FUH SS15
Kartei Details
Karten | 91 |
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Sprache | Deutsch |
Kategorie | Psychologie |
Stufe | Universität |
Erstellt / Aktualisiert | 23.07.2015 / 26.11.2018 |
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Der HO im konkreten Fall
Erklärungsversuche
Diese Spezifizierung erfolgt in vielen Rational-Choice-Analysen auf eine von
zwei gleichermaßen unbefriedigenden Weisen. Zum einen werden die abstrak-
ten Nutzenkalküle oftmals durch alltagsweltliche Plausibilitäten substantiali-
siert. Dann wird letztlich als selbstevident unterstellt, dass beispielsweise Un-
ternehmen nach Gewinn, politische Parteien nach Wählerstimmen oder Wis-
senschaftler nach Reputation in ihrer jeweiligen Disziplin streben. Zum ande-
ren hält man sich häufig an die expliziten Nutzenartikulationen der untersuch-
ten Akteure - findet also beispielsweise durch Dokumentenanalysen oder Be-
fragungen heraus, was ein bestimmter Akteur in einer bestimmten Situation
gewollt hat.
Ob nun die Substantialisierung von Nutzenorientierungen als Zuschrei-
bung durch den Theoretiker auf der Basis scheinbar selbstverständlicher, un-
hinterfragt übernommener Deutungsmuster des Alltagswissens oder aus der
Beobachtung der konkreten Empirie des jeweiligen Untersuchungsgegenstan-
des erwächst: Beide Vorgehensweisen erklären nicht, warum spezifische ge-
sellschaftliche Akteure gerade die Nutzenvorstellungen haben, die sie haben.
generalisierte Nutzenleitlinien und kulturelle Rahmungen
In welche Richtung könnten Schritte zu einer Theoretisierung der Nutzen-
komponente des Handelns gehen? Richard Münch (1983: 51/52) weist in sei-
ner Kritik von Rational-Choice-Erklärungen auf den entscheidenden Punkt hin,
dass die Konstitution substantieller Nutzenorientierungen von Akteuren situati-
onsübergreifende, generalisierte Nutzenleitlinien voraussetzt. Weber hob dies
bereits mit seiner Unterscheidung von Ideen und Interessen hervor. Gegen
bloß auf Interessen, also Nutzenvorstellungen abstellende Handlungserklä-
rungen wandte er ein, dass übergreifende kulturelle Ideen die „Weichensteller“
der Ausbildung von Interessen seien (Weber 1920: 240). Weit davon entfernt,
ein bloßer ideologischer „Überbau“ letztlich materieller Interessen zu sein, wie
manche marxistischen Gesellschaftsbetrachtungen immer noch behaupten,
sind Ideen vielmehr kulturelle Rahmungen, innerhalb derer sich Interessen
überhaupt erst entfalten können und bewegen müssen.
teilsystemische Handlungslogiken
Besonders Luhmanns systemtheoretische Perspektive hat dies systemati-
scher ausgearbeitet. Für ihn ist die moderne Gesellschaft ein Ensemble von
einem guten Dutzend Teilsystemen wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Er-
ziehung, Kunst, Massenmedien, Sport und einigen weiteren; und in jedem von
ihnen beherrscht ein je eigener binärer Code als „distinction directrice“ (Luh-
mann 1986) die Aufmerksamkeit - etwa der Code von Siegen/Verlieren im
Sport. Siege zu erringen und Niederlagen zu vermeiden: Darum dreht sich in
diesem Teilsystem alles (Bette/Schimank 1995: 25-42). Binäre Codes vermit-
teln somit - akteurtheoretisch gewendet- als teilsystemische Handlungslogiken
dem Akteur das, was für ihn jeweils erstrebenswert ist. Damit vermag ein so-
ziologischer Beobachter, sofern er die teilsystemische Zugehörigkeit eines
Akteurs zu einem gegebenen Zeitpunkt kennt, noch nicht auf dessen ganz
konkrete Nutzenvorstellungen, wohl aber auf deren generelle Ausrichtung zu
schließen - und so immerhin bereits die ganzen anderen Nutzenausrichtungen
mit erheblicher Wahrscheinlichkeit auszuschließen.
lagespezifische Lebensstile
Neben den teilsystemspezifischen Codes bilden lagespezifische Lebensstile
eine zweite wichtige Spezifizierung der Nutzenkomponente des Homo Oeco-
nomicus - sofern es sich um individuelle Akteure handelt. Die soziale Lage
eines Akteurs prägt ebenfalls seine Vorstellungen darüber, was für ihn nützlich
ist. Schon Weber (1922: 177-180) hatte betont, dass die „Klassenlage“ und
der „soziale Stand“ einer Person nicht nur deren Handlungsmöglichkeiten
bestimmen, sondern auch, welche der objektiv gegebenen Möglichkeiten
überhaupt als subjektiv erstrebenswert erscheinen. Den Bürger interessieren
andere Dinge als den Arbeiter, und den Facharbeiter andere Dinge als den
ungelernten Arbeiter. Empirisch breit ausgearbeitet wurde dies dann vor allem
durch Pierre Bourdieus (1979) Analyse der „feinen Unterschiede“. Diese Un-
terschiede lassen sich, was Bourdieu hauptsächlich getan hat, an zahllosen
Facetten der Freizeitaktivitäten und des Konsumverhaltens festmachen
Drei Lagemerkmale haben die Theorien sozialer Ungleichheit seit langem betrachtet:
Bildung, Einkommen und Berufszugehörigkeit.
Daneben werden neuerdings weitere Lagemerkmale einbezogen, weil auch sie den Lebensstil,
also die Möglichkeiten und Zielvorstellungen der Lebensführung einer Person,
mehr oder weniger stark prägen können. Zu diesen Merkmalen gehören Ge-
schlecht, Alter, Generation, Familienstand, ethnische Zugehörigkeit und
Wohnort (Hradil 1987). Es ist einsichtig, dass die Vorstellungen darüber, was
einem in bestimmten Fragen der Lebensführung nutzt, dadurch geprägt wer-
den, ob jemand eine Frau oder ein Mann ist, jung oder alt, „Trümmerfrau“ oder
Mitglied der „Erbengeneration“, Single oder Familienvater, Deutscher oder
Türke, Stadt- oder Landbewohner. Damit lassen sich auch die entsprechenden
Befunde der Theorien sozialer Ungleichheit heranziehen, um die Nutzenkom-
ponente des Homo Oeconomicus substantiell anzureichern.
reflexive Interessen
Ein dritter Schritt in Richtung einer Theoretisierung der Nutzenkomponente
des Homo Oeconomicus kann dadurch getan werden, dass man die reflexiven
Interessen der Akteure in Rechnung stellt (Schimank 1992b: 261-268; 2005a:
143-183). Diese rahmen die zahllosen, unermesslich vielfältigen und oft nicht
sehr dauerhaften substantiellen Interessen jedes Akteurs. Reflexiv sind solche
Interessen, die sich auf die generellen Bedingungen der Möglichkeit der Reali-
sierung spezifischer substantieller Interessen beziehen. Diese generellen Be-
dingungen lassen sich in mehreren Richtungen ausmachen
reflexive Interessen
Beispiele
• Rational nutzenorientierte Akteure streben oftmals danach, die Reichweite
der eigenen Interessenrealisierung auszudehnen, also ein breitgefächertes
Spektrum an substantiellen Interessen zu realisieren. Solche Akteure haben
dann zum einen ein Interesse am Wachstum dafür relevanter Ressourcen - insbesondere finanzieller und personeller Art - und zum anderen ein Inte-
resse an einer entsprechenden Diversifizierung der eigenen Befugnisse.
• Weiterhin streben solche Akteure oftmals nach Dominanz in einer gege-
benen substantiellen Interessensphäre. Solche Akteure haben zum einen
wiederum ein Interesse am Wachstum dafür relevanter Ressourcen, zum
anderen ein Interesse an einer größtmöglichen Monopolisierung von Be-
fugnissen in der entsprechenden Interessensphäre.
• Rational nutzenorientierte Akteure streben ebenfalls oftmals danach, die
Kontrolle über die eigene Interessenrealisierung zu erweitern. Solche Ak-
teure haben vor allem ein Interesse daran, die eigene Entscheidungsauto-
nomie zu vergrößern.
das Interesse an Erwartungssicherheit beim HO
Der Homo Oeconomicus kann ebenfalls keine
Erwartungsunsicherheit gebrauchen, weil sie ihm seine rationalen Handlungs-
kalkulationen erschwert oder gar verunmöglicht.
Alle reflexiven Interessen wirken, wie die teilsystemischen Handlungslogiken, als
Alle reflexiven Interessen wirken, wie die teilsystemischen Handlungslogi-
ken, als Fiktionen der gesellschaftlichen Akteure über die jeweils anderen und,
daraus zwangsläufig erwachsend, auch über sich selbst. Gegenüber anderen
Akteuren wird zwar nicht immer, so doch sehr häufig davon ausgegangen,
dass sie diese reflexiven Interessen verfolgen und darauf ansprechbar sind.
Das erfahrungsgesättigte Alltagswissen darüber, dass ein Akteur in der Tat oft
gut daran tut, sich um die genannten reflexiven Interessen zu kümmern, ge-
winnt durch Fiktionalisierung Handlungsinstruktivität: Jeder Akteur wird so be-
handelt, als ob er diese Interessen verfolgt. Diese Fiktion überzieht sowohl die
„empirische“ Evidenz der konkreten Situation als auch den prognostischen
Gehalt des Erfahrungssatzes. Doch die Fiktion wirkt in hohem Maße als self-
fulfilling prophecy. So verfestigt sich eine Sichtweise, der sich nicht nur die
Fremd-, sondern auch die Selbstbeobachtung von Akteuren nur noch schwer
entziehen kann. Zusammengenommen ergeben teilsystemspezifische Hand-
lungslogiken, lagespezifische Lebensstile und reflexive Interessen bereits ein
recht gut verwendbares theoretisches Instrumentarium, um die Nutzenkompo-
nente des Homo Oeconomicus zu analysieren.
Modellanreicherung und Erklärungsökonomie
Resümiert man die fünf Einwände, die hier behandelt wurden, so können sie
alle dazu verwendet werden, das von ihnen angegriffene theoretische Modell
des Homo Oeconomicus zu stärken. Dadurch wird es zweifellos aufwendiger
in der Handhabung. Vorstellungen über begrenzte Rationalität und Routinisie-
rung sowie über eine Mehrzahl reflexiver Interessen ebenso wie die Verknüp-
fung mit differenzierungs- und ungleichheitstheoretischen Einsichten machen
den Homo Oeconomicus komplizierter; und die Unterscheidung von Niedrig-
und Hochkostensituationen sowie der Tatbestand der Rationalitätsfiktionen
begrenzen den Einsatzbereich bzw. schränken die Geltung dieses Akteurmo-
dells als Handlungserklärung ein. Aber an all dem führt kein Weg vorbei, will
man mit dem Modell nicht gänzlich realitätsblinde Erklärungen fabrizieren.
Freilich sollte man im Sinne der bereits angesprochenen Erklärungsökonomie
um so mehr darauf achten, keinen unnötigen Aufwand, gemessen am jeweili-
gen Erklärungsproblem, zu betreiben. Für gar nicht so wenige Probleme reicht
ein sehr simpler Homo Oeconomicus als Erklärungsmodell völlig aus.