FUH SS15


Kartei Details

Karten 91
Sprache Deutsch
Kategorie Psychologie
Stufe Universität
Erstellt / Aktualisiert 23.07.2015 / 26.11.2018
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Worum geht es in diesem Kapitel

bild

Nutzenorientiertes Handeln

Der Homo Oeconomicus ist ein aus den Wirtschaftswissenschaften übernom-
menes  und  für  die  Soziologie  fruchtbar  gemachtes  Akteurmodell.  Es  beruht
auf der Annahme, dass Akteure bei ihrem Handeln willentlich eigene Ziele ver-
folgen und dabei nach ihrem persönlichen Nutzen streben. Dieses Modell er-
fasst das Handeln der Akteure als Handlungswahlen, die sich auf solche sozi-
alstrukturellen  Handlungsbedingungen  zurückführen  lassen,  die  den  Nutzen
und die Aufwendigkeit bestimmter Handlungen bestimmen. Der Homo Oeco-
nomicus orientiert sich in der Weise in Situationen, dass er - um den jeweils
höchsten Nutzen mit geringstmöglichem Aufwand in der Situation zu erreichen
- rational kalkulierend vorgeht, d.h. die in der Situation gegebenen Handlungs-
alternativen  abwägt.

vier Dimensionen der Rationalität

Nach Weber vollzieht
sich  die  Zunahme  der  Rationalität  des  Handelns  in  vier  Dimensionen: 

  • derZweckrationalität,
  • der theoretischen Rationalität,
  • der formalen Rationalität und
  • der Wertrationalität.

zweckrationale  Abwägung

 Handeln  kann  erstens  rational  im  Sinne  einer  zweckrationalen  Abwägung
der  gewählten  Mittel  sein.  Wer  zweckrational  handelt,  überlegt  sich,  mit
welchen Mitteln er sein gegebenes Ziel unter den situativen Umständen am
besten erreichen kann. Solchem zweckrationalen Handeln stehen vor allem
emotionales,  traditionales  und  routineförmiges  Handeln  gegenüber.  Wer
sich von Gefühlen und Stimmungen treiben lässt oder Sitten und Gebräu-
chen folgt, handelt im Sinne dieser Rationalitätsdimension nicht rational.

 theoretische Rationalität

 Die Rationalität des Handelns kann zweitens in dessen theoretischer Ratio-
nalität begründet sein. Hierbei geht es darum, dass man im Hinblick auf die
Handlungswirkungen  nach  möglichst  verallgemeinerbaren  Kausalzusam-
menhängen sucht. Dies geschieht über eine entsprechend abstrahierende,
nach logischen Prinzipien vorgehende Reflexion der Handlungszusammen-
hänge,  die  möglichst  nicht  unter  dem  Druck  unmittelbarer  Handlungsnot-
wendigkeiten stattfindet, sondern im Vorfeld. Theoretische Rationalität des
Handelns setzt sich zum einen von einem dumpfen Registrieren der Hand-
lungswirkungen  ab,  das  allenfalls  zu  mehr  oder  weniger  genauen,  gleich-
sam  alltagsstatistischen  Korrelationsschlüssen  gelangt.  Zum  anderen  
überwindet theoretische Rationalität aber auch magische Erklärungen, die
überweltliche Mächte für die Handlungswirkungen verantwortlich machen. 

Handlungsrationalität

Handlungsrationalität  kann  drittens  als  formale  Rationalität  im  Sinne  einer
Bezugnahme  auf  universal  angewandte  Regeln  vorliegen.  Solche  Regeln
können zum einen Rezepte, beispielsweise die Methoden mathematischer
Kalkulation, zum anderen Vorschriften, zum Beispiel Gesetze, sein. Beide
Arten von Regeln begrenzen in dem Maße, wie sie handlungswirksam wer-
den, das Belieben und die Willkür des Handelnden, reinigen dessen Han-
deln also von persönlichen Idiosynkrasien und situativer Erratik.

Wertrationalität

Die  Rationalität  des  Handelns  kann  sich  schließlich  viertens  auf  dessen
Wertrationalität beziehen. Wertrational ist ein Handeln in dem Maße, in dem
es  sich  rigoros  an  einem  bestimmten  Maßstab  des  Wollens  ausrichtet.
Wenn  ein  Handelnder  beispielsweise  im  Bereich  der  Politik  die  Erhaltung
und  Vermehrung  der  eigenen  Macht  als  letztentscheidende  Wertorientie-
rung seines Handelns zugrunde legt, handelt er in dem Maße wertrational,
wie  er  diesem  Machtstreben  möglicherweise  entgegenstehende  religiöse,
moralische,  wirtschaftliche  oder  erotische  Beweggründe  außer  Acht  lässt.
Wertrationalität steht also gegen ein Handeln, das sich von einer diffusen
Gemengelage  von  Wertgesichtspunkten  bestimmen  lässt  und  dadurch  ei-
nen  unentschiedenen,  vieles  zugleich  und  dadurch  nichts  konsequent  an-
strebenden Charakter erhält.

okzidentaler  Rationalismus

Die  von  Weber  konstatierte  Ausbreitung  des  okzidentalen  Rationalismus
zeichnet sich dadurch aus, dass das soziale Handeln eine parallele Rationali-
sierung in allen vier genannten Dimensionen erfahren hat. Im Mittelpunkt stand
dabei die Herauslösung der Zweckrationalität des Handelns aus traditionalen,
aber  auch  emotionalen  Einbindungen.  Der  von  Weber  (1922:  12)  in  seiner
Typologie  des  Handelns  herausgestellte  Typus  des  „zweckrationalen  Han-
delns“ entspricht weitgehend dem Akteurmodell des Homo Oeconomicus.

 Doch der für die Zielvorstellungen des Homo Oeconomicus entscheidende Vorgang war die eigentümliche Kultivierung der Wertrationalität.

Warum?

Denn man kann unter
seinen Handlungsalternativen zur Verwirklichung eines angestrebten Ziels nur
in dem Maße eine rationale Abwägung treffen, wie das Ziel präzisiert ist. Oder
anders: Der Homo Oeconomicus kann erst dann rational kalkulierend seinen
persönlichen  Nutzen  maximieren,  wenn  er  eine  klare  Vorstellung  davon  hat,
was  ein  entsprechend  nutzbringendes  und  deshalb  erstrebenswertes  Ziel  in
einer bestimmten sozialen Situation ist. Erst wenn die von Weber betonte Ra-
tionalität der Mittelwahl mit der Zielverfolgung zusammengesehen wird, erhält
man ein umfassendes Bild des Homo Oeconomicus.

Eigengesetzlichkeit

Weber behauptete, dass sich die Vielfalt dessen, was Akteure in
modernen  Gesellschaften  in  bestimmten Situationen jeweils erreichen wollen
und  entsprechend  an  Zielen  verfolgen,  an  einer  begrenzten  Pluralität  von
Wertmaßstäben  ausrichtet  (Schwinn  2001:  154-207).  Es  handelt  sich  um
Wertmaßstäbe, die alle eine je besondere „Eigengesetzlichkeit“ besitzen und
sich in verschiedenen Teilbereichen der Gesellschaft immer mehr vereinseiti-
gen  und  verabsolutieren:  So  richten  sich  Ziele  von  Akteuren  im  Teilbereich
Politik  am  Streben  nach  Macht  aus,  in  der  Wirtschaft  am  Streben  nach  Ge-
winn, in der Wissenschaft am Streben nach Wahrheit, in der Jurisprudenz am
Streben nach Recht, in der Kunst am Streben nach Schönheit und in der Ero-
tik  am  Streben  nach  Lusterfüllung.

anthropologische Fundierung

Doch der Homo Oeconomicus kann nicht nur durch ein gesellschaftstheoreti-
sches, sondern auch durch ein anthropologisches Argument fundiert werden.
Dabei wird von derselben Prämisse ausgegangen wie bei der oben dargeleg-
ten  anthropologischen  Begründung  des  Homo  Sociologicus (Kap. 3.3), näm-
lich  von  der  Instinktreduziertheit  und  „Weltoffenheit“  des  Menschen.  Diese
Besonderheit der „conditio humana“ wird von den Vertretern des Homo Oeco-
nomicus jedoch nicht als Mangel, sondern als Grundlage für die Fähigkeit des
Menschen zur Unabhängigkeit von der Umwelt und zur selbstbestimmten Be-
arbeitung der Vorgaben der Umwelt angesehen.

Rational Choice: Soziologisierter Homo Oeconomicus

Der Homo Oeconomicus steht damit als primär wollensgeleitetes Akteurmodell
dem sollensgeleiteten Homo Sociologicus diametral gegenüber.

 

 Rationale Zielverfolgung

Die  grundlegenden  Merkmale  des  Homo  Oeconomicus  spezifizieren  die  Art
und  Weise,  wie  er  seine  Ziele  verfolgt

Nutzenorientierung

Diejenige  Handlungssituation,  mittels  derer  Ökonomen  das  Handeln  des
Homo Oeconomicus gemeinhin verdeutlichen, ist die eines Konsumenten, der
sich  entscheiden  muss,  welche  Güter  er  kauft  (Frank  1991:  59-87).  Im  ein-
fachsten  Fall  hat  er  zu  einem  gegebenen  Zeitpunkt  nur  ein einziges Ziel. Er
möchte  zum  Beispiel  ein  bestimmtes  Buch  lesen und sich zu diesem Zweck
kaufen,  das  10  Euro  kostet.  Sofern  er  mindestens  diesen  Geldbetrag  in  der
Tasche hat, vermag er es zu kaufen - andernfalls nicht. Oder der Konsument
hat Durst und möchte ihn mit Bier stillen. Er hat 10 Euro in der Tasche, und die
Flasche Bier kostet 2.50 Euro. Dann kann er eine Flasche oder mehrere Fla-
schen erstehen - aber höchstens vier. Schon diese simple Kaufsituation illust-
riert  zwei  grundlegende  Merkmale  des  Homo  Oeconomicus.  Das  erste  von
ihnen  besteht  darin,  dass  er  seine  Handlungswahl  nutzenorientiert  trifft. 

knappe  Ressourcen

Es könnte natürlich sein, dass er auch nach vier Flaschen noch Durst hat.
Aber dann ist sein Geldbeutel leer, und er kann sich kein weiteres Bier kaufen.
Hieran zeigt sich das zweite der beiden angesprochenen Merkmale des Homo
Oeconomicus:  seine  begrenzten  Ressourcen  zur  Zielerreichung.  Hätte  der
Buchinteressent weniger als 10 Euro in der Tasche, wäre es ihm ähnlich er-
gangen  wie  dem  immer  noch  durstigen  Bierkäufer.  Beide  Merkmale  zusam-
menziehend lässt sich der Homo Oeconomicus als ein im Rahmen seiner ver-
fügbaren Ressourcen nutzenmaximierender Akteur charakterisieren.

Der Homo Oeconomicus lebt also in einer Welt der Knappheit. Sein Wollen
übersteigt meistens sein Können. Er will mehr haben, als er kaufen kann.

Zielvielfalt und Dringlichkeit

Diese Problematik verschärft sich, wenn ein Akteur - wie meistens - zu ei-
nem gegebenen Zeitpunkt mehr als ein Ziel verfolgt. Um beim Konsumenten
zu  bleiben:  Angenommen  dieser  verfügt  nach  wie  vor  über  10  Euro  und hat
Durst  auf  Bier  -  aber  hat  er  auch  noch  Hunger  auf  Chips.  Die  Flasche  Bier
kostet 2.50 Euro, die Tüte Chips ebenfalls. Kauft sich der Konsument vier Fla-
schen Bier, kann er Einiges an Durst löschen, aber sein Hunger bleibt. Umge-
kehrt ergeht es ihm, wenn er sich dazu entscheidet, vier Tüten Chips zu kau-
fen. Beide Alternativen sind also unter dem Nutzengesichtspunkt recht unbe-
friedigend. Noch unbefriedigender wäre es, wenn er weder Bier noch Chips mit
dem Geld kaufte, sondern irgendetwas anderes, was ihn momentan überhaupt
nicht interessiert, oder überhaupt nichts. Diese Alternativen scheiden deshalb
für den Homo Oeconomicus aus.

 Welche Kombi-
nation gewählt wird, hängt von der relativen Dringlichkeit beider Ziele ab. Hat
jemand viel Durst und wenig Hunger, wird er eine andere Kombination wählen
als bei der umgekehrten Rangordnung seiner Ziele. Klar ist weiterhin: Je mehr
verschiedene Ziele jemand zugleich verfolgt, desto weniger kann er diese bei
gleicher  Ressourcenausstattung  und  gleicher  Intensität  der  Ziele  realisieren.
Die Knappheitserfahrung spitzt sich also mit der Zielvielfalt oft zu.

Grenznutzen

abnehmender Die  Möglichkeit,  dass  der  angesprochene  Konsument  auch  bereits  nach
zwei Flaschen Bier seinen Durst gelöscht haben könnte, verweist darauf, dass
Ziele üblicherweise nicht in den Himmel wachsen. Für die allermeisten Hand-
lungsziele  gilt  vielmehr ein abnehmender Grenznutzen. Der Zusatznutzen ei-
ner immer weiter getriebenen Zielverfolgung wird immer geringer. Das zweite
Bier  schmeckt  bereits  weniger  als  das  erste,  und  das  gilt  erst  recht  für  das
fünfte oder zehnte.

Opportunitätskosten

Daran zeigt sich auch, dass der Nutzen, den die Verfolgung eines bestimm-
ten Ziels dem Akteur bringt, niemals ein absoluter, sondern stets ein relativer
ist. Knappe Ressourcen und knappe Zeit laufen darauf hinaus, dass die Hin-
wendung  zu  einem  Ziel  eine  entsprechende  Vernachlässigung  anderer  Ziele
bedeutet. Je mehr Bier ich trinke, um meinen Durst zu löschen, desto weniger
Chips  zur  Stillung  meines  Hungers  kann  ich  mir  leisten.  Jede  Zielverfolgung
hat also Opportunitätskosten in Gestalt des dadurch entgehenden Nutzens der
Verfolgung anderer Ziele (Frank 1991: 4-11).

subjektive Kosten/Nutzen-Einschätzungen

Der  Kosten/Nutzen-Kalkulation  des  Homo  Oeconomicus  liegen  keine  ir-
gendwie  objektiv  gegebenen  Kosten-  und  Nutzengrößen  zugrunde,  sondern
subjektiv erwartete Kosten und Nutzen. Die Subjektivität von Kosten und Nut-
zen bedeutet zunächst, dass dieses Akteurmodell nicht davon ausgeht, dass
bestimmte Wirkungen und Folgen eines Handelns von jedem Akteur, der sich
in  der  betreffenden  Handlungssituation  befindet,  gleich  eingestuft  werden. 42  
Nicht  nur  können  die  Handlungsziele  und  deren  relative  Prioritäten  bei  dem
einem Akteur erheblich anders aussehen als bei einem anderen, sondern auch
bei  gleichem  Handlungsziel  und  gleicher  Priorität  dieses  Ziels  können  die  in
Rechnung  gestellten  Kosten-  und  Nutzengrößen  höchst unterschiedlich sein.

subjektive Wahrscheinlichkeitseinschätzungen

Die Kosten/Nutzen-Kalkulationen des Homo Oeconomicus sind nicht nur in
den Bewertungen subjektiv, sondern beruhen auch auf subjektiven Erwartun-
gen  hinsichtlich  der  Wahrscheinlichkeiten,  mit  denen  bestimmte  Wirkungen
und  Folgen  einer  in  Betracht  gezogenen  Handlungsalternative  eintreten.  Zu-
nächst  einmal  ist  ja  klar,  dass  der  Nutzen  einer  Handlung  nicht  nur  von  der
Größe  ihrer  für  die  Erreichung  des  jeweiligen  Handlungsziels  positiven  Wir-
kungen  abhängt,  sondern  auch  von  deren  Eintrittswahrscheinlichkeiten.  Der
Nutzen  des  Lottospiels  für  die  Verfolgung  des  Ziels,  möglichst  viel  Geld  zu
erlangen, ist bekanntlich nur deshalb so gering, weil es extrem unwahrschein-
lich ist, dass man „sechs Richtige“ tippt. Warum spielen dann immer noch so
viele Leute Lotto? Ein Grund - freilich nicht der einzige - besteht darin, dass
viele die objektive Erfolgswahrscheinlichkeit subjektiv überschätzen, also hoff-
nungsfroh davon ausgehen, sie und gerade sie hätten in absehbarer Zeit eine
realistische Chance, zumindest mal „fünf Richtige“ auf dem Tippschein anzu-
kreuzen. 

Diskontierung der Zukunft 

Ein weiterer besonders hervorzuhebender Aspekt der Subjektivität von Kos-
ten/Nutzen-Kalkulationen der Handlungswahl ist die weithin verbreitete Diskon-
tierung der Zukunft (Elster 1989: 42-51). Akteure tendieren dazu, Handlungs-
wirkungen umso geringer einzustufen, je weiter in der Zukunft deren Eintreten
erwartet wird. Diese Haltung ist genau besehen durchaus rational. Die Wahr-
scheinlichkeit, dass ich einen jetzt gleich anfallenden Nutzen meines Handelns
auch tatsächlich zu realisieren vermag, ist in der Tat größer als bei einem Nut-
zen,  der  erst  morgen  oder  gar  erst  in  fünf  Jahren  eintritt;

„deferred gratification pattern“

So hat sich insbesondere in der Mittelschichtsozialisation das „deferred gratifica-
tion pattern“ herausgebildet (Caesar 1972: 29). Den Kindern wird dann durch
bestimmte Erziehungspraktiken vermittelt, dass es sich lohnt, in viele Aktivitä-
ten  erst  einmal  ohne  unmittelbare  Belohnung  Mühe  zu  investieren,  weil  der
spätere Nutzen umso größer ist. Trotz aller Sozialisation und Ermahnung zur
Langsicht  lässt  sich  die  Diskontierung  der  Zukunft  aber  allenfalls  abschwä-
chen, nicht wirklich beseitigen. Denn sie entspricht ja eben, wie gesagt, letzten
Endes der begrenzten Lebenszeit des Menschen.

Homo Oeconomicus charakterisiert

Zusammengefasst ist das Handeln des Homo Oeconomicus also durch Ziel-
verfolgung  mittels  in  der  Regel  knapper  Ressourcen,  Kosten/Nutzen-
Bilanzierung von Handlungsalternativen bei zumeist starker Diskontierung der
Zukunft  und  die  Wahl  derjenigen  Handlungsalternative,  die  den  subjektiv  er-
warteten Nutzen bei abnehmendem Grenznutzen maximiert, charakterisiert. 

komplexe   Ziel-Mittel-Ketten

Die Mittelkomponente der bisherigen Beispiele war meistens
trivial.  Das  ist  natürlich  in  der  Realität  keineswegs  immer  so.  Wenn  ich  mir
beispielsweise  überlege,  wie  ich  am  besten  tagtäglich  von  meiner  Wohnung
zur Arbeitsstätte gelange, steht die Zielkomponente des Handelns präzise fest,
und das Gros meiner Kalkulationen richtet sich darauf, auf welche Weise ich
dieses Ziel realisiere.

Ich vergleiche dann etwa Preis, Wegzeiten und Bequem-
lichkeit des Autofahrens mit der Beförderung durch öffentliche Verkehrsmittel
oder vielleicht auch dem Fahrradfahren; und je nach dem, wofür ich mich ent-
scheide,  betreibe  ich  eine  detaillierte Zeit- und Routenplanung. Die Zielerrei-
chung  wird  also  in  einzelne  Handlungsschritte  zerlegt,  die  sich  in  der  Weise
aneinanderfügen,  dass  der  erste  Schritt  ein  Unterziel  realisiert,  das  die  Vor-
aussetzung des zweiten Schrittes ist, der zum nächsten Unterziel führt, woran
der dritte Schritt anschließen kann, usw. Diesem sequentiellen Vorgehen steht
ein paralleles gegenüber, das bei anderen Handlungszielen angemessen ist -
zum  Beispiel  der  Suche  einer  Wohnung.  Hier  ist  es  sinnvoll,  mehrere  Such-
strategien  nebeneinander  zu  verfolgen, also gleichzeitig einen Makler zu be-
auftragen,  ein  Zeitungsinserat  aufzugeben,  selbst  Zeitungsinserate  von  Ver-
mietern  zu  studieren  und  auch  Freunde  und  Bekannte,  denen  vielleicht  das
Freiwerden einer Wohnung bekannt werden könnte, um ihre Mithilfe zu bitten.

Effizienz und Effektivität der Mittel

Nutzenorientierte  Akteure  werden  sich  also  nicht  nur  auf  rationale  Weise
über ihre Handlungsziele und Alternativen bzw. die damit verbundenen Nutzen
und Kosten klar, sondern die Rationalität der Zielverfolgung des Homo Oeco-
nomicus bezieht sich in besonderer Weise auch auf die Strategien und Mittel
der Zielverfolgung. Diese werden im Sinne von Effizienz und Effektivität aus-
gewählt: Der Mitteleinsatz soll möglichst sparsam sein, und mit den Mitteln soll
das gegebene Ziel möglichst wirksam und weitgehend realisiert werden.

Zweckrational

Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mittel und Nebenfolgen orien-
tiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Ne-
benfolgen,  wie  endlich  auch  die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander
rational abwägt. (Weber 1922: 13)

überindividuelle Akteure als   Homo Oeconomicus

Am Ende dieser Auflistung grundlegender Merkmale muss noch erwähnt wer-
den, dass auch der Homo Oeconomicus - ebenso wie der Homo Sociologicus
- nicht nur auf das  Handeln von individuellen Akteuren anwendbar ist, sondern
auch auf das Handeln von überindividuellen Akteuren. Beispielsweise behan-
delt die Wirtschaftswissenschaft Firmen als rational nutzenverfolgende Akteu-
re, und genauso lassen sich oft auch politische Parteien, Sportvereine, Hoch-
schulen oder Armeen auffassen. Ebenso können soziale Bewegungen als rati-
onale Nutzenverfolger auftreten. Für manche Arten von überindividuellen Ak-
teuren  wird  sogar  behauptet,  dass  sie  häufiger  als  individuelle  Akteure  als
Homo Oeconomicus auftreten und dass ihre Fähigkeit zur rationalen Nutzen-
verfolgung größer ist als die von Individuen (Geser 1990).

Interdependenzbewältigung

Das soziale Handeln des Homo Oeconomicus ist wesentlich durch Abhängig-
keiten  gekennzeichnet,  in  denen  er  sich  zu  anderen  Akteuren  befindet.  Ge-
meinsam ist den Beispielfällen, dass sie dem Akteur die Aufgabe der Interde-
pendenzbewältigung auferlegen. James Coleman (1990: 29) formuliert diesen
Sachverhalt  prägnant  so:  „Actors  are  not  fully  in  control  of  the  activities  that
can satisfy their interests, but find some of those activities partially or wholly
under  the  control  of  others.“  Der  Homo  Oeconomicus  reagiert  auf  das  Ge-
wahrwerden solcher Interdependenzen mit einer Haltung des strategisch kal-
kulierenden  Miteinanderumgehens.  Er  beobachtet  die  jeweiligen  Gegenüber
im Hinblick darauf, wie deren bereits geschehenes oder erwartbares Handeln
sich auf die Verfolgung seiner eigenen Handlungsziele auswirkt bzw. auswir-
ken  könnte;  er  sondiert,  wie  er  die  anderen  möglicherweise  zu  beeinflussen
versuchen  muss,  und  welche  Mittel  ihm  dafür  zur  Verfügung  stehen;  und  er
wählt sein eigenes Handeln auf der Basis all dessen aus.

Charakteristika und Typen  sozialer Interdependenzen

In beiden Beispielen stellt sich das für Ego unerfreuliche Handeln der ande-
ren aus der Sicht irgendeines von ihnen umgekehrt ebenso dar: Für irgendei-
nen anderen Autofahrer trägt auch Ego zum Stau bei; und für den anderen an
Chips interessierten Kunden ist sein Gegenüber, der drei der fünf Tüten haben
will, ein genauso unbequemer Konkurrent um dieses knappe Gut wie umge-
kehrt. Das wechselseitige Störpotential oder, allgemeiner formuliert, die wech-
selseitige  Abhängigkeit  ist  gleich  groß.  Das  kann  im  Übrigen  auch  dann  der
Fall sein, wenn die Akteure, anders als in diesen beiden Beispielen, nicht das
gleiche  Ziel  verfolgen. Betrachtet  man  etwa  einen  Gebrauchtwagenhändler
und einen seiner Kunden, wollen beide ganz Verschiedenes. Der eine will ein
Auto  kaufen,  der  andere  eines  verkaufen.  Dennoch  kann  deren  Interdepen-
denz durchaus so beschaffen sein, dass beide gleichermaßen am Abschluss
eines  Geschäfts  interessiert  sind.  Das  hängt  freilich  von  der  Marktlage,  also
dem  Verhältnis  von  Angebot  und  Nachfrage  ab.  Sind  viele  Gebrauchtwagen
und wenig Kaufinteressierte auf dem Markt, ist der Händler stärker vom Kun-
den abhängig, was sich dann in niedrigeren Preisen erweist. Werden umge-
kehrt wenige Gebrauchtwagen angeboten, aber sehr stark nachgefragt, kann
der Händler seinem Kunden die - dann höheren - Preise diktieren. Die gege-
bene Abhängigkeit zwischen den Akteuren kann also eher symmetrisch oder
eher  asymmetrisch  sein.  Dies  ist  ein  weiteres  Charakteristikum  von  sozialen
Interdependenzen.  Je  asymmetrischer  die  Abhängigkeit  ist,  desto  mehr  kön-
nen diejenigen Akteure, die von ihren Gegenübern weniger abhängig sind als
umgekehrt, ihre Ziele durchsetzen.

 

negative Interdependenz

Die bisherigen Beispiele verdeutlichen soziale Interdependenzen, in denen
die jeweils anderen einem Akteur als tatsächliche oder potentielle Hindernisse
bei der Realisierung der eigenen Ziele entgegentreten. Der andere Kunde will
mir die Chips vor der Nase wegschnappen, die ich gerne hätte, und die ande-
ren  Autofahrer  blockieren  meinen  Weg.  Es  wäre  also  aus  meiner  Sicht  am
besten,  wenn  es  die  anderen  in  der  jeweiligen  Situation  gar  nicht  gäbe.  Es
handelt sich hier um eine aus Egos Sicht rein negative Interdependenz, deren
Beseitigung demzufolge besser ist als jede mögliche Ausgestaltung.

positive Interdependenz

Aller-
dings sollte er aus meiner Sicht  möglichst auf meine Interessen eingehen, mir
das  von  mir  ins  Auge  gefasste  Auto  also  möglichst  preisgünstig  überlassen.
Diese  Interdependenz  kann  demnach  aus  Egos  Sicht  potentiell  positiv  sein;
mehr noch: Die Beseitigung der Interdependenz wäre für Ego negativ. Aus der
Sicht  des  Verkäufers  verhält  es  sich  ebenso.  Jede  Situation,  in  der  jemand
eine aktive Unterstützung von Seiten anderer braucht und nicht mit deren pas-
siver  Duldung  seines  Handels  zufrieden  sein  kann,  gehört  zu  dieser  Art  von
sozialen  Interdependenzen.

Folgen der HAndlungen von Anderen

Wenn das Handeln anderer einen Akteur tangiert, kann es deren tatsächli-
ches  Handeln  sein  -  siehe  die  anderen  Autofahrer,  die  mich  beim  Vorwärts-
kommen  behindern.  Es  kann  aber  auch  das  vom  Akteur  kognitiv  erwartete
Handeln der anderen sein. Ich kann ja auch antizipieren, dass ich wohl wieder
im Stau stecken werde, und deshalb die Straßenbahn nehmen. Solche Erwar-
tungen  können  Befürchtungen,  aber  auch  Hoffnungen  sein  -  etwa  wenn  ich
darauf setze, dass während der Schulferien im Sommer so viele Leute im Ur-
laub  sind,  dass  die  allmorgendlichen  Staus  ausbleiben,  so  dass  ich  es doch
mal wieder wagen kann, das Auto zu nehmen. Solche Erwartungen beruhen
auf  eigenen  Erfahrungen  oder  auf  mir  mitgeteilten  Erfahrungen  anderer  und
können in beiden Fällen mehr oder weniger zuverlässig sein.

Kombiniert  man  die  Unterscheidung  positiver  oder  negativer  Interdepen-
denzen mit der Unterscheidung tatsächlicher oder antizipierter Interdependen-
zen,  lassen  sich  folgende  Typen  von  Interdependenzsituationen  und  daraus
hervorgehende  Richtungen  der  Interdependenzbewältigung  nebeneinander
stellen:

Das  tatsächliche Handeln anderer stört einen Akteur bei seiner Zielverfolgung

Das erwartete Handeln anderer stört einen Akteur bei seiner Zielverfolgung

Das  tatsächliche  Handeln der anderen könnte die Zielverfolgung des Akteurs unterstützen.

Das erwartete Handeln der anderen könnte die Zielverfolgung des Akteurs unterstützen.

Das  tatsächliche Handeln anderer stört einen Akteur bei seiner Zielverfolgung

Dann ist sein Bemühen darauf gerichtet, diese Störung auszuschal-
ten - sei es, dass er auf die anderen einzuwirken versucht, um deren Han-
deln in eine ihn weniger störende Richtung zu lenken, sei es, dass er seine
Zielverfolgung  so  verlegt,  dass  er  sich  aus  dem  Störradius  der  anderen
herausbewegt.

Das erwartete Handeln der anderen würde den Akteur bei seiner Zielverfolgung stören

Dann muss er sich darum bemühen, schon im Vorfeld dafür zu
sorgen,  dass  diese  Störung  nicht  eintritt.  Dazu  kann  er  präventiv  auf  das
Handeln der anderen einzuwirken versuchen oder wiederum seine Zielver-
folgung aus dem möglichen zukünftigen Störradius der anderen verlegen.

Das  tatsächliche  Handeln  der  anderen  unterstützt  die  Zielverfolgung  des Akteurs

Dann geht es für ihn darum, die anderen bei der Stange zu halten,
also dafür zu sorgen, dass sie ihr Handeln nicht in Bahnen lenken, in denen
es ihn nicht länger unterstützt. Oder er muss sich, wenn er davon ausgeht,
dass ihm das längerfristig nicht gelingen kann, darum bemühen, sich unab-
hängig von dieser Unterstützung zu machen. Dazu kann er sich andere Un-
terstützungspotentiale erschließen oder seine Zielverfolgung so verändern,
dass er sie auch auf sich gestellt betreiben kann.

Das erwartete Handeln der anderen könnte die Zielverfolgung des Akteurs unterstützen.

Dann muss er versuchen sicherzustellen, dass dies auch tat-
sächlich eintritt, also die entsprechende Geneigtheit der anderen bestärken
und  gegen  eventuelle  Störgrößen  abschirmen.  Geht  er  davon  aus,  dass
dies trotz seiner Anstrengungen zu ungewiss bleibt, muss er wiederum al-
ternative  Unterstützungspotentiale  sondieren  oder  sich  überhaupt  unab-
hängig von Unterstützung zu machen versuchen.

Unterschied zu  Homo Sociologicus

Wichtig ist an dieser Stelle lediglich das im Vergleich zum Homo
Sociologicus gänzlich andere Bild von Sozialität, das sich aus der analytischen
Perspektive eines soziologisierten Homo Oeconomicus bietet. Sozialität ist in
diesem  Akteurmodell  kein  normativ  geordneter  Erwartungszusammenhang,
der dem Akteur eine anthropologisch erforderliche Handlungssicherheit vermit-
telt. Sondern Sozialität ergibt sich über Abhängigkeiten, in die Akteure bei ihrer
Zielverfolgung  geraten,  und  woraus  sich  ihnen  die  Aufgabe  der  Interdepen-
denzbewältigung stellt.

 Gegenüberstellung von Homo Oeconomicus und Homo Sociologicus

Führt man sich den Vergleich des Homo Oeconomicus mit dem Homo Socio-
logicus noch etwas genauer vor Augen, könnte man auch auf die Idee kom-
men, Letzteren als Spezialfall von Ersterem anzusehen. Denn natürlich stel-
len  die  Erwartungszusammenhänge,  in  denen  der  Homo  Sociologicus  steht,
ebenfalls soziale Interdependenzen dar. Zum einen unterstützen die Bezugs-
gruppen den Akteur, indem sie ihm Erwartungssicherheit geben. Man könnte
dies  als  Nutzen  interpretieren.  Zum  anderen  stören  die  Bezugsgruppen  den
Akteur auch, indem sie ihm für nicht normkonformes Handeln Sanktionen an-
drohen  oder  diese  sogar  tatsächlich  verhängen.  Normkonformität  ließe  sich
dementsprechend als nutzenorientiertes Handeln deuten, geht es doch um die
Vermeidung dieser Kosten.

Erwartungssicherheit

Erwartungssicherheit  ist  nur
selten etwas, was ein Akteur willentlich anstrebt, was ihm also als manifestes
Ziel, dem er auf möglichst rationale Weise nahezukommen versucht, vor Au-
gen steht. Zumeist ist Erwartungssicherheit latent gegeben, wird also als sol-
che  gar  nicht  bewusst  erlebt,  sondern  durch  unreflektierte  Normkonformität
beiläufig  produziert  und  reproduziert.  Ins  Bewusstsein  tritt  Erwartungssicher-
heit normalerweise erst, wenn sie erheblich gestört ist bzw. dies zu passieren
droht;  und  auch  dann  ist  oft  kein  rationales  Bemühen  um  Wiederherstellung
von  Erwartungssicherheit  die  Folge,  sondern  der  betroffene  Akteur  reagiert
viel eher emotional oder in seiner Identität verunsichert und gelangt allenfalls
nach einiger Zeit zu einer rationalen Auseinandersetzung mit diesem Problem.
Erwartungssicherheit  als  Hauptziel  des  Homo  Sociologicus  lässt  sich  daher
nur in Ausnahmefällen als Ergebnis nutzenorientierten Handelns fassen.