FUH SS15
Kartei Details
Karten | 91 |
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Sprache | Deutsch |
Kategorie | Psychologie |
Stufe | Universität |
Erstellt / Aktualisiert | 23.07.2015 / 26.11.2018 |
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Nutzenorientiertes Handeln
Der Homo Oeconomicus ist ein aus den Wirtschaftswissenschaften übernom-
menes und für die Soziologie fruchtbar gemachtes Akteurmodell. Es beruht
auf der Annahme, dass Akteure bei ihrem Handeln willentlich eigene Ziele ver-
folgen und dabei nach ihrem persönlichen Nutzen streben. Dieses Modell er-
fasst das Handeln der Akteure als Handlungswahlen, die sich auf solche sozi-
alstrukturellen Handlungsbedingungen zurückführen lassen, die den Nutzen
und die Aufwendigkeit bestimmter Handlungen bestimmen. Der Homo Oeco-
nomicus orientiert sich in der Weise in Situationen, dass er - um den jeweils
höchsten Nutzen mit geringstmöglichem Aufwand in der Situation zu erreichen
- rational kalkulierend vorgeht, d.h. die in der Situation gegebenen Handlungs-
alternativen abwägt.
vier Dimensionen der Rationalität
Nach Weber vollzieht
sich die Zunahme der Rationalität des Handelns in vier Dimensionen:
- derZweckrationalität,
- der theoretischen Rationalität,
- der formalen Rationalität und
- der Wertrationalität.
zweckrationale Abwägung
Handeln kann erstens rational im Sinne einer zweckrationalen Abwägung
der gewählten Mittel sein. Wer zweckrational handelt, überlegt sich, mit
welchen Mitteln er sein gegebenes Ziel unter den situativen Umständen am
besten erreichen kann. Solchem zweckrationalen Handeln stehen vor allem
emotionales, traditionales und routineförmiges Handeln gegenüber. Wer
sich von Gefühlen und Stimmungen treiben lässt oder Sitten und Gebräu-
chen folgt, handelt im Sinne dieser Rationalitätsdimension nicht rational.
theoretische Rationalität
Die Rationalität des Handelns kann zweitens in dessen theoretischer Ratio-
nalität begründet sein. Hierbei geht es darum, dass man im Hinblick auf die
Handlungswirkungen nach möglichst verallgemeinerbaren Kausalzusam-
menhängen sucht. Dies geschieht über eine entsprechend abstrahierende,
nach logischen Prinzipien vorgehende Reflexion der Handlungszusammen-
hänge, die möglichst nicht unter dem Druck unmittelbarer Handlungsnot-
wendigkeiten stattfindet, sondern im Vorfeld. Theoretische Rationalität des
Handelns setzt sich zum einen von einem dumpfen Registrieren der Hand-
lungswirkungen ab, das allenfalls zu mehr oder weniger genauen, gleich-
sam alltagsstatistischen Korrelationsschlüssen gelangt. Zum anderen
überwindet theoretische Rationalität aber auch magische Erklärungen, die
überweltliche Mächte für die Handlungswirkungen verantwortlich machen.
Handlungsrationalität
Handlungsrationalität kann drittens als formale Rationalität im Sinne einer
Bezugnahme auf universal angewandte Regeln vorliegen. Solche Regeln
können zum einen Rezepte, beispielsweise die Methoden mathematischer
Kalkulation, zum anderen Vorschriften, zum Beispiel Gesetze, sein. Beide
Arten von Regeln begrenzen in dem Maße, wie sie handlungswirksam wer-
den, das Belieben und die Willkür des Handelnden, reinigen dessen Han-
deln also von persönlichen Idiosynkrasien und situativer Erratik.
Wertrationalität
Die Rationalität des Handelns kann sich schließlich viertens auf dessen
Wertrationalität beziehen. Wertrational ist ein Handeln in dem Maße, in dem
es sich rigoros an einem bestimmten Maßstab des Wollens ausrichtet.
Wenn ein Handelnder beispielsweise im Bereich der Politik die Erhaltung
und Vermehrung der eigenen Macht als letztentscheidende Wertorientie-
rung seines Handelns zugrunde legt, handelt er in dem Maße wertrational,
wie er diesem Machtstreben möglicherweise entgegenstehende religiöse,
moralische, wirtschaftliche oder erotische Beweggründe außer Acht lässt.
Wertrationalität steht also gegen ein Handeln, das sich von einer diffusen
Gemengelage von Wertgesichtspunkten bestimmen lässt und dadurch ei-
nen unentschiedenen, vieles zugleich und dadurch nichts konsequent an-
strebenden Charakter erhält.
okzidentaler Rationalismus
Die von Weber konstatierte Ausbreitung des okzidentalen Rationalismus
zeichnet sich dadurch aus, dass das soziale Handeln eine parallele Rationali-
sierung in allen vier genannten Dimensionen erfahren hat. Im Mittelpunkt stand
dabei die Herauslösung der Zweckrationalität des Handelns aus traditionalen,
aber auch emotionalen Einbindungen. Der von Weber (1922: 12) in seiner
Typologie des Handelns herausgestellte Typus des „zweckrationalen Han-
delns“ entspricht weitgehend dem Akteurmodell des Homo Oeconomicus.
Doch der für die Zielvorstellungen des Homo Oeconomicus entscheidende Vorgang war die eigentümliche Kultivierung der Wertrationalität.
Warum?
Denn man kann unter
seinen Handlungsalternativen zur Verwirklichung eines angestrebten Ziels nur
in dem Maße eine rationale Abwägung treffen, wie das Ziel präzisiert ist. Oder
anders: Der Homo Oeconomicus kann erst dann rational kalkulierend seinen
persönlichen Nutzen maximieren, wenn er eine klare Vorstellung davon hat,
was ein entsprechend nutzbringendes und deshalb erstrebenswertes Ziel in
einer bestimmten sozialen Situation ist. Erst wenn die von Weber betonte Ra-
tionalität der Mittelwahl mit der Zielverfolgung zusammengesehen wird, erhält
man ein umfassendes Bild des Homo Oeconomicus.
Eigengesetzlichkeit
Weber behauptete, dass sich die Vielfalt dessen, was Akteure in
modernen Gesellschaften in bestimmten Situationen jeweils erreichen wollen
und entsprechend an Zielen verfolgen, an einer begrenzten Pluralität von
Wertmaßstäben ausrichtet (Schwinn 2001: 154-207). Es handelt sich um
Wertmaßstäbe, die alle eine je besondere „Eigengesetzlichkeit“ besitzen und
sich in verschiedenen Teilbereichen der Gesellschaft immer mehr vereinseiti-
gen und verabsolutieren: So richten sich Ziele von Akteuren im Teilbereich
Politik am Streben nach Macht aus, in der Wirtschaft am Streben nach Ge-
winn, in der Wissenschaft am Streben nach Wahrheit, in der Jurisprudenz am
Streben nach Recht, in der Kunst am Streben nach Schönheit und in der Ero-
tik am Streben nach Lusterfüllung.
anthropologische Fundierung
Doch der Homo Oeconomicus kann nicht nur durch ein gesellschaftstheoreti-
sches, sondern auch durch ein anthropologisches Argument fundiert werden.
Dabei wird von derselben Prämisse ausgegangen wie bei der oben dargeleg-
ten anthropologischen Begründung des Homo Sociologicus (Kap. 3.3), näm-
lich von der Instinktreduziertheit und „Weltoffenheit“ des Menschen. Diese
Besonderheit der „conditio humana“ wird von den Vertretern des Homo Oeco-
nomicus jedoch nicht als Mangel, sondern als Grundlage für die Fähigkeit des
Menschen zur Unabhängigkeit von der Umwelt und zur selbstbestimmten Be-
arbeitung der Vorgaben der Umwelt angesehen.
Rational Choice: Soziologisierter Homo Oeconomicus
Der Homo Oeconomicus steht damit als primär wollensgeleitetes Akteurmodell
dem sollensgeleiteten Homo Sociologicus diametral gegenüber.
Rationale Zielverfolgung
Die grundlegenden Merkmale des Homo Oeconomicus spezifizieren die Art
und Weise, wie er seine Ziele verfolgt
Nutzenorientierung
Diejenige Handlungssituation, mittels derer Ökonomen das Handeln des
Homo Oeconomicus gemeinhin verdeutlichen, ist die eines Konsumenten, der
sich entscheiden muss, welche Güter er kauft (Frank 1991: 59-87). Im ein-
fachsten Fall hat er zu einem gegebenen Zeitpunkt nur ein einziges Ziel. Er
möchte zum Beispiel ein bestimmtes Buch lesen und sich zu diesem Zweck
kaufen, das 10 Euro kostet. Sofern er mindestens diesen Geldbetrag in der
Tasche hat, vermag er es zu kaufen - andernfalls nicht. Oder der Konsument
hat Durst und möchte ihn mit Bier stillen. Er hat 10 Euro in der Tasche, und die
Flasche Bier kostet 2.50 Euro. Dann kann er eine Flasche oder mehrere Fla-
schen erstehen - aber höchstens vier. Schon diese simple Kaufsituation illust-
riert zwei grundlegende Merkmale des Homo Oeconomicus. Das erste von
ihnen besteht darin, dass er seine Handlungswahl nutzenorientiert trifft.
knappe Ressourcen
Es könnte natürlich sein, dass er auch nach vier Flaschen noch Durst hat.
Aber dann ist sein Geldbeutel leer, und er kann sich kein weiteres Bier kaufen.
Hieran zeigt sich das zweite der beiden angesprochenen Merkmale des Homo
Oeconomicus: seine begrenzten Ressourcen zur Zielerreichung. Hätte der
Buchinteressent weniger als 10 Euro in der Tasche, wäre es ihm ähnlich er-
gangen wie dem immer noch durstigen Bierkäufer. Beide Merkmale zusam-
menziehend lässt sich der Homo Oeconomicus als ein im Rahmen seiner ver-
fügbaren Ressourcen nutzenmaximierender Akteur charakterisieren.
Der Homo Oeconomicus lebt also in einer Welt der Knappheit. Sein Wollen
übersteigt meistens sein Können. Er will mehr haben, als er kaufen kann.
Zielvielfalt und Dringlichkeit
Diese Problematik verschärft sich, wenn ein Akteur - wie meistens - zu ei-
nem gegebenen Zeitpunkt mehr als ein Ziel verfolgt. Um beim Konsumenten
zu bleiben: Angenommen dieser verfügt nach wie vor über 10 Euro und hat
Durst auf Bier - aber hat er auch noch Hunger auf Chips. Die Flasche Bier
kostet 2.50 Euro, die Tüte Chips ebenfalls. Kauft sich der Konsument vier Fla-
schen Bier, kann er Einiges an Durst löschen, aber sein Hunger bleibt. Umge-
kehrt ergeht es ihm, wenn er sich dazu entscheidet, vier Tüten Chips zu kau-
fen. Beide Alternativen sind also unter dem Nutzengesichtspunkt recht unbe-
friedigend. Noch unbefriedigender wäre es, wenn er weder Bier noch Chips mit
dem Geld kaufte, sondern irgendetwas anderes, was ihn momentan überhaupt
nicht interessiert, oder überhaupt nichts. Diese Alternativen scheiden deshalb
für den Homo Oeconomicus aus.
Welche Kombi-
nation gewählt wird, hängt von der relativen Dringlichkeit beider Ziele ab. Hat
jemand viel Durst und wenig Hunger, wird er eine andere Kombination wählen
als bei der umgekehrten Rangordnung seiner Ziele. Klar ist weiterhin: Je mehr
verschiedene Ziele jemand zugleich verfolgt, desto weniger kann er diese bei
gleicher Ressourcenausstattung und gleicher Intensität der Ziele realisieren.
Die Knappheitserfahrung spitzt sich also mit der Zielvielfalt oft zu.
Grenznutzen
abnehmender Die Möglichkeit, dass der angesprochene Konsument auch bereits nach
zwei Flaschen Bier seinen Durst gelöscht haben könnte, verweist darauf, dass
Ziele üblicherweise nicht in den Himmel wachsen. Für die allermeisten Hand-
lungsziele gilt vielmehr ein abnehmender Grenznutzen. Der Zusatznutzen ei-
ner immer weiter getriebenen Zielverfolgung wird immer geringer. Das zweite
Bier schmeckt bereits weniger als das erste, und das gilt erst recht für das
fünfte oder zehnte.
Opportunitätskosten
Daran zeigt sich auch, dass der Nutzen, den die Verfolgung eines bestimm-
ten Ziels dem Akteur bringt, niemals ein absoluter, sondern stets ein relativer
ist. Knappe Ressourcen und knappe Zeit laufen darauf hinaus, dass die Hin-
wendung zu einem Ziel eine entsprechende Vernachlässigung anderer Ziele
bedeutet. Je mehr Bier ich trinke, um meinen Durst zu löschen, desto weniger
Chips zur Stillung meines Hungers kann ich mir leisten. Jede Zielverfolgung
hat also Opportunitätskosten in Gestalt des dadurch entgehenden Nutzens der
Verfolgung anderer Ziele (Frank 1991: 4-11).
subjektive Kosten/Nutzen-Einschätzungen
Der Kosten/Nutzen-Kalkulation des Homo Oeconomicus liegen keine ir-
gendwie objektiv gegebenen Kosten- und Nutzengrößen zugrunde, sondern
subjektiv erwartete Kosten und Nutzen. Die Subjektivität von Kosten und Nut-
zen bedeutet zunächst, dass dieses Akteurmodell nicht davon ausgeht, dass
bestimmte Wirkungen und Folgen eines Handelns von jedem Akteur, der sich
in der betreffenden Handlungssituation befindet, gleich eingestuft werden. 42
Nicht nur können die Handlungsziele und deren relative Prioritäten bei dem
einem Akteur erheblich anders aussehen als bei einem anderen, sondern auch
bei gleichem Handlungsziel und gleicher Priorität dieses Ziels können die in
Rechnung gestellten Kosten- und Nutzengrößen höchst unterschiedlich sein.
subjektive Wahrscheinlichkeitseinschätzungen
Die Kosten/Nutzen-Kalkulationen des Homo Oeconomicus sind nicht nur in
den Bewertungen subjektiv, sondern beruhen auch auf subjektiven Erwartun-
gen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeiten, mit denen bestimmte Wirkungen
und Folgen einer in Betracht gezogenen Handlungsalternative eintreten. Zu-
nächst einmal ist ja klar, dass der Nutzen einer Handlung nicht nur von der
Größe ihrer für die Erreichung des jeweiligen Handlungsziels positiven Wir-
kungen abhängt, sondern auch von deren Eintrittswahrscheinlichkeiten. Der
Nutzen des Lottospiels für die Verfolgung des Ziels, möglichst viel Geld zu
erlangen, ist bekanntlich nur deshalb so gering, weil es extrem unwahrschein-
lich ist, dass man „sechs Richtige“ tippt. Warum spielen dann immer noch so
viele Leute Lotto? Ein Grund - freilich nicht der einzige - besteht darin, dass
viele die objektive Erfolgswahrscheinlichkeit subjektiv überschätzen, also hoff-
nungsfroh davon ausgehen, sie und gerade sie hätten in absehbarer Zeit eine
realistische Chance, zumindest mal „fünf Richtige“ auf dem Tippschein anzu-
kreuzen.
Diskontierung der Zukunft
Ein weiterer besonders hervorzuhebender Aspekt der Subjektivität von Kos-
ten/Nutzen-Kalkulationen der Handlungswahl ist die weithin verbreitete Diskon-
tierung der Zukunft (Elster 1989: 42-51). Akteure tendieren dazu, Handlungs-
wirkungen umso geringer einzustufen, je weiter in der Zukunft deren Eintreten
erwartet wird. Diese Haltung ist genau besehen durchaus rational. Die Wahr-
scheinlichkeit, dass ich einen jetzt gleich anfallenden Nutzen meines Handelns
auch tatsächlich zu realisieren vermag, ist in der Tat größer als bei einem Nut-
zen, der erst morgen oder gar erst in fünf Jahren eintritt;
„deferred gratification pattern“
So hat sich insbesondere in der Mittelschichtsozialisation das „deferred gratifica-
tion pattern“ herausgebildet (Caesar 1972: 29). Den Kindern wird dann durch
bestimmte Erziehungspraktiken vermittelt, dass es sich lohnt, in viele Aktivitä-
ten erst einmal ohne unmittelbare Belohnung Mühe zu investieren, weil der
spätere Nutzen umso größer ist. Trotz aller Sozialisation und Ermahnung zur
Langsicht lässt sich die Diskontierung der Zukunft aber allenfalls abschwä-
chen, nicht wirklich beseitigen. Denn sie entspricht ja eben, wie gesagt, letzten
Endes der begrenzten Lebenszeit des Menschen.
Homo Oeconomicus charakterisiert
Zusammengefasst ist das Handeln des Homo Oeconomicus also durch Ziel-
verfolgung mittels in der Regel knapper Ressourcen, Kosten/Nutzen-
Bilanzierung von Handlungsalternativen bei zumeist starker Diskontierung der
Zukunft und die Wahl derjenigen Handlungsalternative, die den subjektiv er-
warteten Nutzen bei abnehmendem Grenznutzen maximiert, charakterisiert.
komplexe Ziel-Mittel-Ketten
Die Mittelkomponente der bisherigen Beispiele war meistens
trivial. Das ist natürlich in der Realität keineswegs immer so. Wenn ich mir
beispielsweise überlege, wie ich am besten tagtäglich von meiner Wohnung
zur Arbeitsstätte gelange, steht die Zielkomponente des Handelns präzise fest,
und das Gros meiner Kalkulationen richtet sich darauf, auf welche Weise ich
dieses Ziel realisiere.
Ich vergleiche dann etwa Preis, Wegzeiten und Bequem-
lichkeit des Autofahrens mit der Beförderung durch öffentliche Verkehrsmittel
oder vielleicht auch dem Fahrradfahren; und je nach dem, wofür ich mich ent-
scheide, betreibe ich eine detaillierte Zeit- und Routenplanung. Die Zielerrei-
chung wird also in einzelne Handlungsschritte zerlegt, die sich in der Weise
aneinanderfügen, dass der erste Schritt ein Unterziel realisiert, das die Vor-
aussetzung des zweiten Schrittes ist, der zum nächsten Unterziel führt, woran
der dritte Schritt anschließen kann, usw. Diesem sequentiellen Vorgehen steht
ein paralleles gegenüber, das bei anderen Handlungszielen angemessen ist -
zum Beispiel der Suche einer Wohnung. Hier ist es sinnvoll, mehrere Such-
strategien nebeneinander zu verfolgen, also gleichzeitig einen Makler zu be-
auftragen, ein Zeitungsinserat aufzugeben, selbst Zeitungsinserate von Ver-
mietern zu studieren und auch Freunde und Bekannte, denen vielleicht das
Freiwerden einer Wohnung bekannt werden könnte, um ihre Mithilfe zu bitten.
Effizienz und Effektivität der Mittel
Nutzenorientierte Akteure werden sich also nicht nur auf rationale Weise
über ihre Handlungsziele und Alternativen bzw. die damit verbundenen Nutzen
und Kosten klar, sondern die Rationalität der Zielverfolgung des Homo Oeco-
nomicus bezieht sich in besonderer Weise auch auf die Strategien und Mittel
der Zielverfolgung. Diese werden im Sinne von Effizienz und Effektivität aus-
gewählt: Der Mitteleinsatz soll möglichst sparsam sein, und mit den Mitteln soll
das gegebene Ziel möglichst wirksam und weitgehend realisiert werden.
Zweckrational
Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mittel und Nebenfolgen orien-
tiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Ne-
benfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander
rational abwägt. (Weber 1922: 13)
überindividuelle Akteure als Homo Oeconomicus
Am Ende dieser Auflistung grundlegender Merkmale muss noch erwähnt wer-
den, dass auch der Homo Oeconomicus - ebenso wie der Homo Sociologicus
- nicht nur auf das Handeln von individuellen Akteuren anwendbar ist, sondern
auch auf das Handeln von überindividuellen Akteuren. Beispielsweise behan-
delt die Wirtschaftswissenschaft Firmen als rational nutzenverfolgende Akteu-
re, und genauso lassen sich oft auch politische Parteien, Sportvereine, Hoch-
schulen oder Armeen auffassen. Ebenso können soziale Bewegungen als rati-
onale Nutzenverfolger auftreten. Für manche Arten von überindividuellen Ak-
teuren wird sogar behauptet, dass sie häufiger als individuelle Akteure als
Homo Oeconomicus auftreten und dass ihre Fähigkeit zur rationalen Nutzen-
verfolgung größer ist als die von Individuen (Geser 1990).
Interdependenzbewältigung
Das soziale Handeln des Homo Oeconomicus ist wesentlich durch Abhängig-
keiten gekennzeichnet, in denen er sich zu anderen Akteuren befindet. Ge-
meinsam ist den Beispielfällen, dass sie dem Akteur die Aufgabe der Interde-
pendenzbewältigung auferlegen. James Coleman (1990: 29) formuliert diesen
Sachverhalt prägnant so: „Actors are not fully in control of the activities that
can satisfy their interests, but find some of those activities partially or wholly
under the control of others.“ Der Homo Oeconomicus reagiert auf das Ge-
wahrwerden solcher Interdependenzen mit einer Haltung des strategisch kal-
kulierenden Miteinanderumgehens. Er beobachtet die jeweiligen Gegenüber
im Hinblick darauf, wie deren bereits geschehenes oder erwartbares Handeln
sich auf die Verfolgung seiner eigenen Handlungsziele auswirkt bzw. auswir-
ken könnte; er sondiert, wie er die anderen möglicherweise zu beeinflussen
versuchen muss, und welche Mittel ihm dafür zur Verfügung stehen; und er
wählt sein eigenes Handeln auf der Basis all dessen aus.
Charakteristika und Typen sozialer Interdependenzen
In beiden Beispielen stellt sich das für Ego unerfreuliche Handeln der ande-
ren aus der Sicht irgendeines von ihnen umgekehrt ebenso dar: Für irgendei-
nen anderen Autofahrer trägt auch Ego zum Stau bei; und für den anderen an
Chips interessierten Kunden ist sein Gegenüber, der drei der fünf Tüten haben
will, ein genauso unbequemer Konkurrent um dieses knappe Gut wie umge-
kehrt. Das wechselseitige Störpotential oder, allgemeiner formuliert, die wech-
selseitige Abhängigkeit ist gleich groß. Das kann im Übrigen auch dann der
Fall sein, wenn die Akteure, anders als in diesen beiden Beispielen, nicht das
gleiche Ziel verfolgen. Betrachtet man etwa einen Gebrauchtwagenhändler
und einen seiner Kunden, wollen beide ganz Verschiedenes. Der eine will ein
Auto kaufen, der andere eines verkaufen. Dennoch kann deren Interdepen-
denz durchaus so beschaffen sein, dass beide gleichermaßen am Abschluss
eines Geschäfts interessiert sind. Das hängt freilich von der Marktlage, also
dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage ab. Sind viele Gebrauchtwagen
und wenig Kaufinteressierte auf dem Markt, ist der Händler stärker vom Kun-
den abhängig, was sich dann in niedrigeren Preisen erweist. Werden umge-
kehrt wenige Gebrauchtwagen angeboten, aber sehr stark nachgefragt, kann
der Händler seinem Kunden die - dann höheren - Preise diktieren. Die gege-
bene Abhängigkeit zwischen den Akteuren kann also eher symmetrisch oder
eher asymmetrisch sein. Dies ist ein weiteres Charakteristikum von sozialen
Interdependenzen. Je asymmetrischer die Abhängigkeit ist, desto mehr kön-
nen diejenigen Akteure, die von ihren Gegenübern weniger abhängig sind als
umgekehrt, ihre Ziele durchsetzen.
negative Interdependenz
Die bisherigen Beispiele verdeutlichen soziale Interdependenzen, in denen
die jeweils anderen einem Akteur als tatsächliche oder potentielle Hindernisse
bei der Realisierung der eigenen Ziele entgegentreten. Der andere Kunde will
mir die Chips vor der Nase wegschnappen, die ich gerne hätte, und die ande-
ren Autofahrer blockieren meinen Weg. Es wäre also aus meiner Sicht am
besten, wenn es die anderen in der jeweiligen Situation gar nicht gäbe. Es
handelt sich hier um eine aus Egos Sicht rein negative Interdependenz, deren
Beseitigung demzufolge besser ist als jede mögliche Ausgestaltung.
positive Interdependenz
Aller-
dings sollte er aus meiner Sicht möglichst auf meine Interessen eingehen, mir
das von mir ins Auge gefasste Auto also möglichst preisgünstig überlassen.
Diese Interdependenz kann demnach aus Egos Sicht potentiell positiv sein;
mehr noch: Die Beseitigung der Interdependenz wäre für Ego negativ. Aus der
Sicht des Verkäufers verhält es sich ebenso. Jede Situation, in der jemand
eine aktive Unterstützung von Seiten anderer braucht und nicht mit deren pas-
siver Duldung seines Handels zufrieden sein kann, gehört zu dieser Art von
sozialen Interdependenzen.
Folgen der HAndlungen von Anderen
Wenn das Handeln anderer einen Akteur tangiert, kann es deren tatsächli-
ches Handeln sein - siehe die anderen Autofahrer, die mich beim Vorwärts-
kommen behindern. Es kann aber auch das vom Akteur kognitiv erwartete
Handeln der anderen sein. Ich kann ja auch antizipieren, dass ich wohl wieder
im Stau stecken werde, und deshalb die Straßenbahn nehmen. Solche Erwar-
tungen können Befürchtungen, aber auch Hoffnungen sein - etwa wenn ich
darauf setze, dass während der Schulferien im Sommer so viele Leute im Ur-
laub sind, dass die allmorgendlichen Staus ausbleiben, so dass ich es doch
mal wieder wagen kann, das Auto zu nehmen. Solche Erwartungen beruhen
auf eigenen Erfahrungen oder auf mir mitgeteilten Erfahrungen anderer und
können in beiden Fällen mehr oder weniger zuverlässig sein.
Kombiniert man die Unterscheidung positiver oder negativer Interdepen-
denzen mit der Unterscheidung tatsächlicher oder antizipierter Interdependen-
zen, lassen sich folgende Typen von Interdependenzsituationen und daraus
hervorgehende Richtungen der Interdependenzbewältigung nebeneinander
stellen:
Das tatsächliche Handeln anderer stört einen Akteur bei seiner Zielverfolgung
Das erwartete Handeln anderer stört einen Akteur bei seiner Zielverfolgung
Das tatsächliche Handeln der anderen könnte die Zielverfolgung des Akteurs unterstützen.
Das erwartete Handeln der anderen könnte die Zielverfolgung des Akteurs unterstützen.
Das tatsächliche Handeln anderer stört einen Akteur bei seiner Zielverfolgung
Dann ist sein Bemühen darauf gerichtet, diese Störung auszuschal-
ten - sei es, dass er auf die anderen einzuwirken versucht, um deren Han-
deln in eine ihn weniger störende Richtung zu lenken, sei es, dass er seine
Zielverfolgung so verlegt, dass er sich aus dem Störradius der anderen
herausbewegt.
Das erwartete Handeln der anderen würde den Akteur bei seiner Zielverfolgung stören
Dann muss er sich darum bemühen, schon im Vorfeld dafür zu
sorgen, dass diese Störung nicht eintritt. Dazu kann er präventiv auf das
Handeln der anderen einzuwirken versuchen oder wiederum seine Zielver-
folgung aus dem möglichen zukünftigen Störradius der anderen verlegen.
Das tatsächliche Handeln der anderen unterstützt die Zielverfolgung des Akteurs
Dann geht es für ihn darum, die anderen bei der Stange zu halten,
also dafür zu sorgen, dass sie ihr Handeln nicht in Bahnen lenken, in denen
es ihn nicht länger unterstützt. Oder er muss sich, wenn er davon ausgeht,
dass ihm das längerfristig nicht gelingen kann, darum bemühen, sich unab-
hängig von dieser Unterstützung zu machen. Dazu kann er sich andere Un-
terstützungspotentiale erschließen oder seine Zielverfolgung so verändern,
dass er sie auch auf sich gestellt betreiben kann.
Das erwartete Handeln der anderen könnte die Zielverfolgung des Akteurs unterstützen.
Dann muss er versuchen sicherzustellen, dass dies auch tat-
sächlich eintritt, also die entsprechende Geneigtheit der anderen bestärken
und gegen eventuelle Störgrößen abschirmen. Geht er davon aus, dass
dies trotz seiner Anstrengungen zu ungewiss bleibt, muss er wiederum al-
ternative Unterstützungspotentiale sondieren oder sich überhaupt unab-
hängig von Unterstützung zu machen versuchen.
Unterschied zu Homo Sociologicus
Wichtig ist an dieser Stelle lediglich das im Vergleich zum Homo
Sociologicus gänzlich andere Bild von Sozialität, das sich aus der analytischen
Perspektive eines soziologisierten Homo Oeconomicus bietet. Sozialität ist in
diesem Akteurmodell kein normativ geordneter Erwartungszusammenhang,
der dem Akteur eine anthropologisch erforderliche Handlungssicherheit vermit-
telt. Sondern Sozialität ergibt sich über Abhängigkeiten, in die Akteure bei ihrer
Zielverfolgung geraten, und woraus sich ihnen die Aufgabe der Interdepen-
denzbewältigung stellt.
Gegenüberstellung von Homo Oeconomicus und Homo Sociologicus
Führt man sich den Vergleich des Homo Oeconomicus mit dem Homo Socio-
logicus noch etwas genauer vor Augen, könnte man auch auf die Idee kom-
men, Letzteren als Spezialfall von Ersterem anzusehen. Denn natürlich stel-
len die Erwartungszusammenhänge, in denen der Homo Sociologicus steht,
ebenfalls soziale Interdependenzen dar. Zum einen unterstützen die Bezugs-
gruppen den Akteur, indem sie ihm Erwartungssicherheit geben. Man könnte
dies als Nutzen interpretieren. Zum anderen stören die Bezugsgruppen den
Akteur auch, indem sie ihm für nicht normkonformes Handeln Sanktionen an-
drohen oder diese sogar tatsächlich verhängen. Normkonformität ließe sich
dementsprechend als nutzenorientiertes Handeln deuten, geht es doch um die
Vermeidung dieser Kosten.
Erwartungssicherheit
Erwartungssicherheit ist nur
selten etwas, was ein Akteur willentlich anstrebt, was ihm also als manifestes
Ziel, dem er auf möglichst rationale Weise nahezukommen versucht, vor Au-
gen steht. Zumeist ist Erwartungssicherheit latent gegeben, wird also als sol-
che gar nicht bewusst erlebt, sondern durch unreflektierte Normkonformität
beiläufig produziert und reproduziert. Ins Bewusstsein tritt Erwartungssicher-
heit normalerweise erst, wenn sie erheblich gestört ist bzw. dies zu passieren
droht; und auch dann ist oft kein rationales Bemühen um Wiederherstellung
von Erwartungssicherheit die Folge, sondern der betroffene Akteur reagiert
viel eher emotional oder in seiner Identität verunsichert und gelangt allenfalls
nach einiger Zeit zu einer rationalen Auseinandersetzung mit diesem Problem.
Erwartungssicherheit als Hauptziel des Homo Sociologicus lässt sich daher
nur in Ausnahmefällen als Ergebnis nutzenorientierten Handelns fassen.