr die Legitimation - selbst wenn noch so viel Erfahrung
dahinter steckt und sie vielfach bestätigt wird.
Expertenwissen
Legitimation bekommt eine Rationalitätsfiktion erst dadurch, dass sie von anerkannten und Vertrauensvor-
schuss genießenden Beratern als Expertenwissen repräsentiert und so ver-
bürgt wird, oder dadurch, dass Experten auf eine solide, wenn möglich wis-
senschaftlich abgesicherte Empirie verweisen und theoretische Begründungen
dafür darzulegen vermögen, warum das von der Rationalitätsfiktion empfohle-
ne Entscheidungshandeln Erfolg versprechend und anderen Alternativen über-
legen ist. Es ist also alles andere als Zufall, dass die moderne Gesellschaft
auch die Sozialfigur des beratenden Experten in prinzipiell allen Lebensberei-
chen hervorgebracht hat, das Beratungsgeschäft floriert, und eine Ratgeberli-
teratur für alle Lebenslagen aus dem Boden geschossen ist, wie jeder Besuch
einer Bahnhofsbuchhandlung beweist.
ideologische Verbrämung
Überall dort, wo tatsächlich nicht rational gehandelt wird, sondern lediglich
Rationalitätsfiktionen bestehen, trägt eine soziologische Handlungserklärung
mit Hilfe des Homo Oeconomicus zur Bestärkung dieser Fiktionen bei, ist also
nicht analytische Durchdringung, sondern ideologische Verbrämung sozialer
Wirklichkeit.
mangelnde Theoretisierung der Nutzenkomponente
Der fünfte und letzte hier behandelte Einwand gegen den Homo Oeconomicus
richtet sich nicht, wie die bisherigen, auf die eine oder andere Weise gegen die
Rationalitätsunterstellung dieses Akteurmodells. Wenn man davon ausgeht,
dass Akteure rational nutzenorientiert handeln, stellt sich vielmehr auch die im
Modell des Homo Oeconomicus zunächst nicht vorgesehene Frage: Wie ge-
langen die Akteure zu ihren Nutzenvorstellungen?
mangelnde Theoretisierung der Nutzenkomponente
Der HO im konkreten Fall
So lange über Akteure „im allge-
meinen“ gesprochen wird, kann man ihnen höchstens - mehr oder weniger
beliebig - eine inhaltsleere Handlungsstrategie wie Maximierung des absoluten
oder des relativen eigenen Nutzens, Minimierung der absoluten oder relativen
eigenen Verluste oder auch Maximierung gemeinsamen Nutzens bzw. Mini-
mierung gemeinsamer Verluste einer Kollektivität zuschreiben (Mac Crim-
mon/Messick 1976; Scharpf 1997: 84-89). Diese abstrakten Formeln können
zur Erklärung konkreten sozialen Handelns so noch gar nichts beitragen, weil
immer erst substantiell spezifiziert werden muss, worin denn in einer bestimm-
ten gesellschaftlichen Situation Nutzen und Verluste eines Akteurs bestehen.